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Der indische Booker-Prize-Träger Aravind Adiga erzählt in "Zwischen den Attentaten" Geschichten aus einer Stadt der Gegensätze.
Da ist das Ding, mag er sich insgeheim denken. Es gibt ein Autorenfoto, das zeigt einen lächelnden Aravind Adiga, der stolz wie ein Pokalsieger den Man Booker Prize in Händen hält, den er im vorigen Jahr für seinen ersten Roman und internationalen Bestseller "Der weiße Tiger" erhielt. Doch für den 1974 in Madras geborenen Schriftsteller und Journalisten mag diese Auszeichnung womöglich auch eine schwere Hypothek bedeuten, wird doch alles Folgende an dem frühen Erfolg gemessen werden, der sich in sieben nächtlichen Briefen ausmalte, wie es in der indischen Gesellschaft unter dem Druck des Kastensystems und der nahezu unverrückbar festgezurrten Unterteilung in Arm und Reich mählich zu brodeln beginnt. Auch im beinah zeitgleich entstandenen "Zwischen den Attentaten" ist eine dräuende Gewalt unterschwellig zu spüren.
Die Sammlung von Vignetten, gegliedert in sieben Tage, führt in die fiktive Stadt Kittur, die an Indiens Südwestküste zwischen Goa und Calicut liegt. Sie hat knapp zweihunderttausend Einwohner mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit, eine unvollendete Kathedrale, einen Tempel eigens für die unterkastigen "Hoykas", ein Kino von zweifelhaftem Ruf, ein vitales Geschäftsviertel und eine renommierte Knabenschule; ein relativ kleiner Schmelztiegel also, der dennoch das Potential für große Konflikte, für politische, religiöse und private Spannungen birgt - selbst unter konkurrierenden Busunternehmen.
Sie entladen sich in einer Zeit der Unruhe, in den achtziger Jahren, zwischen den tödlichen Anschlägen auf Indira und Rajiv Gandhi. Dies ist aus den nüchternen, anschaulichen Einträgen eines Reiseführers zu erfahren, die den einzelnen Erzählungen vorangestellt werden, welche anschließend ins blühende und vergehende Leben führen. Denn Adigas Protagonisten, die ein weites Spektrum von gesellschaftlichen Schichten repräsentieren, stehen nahezu alle im Begriff, etwas Neues anzufangen oder etwas Altes hinter sich zu lassen; sie werden verprügelt, müssen sich mit der grassierenden Korruption herumschlagen oder schmerzlich erkennen, dass die traditionellen Hierarchien doch tiefer verwurzelt sind, als es ihnen ihr am Fortschritt orientierter Verstand weismacht.
Murali etwa, der sein ganzes Leben der Literatur und der Marxistisch-Maoistischen Kommunistischen Partei gewidmet hat, dessen Träume, der indische Maupassant zu werden und zugleich das Elend der Arbeiterklasse zu lindern, indes nicht in Erfüllung gingen, verliebt sich während einer nicht ganz uneigennützigen Hilfsaktion in eine sehr viel jüngere Frau. Sein Werben wird allerdings zurückgewiesen, was sein Selbst- wie sein Weltbild gehörig ins Wanken bringt. Er muss feststellen, dass ihn seine Einsicht in die materialistische Dialektik in Liebesdingen nicht weiterbringt. Plötzlich hat sich die zuvor propagierte Solidarität der Proletarier für ihn erledigt, und er erinnert sich an die Privilegien, die ihm als Brahmanen und Universitätsabsolventen zustehen sollten. Sein politisches Engagement begreift er als Irrtum; die Macht der Intrige jedoch, der er so lange widerstehen konnte, stellt er in den Dienst seines aufkeimenden Bedürfnisses nach persönlicher Rache; er genießt es sogar, die ehemals Bedürftigen nun in seiner Gewalt zu haben.
Derart desillusionierend gestalten sich die meisten Schilderungen Adigas, der gleichwohl mit einem exzellenten Blick für das Detail noch dort Augenblicke der Schönheit entdeckt, wo es am schmutzigsten und verkommensten zugeht. Dabei bleibt seine Prosa weitgehend frei von exotistischem Dekor, Sentimentalitäten oder allzu simplen Kontrastierungen in der Figurenzeichnung. Geschickt, allerdings ohne den Spannungsbogen eines Romans aufzubauen, fügt Adiga, der sich für sein vielschichtiges Stadtporträt von Autoren wie Balzac und Maupassant inspirieren ließ, die einzelnen Teile zu einem Ganzen. Er verbindet sie zuweilen durch personelle Überschneidungen, die zwar nie offensichtlich oder aufdringlich vermittelt werden, aber auch nicht für einen straffen Zusammenhalt sorgen. Weitaus weniger naheliegend, dafür stabiler ist hingegen das feinmaschige Geflecht von Motiven und Themen, das er knüpft: die Klänge der Stadt, die sich durch alle Bezirke ziehen; die Standesunterschiede, die einmal vergessen scheinen, um später umso deutlichere Grenzen zu ziehen; oder die skrupellose Instrumentalisierung und Zwangslage der Armut, wenn etwa der bei seinen Arbeitgebern stets in Ungnade fallende Muslim Ziauddin von einem wohlhabenden Paschtunen durch eine vermeintlich harmlose Tätigkeit in ein terroristisches Komplott verstrickt werden soll.
Adiga verfällt aber nicht in einen kulturpessimistischen Tenor; in seinem Kittur, wo es geduldet wird, dass Raubdrucke von "Mein Kampf" verkauft werden, nicht aber Exemplare von Rushdies "Die satanischen Verse", wo Stickerinnen so lange ausgebeutet werden, bis sie aufgrund ihrer kleinteiligen Arbeit erblinden, wo sich ständig Menschen zu Taten gezwungen sehen, die ihnen einen Vorteil verschaffen, für den andere auf der Strecke bleiben, in diesem augenscheinlich grässlichen Moloch gibt es trotzdem plötzlich aufscheinende Momente der Güte, der Menschlichkeit und der Würde. Für das beharrliche Insistieren auf Humanität, ohne dabei einen predigenden oder anprangernden Ton anzuschlagen, gebührt Adiga große Anerkennung.
ALEXANDER MÜLLER
Aravind Adiga: "Zwischen den Attentaten". Geschichten aus einer Stadt. Aus dem Englischen von Klaus Modick. Verlag C. H. Beck, München 2009. 376 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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