Der eine erinnert sich noch immer an jenen Theaterbesuch als Schulkind: nicht an das Stück, dafür an das Dekor, die Kulisse. Ein Urbild, das er auf seinen Wanderungen durch die Nachbarorte wiedererkennt, in einer Scheune, dem Haus auf dem Friedhof - und in ständiger Erwartung, dass die Türen aufgehen, die Fenster aufspringen, ein Mensch heraustritt. Der andere erinnert sich an seinen Urahn, den Großvater, der am Isonzo und in Galizien in den Schützengräben lag und mit den Tieren auf seine Art umging, die Schlange auf den Rechen spießte und die Hornissen lebendig im hohlen Baum einmauerte. Für ihn ein Spiel wie die sonntägliche Kartenrunde. »Wahr gesagt, alter Freund: Zwei besondere Narren sind wir, ein jeder auf seine Weise.« Mit unvergleichlicher Musikalität lässt Peter Handke zwei Sprecher auftreten. In der Wechselrede, ihrem Dialog, scheinen Bilder und Erinnerungen auf. Dabei im Zentrum: der Großvater, ein Spieler, und die Theaterbühne, ein Spielort. Das Spiel im Spiel? Ein meisterhaftes Zwiegespräch.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hm, naja, wenigstens ein Vorteil: "Das neue Buch von Peter Handke kommt ohne Pilze aus." Rezensent Tobias Lehmkuhl mäandert nach dieser Anfangsfeststellung dann zwischen Abwinken (die meiste Zeit) und Begeisterung (stellenweise). Abwinkt der Rezensent angesichts der Handkeschen Sprachmarotten, etwa die Superlative mit wie: "stumm, wie ein Mensch nur stumm sein kann". Respekt dann doch wieder für Handke als Wortzauberer, er suche stets nach der zutreffenden Formulierung. Abwinken bei den matten Dialogen über die Großväter, die wir trotz unsrer Schuld lieben. Interesse bei zwei Episoden, die die Grausamkeit der ländlich geprägten Großväter gegenüber Tieren zeigen. Und sind ja nur sechzig Seiten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2022Petereske Prosa
Hornissenmörtel: Peter Handkes "Zwiegespräch"
Das neue Buch von Peter Handke kommt ohne Pilze aus. Den obligatorischen Seitenhieb gegen das kleine Volk der Kritiker aber setzt es. Und auch die geliebten Äpfel werden aufgetischt. Allerdings nicht zu feinen Schnitzen bereitet und kunstvoll drapiert, sondern als grober Butzen, halb gegessen nur, weil das alte Gebiss, die alten Hände zu mehr nicht in der Lage sind.
Der Großvater Handke hat ein Buch über Großväter geschrieben, ein Zweipersonenstück, das man sich mit den beiden verstorbenen Widmungsträgern Otto Sander und Bruno Ganz auf der Bühne vorstellen kann. Der eine erzählt von seinem Großvater und von all den "Großväterverklärungsgeschichten" des zwanzigsten Jahrhunderts, der andere von der Liebe zum Theater und der Magie, die es auf das kleine Kind ausübte.
Mit der Zeit aber nehmen die Großväter überhand, das Theater rückt in den Hintergrund, und einer der beiden Gesprächspartner wird mehr und mehr zum Stichwortgeber dieser "Zwiesprache". Der schmale Band entwickelt sich schnell zu einer handketypischen Selbsthinterfragung samt ständigem Sich-selbst-ins Wort-Fallen, einer peteresken Wortklauberei und "Wortklaubkrankheit", mit der der Erzähler wider besseres Wissen verspricht, Schluss zu machen: "Kein Ende je abzusehen von der Großväterverklärungsgeschichte, oder auch bloß story? - Und was heißt da ,bloß'? - Und -" Wenn auch nicht alle Handkes Werke goutieren - zumal seine auch im Alter immense Produktivität den Eindruck der Beliebigkeit hervorrufen mag -, ist seine Prosa doch eine einzigartige Schule des Sprechens und Schreibens. Mit Handke lässt sich lernen, wie sehr Schludrigkeit in der Sprache auch Schludrigkeit im Denken mit sich bringt und welche Lust es zugleich bereitet, nach dem richtigen Wort, nach der präzisen Formulierung zu suchen.
