Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Karl Clausberg hat eine Karte fürs kosmische Kino ergattert
Albert Einstein schrieb 1923 die Einleitung zu einem schmalen Band mit dem Titel "Gestirne und Weltgeschichte. Gedanken über Raum, Zeit und Ewigkeit". Das Büchlein, so das leicht ironisch eingefärbte Lob des damals bereits weltberühmten Physikers, lasse "kritischen Geist gegenüber dem Zeitbegriff" erkennen und zeige zugleich, "vor welchen eigentümlichen Folgerungen uns die Relativitätstheorie rettet, der doch so vielfach gerade der bizarre Charakter ihrer Folgerungen zum Vorwurf gemacht wird". Es geht also um eigentümliche Folgerungen, gewonnen aus unkonventionellen Überlegungen; vor allem aber aus der Annahme, daß Bewegungen mit beliebig hoher Geschwindigkeit möglich seien, wie sie die Spezielle Relativitätstheorie ausschließt. Doch weil die Erstausgabe des in Rede stehenden Traktats bereits 1846 erschienen war, bestand Grund zur Nachsicht gegenüber dem frühen Gedankenexperiment.
Angestellt hatte es Felix Eberty (1812 bis 1884), ein preußischer Jurist jüdischer Herkunft, der Gestirne und Weltgeschichte folgendermaßen zusammenbrachte: Da die Lichtgeschwindigkeit endlich ist, dringe unser teleskopisch geschärfter Blick nicht nur in räumliche, sondern auch in zeitliche Tiefen. Das war noch nicht überraschend, doch nun folgte ein Positionswechsel: Von immer ferneren Gestirnen aus würde man auch die Erde in immer früheren Stadien ihrer Geschichte sehen. Jedem stellaren Abstand entspreche dabei das Bild der Erde zu einem bestimmten retardierten Zeitpunkt dieser Geschichte. Woraus ersichtlich wird, daß die gesamte Geschichte der Erde virtuell in der räumlichen Ausdehnung des Universums präsent ist: "Wie ein ewig unverwüstliches und unbestechliches Archiv, dessen Inhalt lauterste, unmittelbarste Wahrheit ist, umschließt so der Weltenraum die Bilder des Vergangenen."
Und prinzipiell sind diese Bilder auch zugänglich, weil beliebig schnelle Ortswechsel nicht undenkbar seien. Denkt man sich dann noch eine beliebig gesteigerte Sehschärfe des fiktiven Weltenreisenden hinzu, dann kann man sich dieses Archiv auch als beliebig detailgenau vorstellen: Wirklich alles ist in ihm enthalten, selbst die "Bilder aller geheimen Taten, die geschahen, leben unauslöschlich fort".
In einem kurz darauf veröffentlichten zweiten Teil spann der Autor diese Ideen weiter aus. Durch Bewegung zur Erde hin und von ihr weg könnte der fiktive Beobachter aus den in den Lichtstrahlen gespeicherten Lichtbildern Sequenzen erzeugen, die beliebig beschleunigte oder verlangsamte Wiedergaben der Weltgeschichte und aller ihrer Ereignisse vor seinen Augen ablaufen ließen: von Standbild und Zeitlupe bis zur raffenden Verdichtung der gesamten Weltgeschichte in einem Augenblick. Woraus sich schließen lasse, daß der Fluß der Zeit für verschiedene solcher Beobachter des kosmischen Kinos ganz unterschiedlich sein müßte und auch zum Verschwinden gebracht werden kann. Eine Folgerung, auf die sich Einsteins Lob nicht zuletzt bezog.
Karl Clausberg hat Ebertys kuriosen Text nun wieder zugänglich gemacht und einen ausführlichen Kommentar beigesteuert, der Hintergrund und Wirkungsgeschichte nachzeichnet. Zuerst wird zurückgeblendet auf die ersten Messungen von Fixsternparallaxen 1836/37, die jene kosmischen Räume allererst öffneten, in denen Eberty bald darauf seine Szenarien ansiedelte. Ungefähr zur selben Zeit entwarf der Computerpionier Charles Babbage seine Vorstellung eines unzerstörbaren Archivs, bestehend aus den infinitesimalen, doch nie ganz verlöschenden Spuren, die menschliche Stimmen in der Atmosphäre hinterlassen; und bei dem deutschen Naturphilosophen Gotthilf Heinrich Schubert stößt man noch etwas früher auf Überlegungen zu kosmischen "Eilposten", die sehr viel schneller als Licht unterwegs sein könnten.