Vieles ist freilich auch Geschmacksache, etwa Handkes Vorliebe, den Superlativ mit "wie" zu bilden: "stumm, wie ein Mensch nur stumm sein kann", "allein, wie ein Mensch nur allein sein kann", "mutterseelenallein, wie nur ein Kind allein sein kann", "eine Frau, die eine Art hatte, wie nur eine Frau, und besonders eine Frau auf dem Land, eine Art haben kann". Oder doch nicht nur Geschmacksache? Denn schließlich bringt die Tautologie dieser Formulierungen keinerlei Anschaulichkeit hervor. So ist manches in "Zwiesprache" mehr Behauptung als nachvollziehbare Erzählung. Ja, die Großväter wurden und werden immer wieder verklärt, auch wenn sie im Krieg töteten oder den "Anschluss" Österreichs ans Deutsche Reich bejubelten. Aber lebendig, menschlich, entzaubert werden sie bei Handke nur dort, wo er konkrete Bilder und Geschichten findet, und das ist auf den sechzig Seiten von "Zwiesprache" lediglich - oder immerhin? - zweimal der Fall.
Beide Geschichten handeln von Tieren, und beide erzählen von einer als normal empfundenen Brutalität: Einmal geht es um ein Hornissennest in einem hohlen Baum. Der Großvater rührt Mörtel an, wartet einen ruhigen Moment im Leben der Hornissen ab und betoniert das Loch des hohlen Baumes zu. Die Hornissen, die vorher noch gegen die Fensterscheiben "gebumsknallt" sind, dröhnen und donnern nun in dem Stamm, aus dem sie nicht mehr herauskommen.
Das andere Mal sieht der Großvater beim Grasmähen mit der Sense im Obstgarten eine Schlange. Er hebt sie auf und spießt sie auf die Zinken eines in den Boden gerammten Rechens: "Bis nach Sonnenuntergang hat die Schlange dort oben hoch überm Grasland noch gelebt."
Ob sich in der Grausamkeit gegenüber Tieren auch diejenige gegenüber Menschen spiegelt, ob das Tieretöten ein Echo des kriegerischen Menschentötens darstellt, bleibt offen. Wie der Wortsucher Handke auch niemals ein Wort oder eine Formulierung als ehern-endgültig ausstellt. So fügt sich "Zwiesprache" nicht in Form eines abgenagten Apfelbutzens, sondern als fein geschnittene Arabeske nahtlos in sein Lebenswerk. TOBIAS LEHMKUHL.
Peter Handke: "Zwiegespräch".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 72 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hornissenmörtel: Peter Handkes "Zwiegespräch"
Das neue Buch von Peter Handke kommt ohne Pilze aus. Den obligatorischen Seitenhieb gegen das kleine Volk der Kritiker aber setzt es. Und auch die geliebten Äpfel werden aufgetischt. Allerdings nicht zu feinen Schnitzen bereitet und kunstvoll drapiert, sondern als grober Butzen, halb gegessen nur, weil das alte Gebiss, die alten Hände zu mehr nicht in der Lage sind.
Der Großvater Handke hat ein Buch über Großväter geschrieben, ein Zweipersonenstück, das man sich mit den beiden verstorbenen Widmungsträgern Otto Sander und Bruno Ganz auf der Bühne vorstellen kann. Der eine erzählt von seinem Großvater und von all den "Großväterverklärungsgeschichten" des zwanzigsten Jahrhunderts, der andere von der Liebe zum Theater und der Magie, die es auf das kleine Kind ausübte.
Mit der Zeit aber nehmen die Großväter überhand, das Theater rückt in den Hintergrund, und einer der beiden Gesprächspartner wird mehr und mehr zum Stichwortgeber dieser "Zwiesprache". Der schmale Band entwickelt sich schnell zu einer handketypischen Selbsthinterfragung samt ständigem Sich-selbst-ins Wort-Fallen, einer peteresken Wortklauberei und "Wortklaubkrankheit", mit der der Erzähler wider besseres Wissen verspricht, Schluss zu machen: "Kein Ende je abzusehen von der Großväterverklärungsgeschichte, oder auch bloß story? - Und was heißt da ,bloß'? - Und -" Wenn auch nicht alle Handkes Werke goutieren - zumal seine auch im Alter immense Produktivität den Eindruck der Beliebigkeit hervorrufen mag -, ist seine Prosa doch eine einzigartige Schule des Sprechens und Schreibens. Mit Handke lässt sich lernen, wie sehr Schludrigkeit in der Sprache auch Schludrigkeit im Denken mit sich bringt und welche Lust es zugleich bereitet, nach dem richtigen Wort, nach der präzisen Formulierung zu suchen.
Vieles ist freilich auch Geschmacksache, etwa Handkes Vorliebe, den Superlativ mit "wie" zu bilden: "stumm, wie ein Mensch nur stumm sein kann", "allein, wie ein Mensch nur allein sein kann", "mutterseelenallein, wie nur ein Kind allein sein kann", "eine Frau, die eine Art hatte, wie nur eine Frau, und besonders eine Frau auf dem Land, eine Art haben kann". Oder doch nicht nur Geschmacksache? Denn schließlich bringt die Tautologie dieser Formulierungen keinerlei Anschaulichkeit hervor. So ist manches in "Zwiesprache" mehr Behauptung als nachvollziehbare Erzählung. Ja, die Großväter wurden und werden immer wieder verklärt, auch wenn sie im Krieg töteten oder den "Anschluss" Österreichs ans Deutsche Reich bejubelten. Aber lebendig, menschlich, entzaubert werden sie bei Handke nur dort, wo er konkrete Bilder und Geschichten findet, und das ist auf den sechzig Seiten von "Zwiesprache" lediglich - oder immerhin? - zweimal der Fall.
Beide Geschichten handeln von Tieren, und beide erzählen von einer als normal empfundenen Brutalität: Einmal geht es um ein Hornissennest in einem hohlen Baum. Der Großvater rührt Mörtel an, wartet einen ruhigen Moment im Leben der Hornissen ab und betoniert das Loch des hohlen Baumes zu. Die Hornissen, die vorher noch gegen die Fensterscheiben "gebumsknallt" sind, dröhnen und donnern nun in dem Stamm, aus dem sie nicht mehr herauskommen.
Das andere Mal sieht der Großvater beim Grasmähen mit der Sense im Obstgarten eine Schlange. Er hebt sie auf und spießt sie auf die Zinken eines in den Boden gerammten Rechens: "Bis nach Sonnenuntergang hat die Schlange dort oben hoch überm Grasland noch gelebt."
Ob sich in der Grausamkeit gegenüber Tieren auch diejenige gegenüber Menschen spiegelt, ob das Tieretöten ein Echo des kriegerischen Menschentötens darstellt, bleibt offen. Wie der Wortsucher Handke auch niemals ein Wort oder eine Formulierung als ehern-endgültig ausstellt. So fügt sich "Zwiesprache" nicht in Form eines abgenagten Apfelbutzens, sondern als fein geschnittene Arabeske nahtlos in sein Lebenswerk. TOBIAS LEHMKUHL.
Peter Handke: "Zwiegespräch".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 72 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[Handkes] Prosa [ist] doch eine einzigartige Schule des Sprechens und Schreibens. ... So fügt sich Zwiegespräche ... als fein geschnittene Arabeske nahtlos in sein Lebenswerk.« Tobias Lehmkuhl Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220505