Einzelne Elemente von Ebertys Gedankenexperiment lassen sich bei Zeitgenossen finden, aber sein Text verarbeitet sie in einer Weise, die erstaunlich vielfältige Wirkungen anstieß. Eine Rezeptionsspur führt etwa in die Biologie und zu Jakob von Uexkülls Theorie der spezifischen Zeitwahrnehmung von Organismen. Eine andere Spur führt von den heftig romantisierenden Geschichten des französischen Astronomen Camille Flammarion bis zu moderner Science-fiction; auf wieder einer anderen gelangt man zu Auseinandersetzungen über den Darwinismus am Ende des neunzehnten Jahrhunderts; eine weitere mündet natürlich ins Kinodunkel und in die Filmtheorie; und Einstein selbst lernte Eberty nicht erst 1923 kennen, sondern las über ihn mit großer Wahrscheinlichkeit bereits als Schüler - womit man sogar über einen frühen imaginativen Anstoß für die Entdeckung des Relativitätsprinzips spekulieren kann.
Aber unter Clausbergs Zeugen des untergründigen Fortwirkens von Motiven der Ebertyschen Weltraumperspektive findet man auch Droysens "Historik", Ludwig Klages' "Eros der Ferne" und Walter Benjamins "Engel der Geschichte". In diesen wie in anderen Fällen geht es um Indizienbeweise, bei denen Clausberg seine Sache geschickt und vor allem unverbissen vertritt. Tatsächlich ist es kaum vermeidbar, bei Benjamins Engel und anderen Motiven in den Thesen zum Geschichtsbegriff an Ebertys Szenario zu denken, sobald man dieses erst einmal kennt. Was daraus für das Verständnis von Benjamins verrätselten Bildern folgt, steht auf einem anderen Blatt.
Auffällig ist, daß kaum einer der direkt auf Eberty Bezug nehmenden Autoren besonderes Interesse für dessen theologische Pointierung entwickelte, obwohl diese erkennbar im Zentrum des Traktats steht. Eberty wollte mit seinen Szenarien gezeigt haben, daß Gottes aktuale Wahrnehmung der gesamten Welt und ihrer Geschichte sich als Grenzfall einer immerhin denkbaren, wenn auch nie realisierbaren Steigerung menschlicher Möglichkeiten verstehen lasse. Im Kern ging es um das alte theologisch-philosophische Spiel des explizierenden Vergleichs von allumfassender göttlicher und in Zeit wie Raum zerstreuter menschlicher Wahrnehmung - und um den Nachweis, wie Eberty schrieb, daß die Welt wie Gott selbst "in Wahrheit eine einige und untheilbare sei, und dass sie nur von dem Menschengeiste, und dessen beschränkter Auffassungsart in die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zerlegt wird".
Die theologische Phrasierung war anscheinend nicht zukunftswirksam. Doch wird man davon ausgehen können, daß sich bei diesem kosmischen Kino die Theologie ohnehin ein wenig überall findet. Vielleicht tauchen ja auch noch andere Rezeptionsspuren auf. Clausberg selbst sieht seinen elegant bewältigten Parcours quer durch verschiedene Wissensfelder durchaus nicht als erschöpfende Nachforschung an. Das ist kein Mangel, denn die Nachforschung ist äußerst anregend ausgefallen.
HELMUT MAYER
Karl Clausberg: "Zwischen den Sternen: Lichtbildarchive". Was Einstein und Uexküll, Benjamin und das Kino der Astronomie des 19. Jahrhunderts verdanken. Mit dem Text von Felix Eberty: "Die Gestirne und die Weltgeschichte". Deutsche und englische Originalversion von 1846/47. Akademie Verlag, Berlin 2006. 270 S., geb., Abb., 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH