Jan (Anton Spieker) ist davon überzeugt, dass der Mensch von Natur aus egoistisch ist. Deswegen ist er auch nicht weiter überrascht, als ihn in Berlin seine Mitfahrgelegenheit versetzt. Jule (Mala Emde) hingegen glaubt, dass der Mensch im Kern empathisch und kooperativ ist, und bietet Jan einen Platz in ihrem "303" Oldtimer-Wohnmobil an. Beide sind unterwegs Richtung Atlantik. Jan will nach Spanien, um seinen leiblichen Vater kennenzulernen, Jule zu ihrem Freund nach Portugal. Eigentlich soll es gemeinsam nur bis Köln gehen, doch mit jedem Kilometer eröffnet sich etwas mehr von der Welt des Anderen. Macht der Kapitalismus den Menschen zum Neandertaler? Führt Monogamie ins Unglück und kann man sich aussuchen, in wen man sich verliebt? Die beiden durchqueren Frankreich und erreichen Spanien, ihre fesselnden Gespräche werden immer persönlicher. Und es fällt ihnen immer schwerer, sich nicht ineinander zu verlieben ...
Bonusmaterial
- Audiodeskription - Trailer - WendecoverFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2018Lasst sie doch reden!
Eine junge Frau, ein junger Mann und ein alter Bus. Mehr braucht man nicht. Hans Weingartners neuer Film "303" ist ein zärtliches Roadmovie, im Herzen analog
Wie schön, wenn da offenbar noch ein paar Dinge sind, an die sich glauben lässt. Dass zum Beispiel im Kino mit Bildern erzählt wird und in der Literatur mit Wörtern. Was aber leider so trivial ist, dass daraus, wenn einer unnachgiebig darauf beharrt, ein Totschlagargument wird. Hans Weingartners Filmprojekt "303" wurde von den Fördergremien mit der Begründung abgelehnt, es werde im Film zu viel geredet. Auch Philip Gröning, der es mit "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" immerhin in den Wettbewerb der Berlinale schaffte, dürfte Ähnliches gehört haben.
Was ist nun eigentlich so schlimm daran, wenn in einem Film viel geredet wird? Dass junge Menschen, wie bei Gröning, zur Vorbereitung auf die Abiturprüfung über Heidegger und Augustinus reden, dass bei Weingartner zwei Studenten von Mitte zwanzig über Kapitalismus und Egoismus diskutieren oder über Liebe, Beziehung und Sex, das ist ja überhaupt kein Einwand, darin verbirgt sich nur ein armseliges Vorurteil, wenn es dem Film gelingt, Einstellungen und Perspektiven zu finden, seine Charaktere einzubetten in eine Welt und so reden zu lassen, dass man ihnen zuhören mag. Wird nicht, nur mal als Beispiel, bei Tarantino ohne Unterlass geredet? Ist nicht Jean Eustaches "Die Mama und die Hure" ein vierstündiges Dauerreden? Man muss aber gar nicht solche Beispiele bemühen. Sondern sollte besser wütend werden über die Phantasielosigkeit von Fördergremien und Fernsehsendern, die Regisseure wie Gröning und Weingartner zu jahrelangem Klinkenputzen nötigen, bis das Budget gerade mal reicht, um einem Filmprojekt zur Welt zu verhelfen.
Weingartners letzter Film "Die Summe meiner einzelnen Teile" liegt sechs Jahre zurück, er war vor noch längerer Zeit, 2004, mit "Die fetten Jahre sind vorbei" im Wettbewerb von Cannes. "Das weiße Rauschen" war 2001 ein furioses Debüt, das nebenbei auch für Daniel Brühl den Durchbruch bedeutete. Dass ein Regisseur wie der 47-jährige Weingartner derart um Budgets kämpfen muss, ist nicht bloß "traurig", wie er gesagt hat, es ist unverschämt und ignorant angesichts dessen, was die Gremien sonst für förderwürdig halten im deutschen Film.
Mag sein, dass dieser Mangel an Akzeptanz auch mit Weingartners politischer Haltung zu tun hat. Er lässt sich nicht ausreden, dass im Kino auch über die Probleme des Kapitalismus geredet werden sollte, dass anarchische Impulse nicht sofort wieder pädagogisch eingehegt werden müssen und dass es lohnend und dringlich sein könnte, von einem zu erzählen, der aus dem normalen Erwerbsleben aussteigt und in den Wald zieht wie der Protagonist in "Die Summe meiner einzelnen Teile".
Dieses Aufbegehren gegen die herrschenden Verhältnisse verleiht Weingartners Filmen ihre Wucht, ohne dass man deswegen immer einverstanden sein oder sie für geglückt halten müsste. Es sorgt dafür, dass man ihnen mit offenen Augen und Herzen gegenübertritt, weil sich da einer nicht verbiegen will. In "303" sind die beiden Protagonisten im Übrigen gar nicht rebellisch. Jan und Jule sind einfach zwei junge Menschen, die nach Klarheit und Sinn suchen. Klarheit über sich selbst, über ihren künftigen Weg, aber eben auch über die letzten und vorletzten Dinge; darüber, wie man selbst leben will, wie Menschen leben sollten, warum die Gesellschaft ist, wie sie ist. All das halt, was jede und jeden in diesem Alter bewegt und was man mit einem existentiellen Ernst diskutiert, als wäre es das erste Mal.
Weingartner begleitet sie dabei voller Empathie. Er wählt das schon leicht gealterte Genre des Roadmovies, wozu dann das titelgebende Fahrzeug passt, der Bus auf der Basis eines Mercedes-Transporters (den Weingartner, weil es besser klingt, "303" nennt, obwohl es ein "308" ist). Jule und Jan reisen quer durch Europa, von Berlin bis an Portugals Atlantikküste. Sie, die Besitzerin des Autos, will ihrem Freund, der in einer Kooperative für seine Dissertation forscht, sagen, dass sie schwanger ist. Jan, der Tramper, will seinen leiblichen Vater im Baskenland treffen, den er noch nie gesehen hat. Das ist nicht wenig Gepäck, aber auch kein erzählerisches Übergewicht. Und weil absehbar ist, dass sich zwischen den beiden etwas entwickeln muss, Spannung, Nähe und vielleicht noch mehr, kommt alles darauf an, wie Weingartner das geschehen lässt. Und mit wem.
Mala Emde, die Jule, ist einfach hinreißend. Das heißt nicht, Anton Spieker als Jan sei weniger überzeugend, aber sie hat eine Ausstrahlung, eine Kraft hinter ihrer Zierlichkeit und psychischen Fragilität, dass man ihr länger zuschauen könnte als die langen 145 Minuten, die "303" dauert. Ein Seitenblick, ein kurzes Erschrecken, nachdem ihr mehr herausgerutscht ist, als sie sagen wollte, Energie und Verärgerung, wenn sie findet, dass Jan Mist geredet hat, leiser Spott, als er den Grill nicht angezündet bekommt. Diese 22-Jährige ist eine Entdeckung, und das hat sicher auch mit der Art zu tun, wie Weingartner mit seinen Schauspielern arbeitet.
Nähe zu den Figuren ist auch das Prinzip der Kameraarbeit, es braucht keine pompösen Totalen oder Hubschrauberflüge, dafür wäre auch kein Geld da gewesen. Der Film zeigt die Landschaften in Belgien, Frankreich oder Spanien ohne demonstrativen Gestus. Immer genug, um den beiden eine Welt zu geben, aber zugleich in dem Bewusstsein, dass, je länger die Reise dauert, die beiden einander Welt genug sind. Und so bewegen sich ihre Gespräche auch von der Vereinzelung des Menschen im Kapitalismus über die anthropologischen Konstanten zu Fragen der Liebe und Bindung. Und es ist fast rührend zu sehen, wie sie dabei immer mehr von sich selbst sprechen, ohne es zu bemerken.
Die Kamera ist präsent wie ein diskreter Erzähler, dem nicht entgeht, was den beiden eine ganze Weile entgeht, wenn sie altklug über die Botenstoffe beim Küssen reden, um später heimlich am T-Shirt des anderen zu riechen, ob man zueinander passt. Man wundert sich irgendwann selbst, dass einem dabei die Zeit nicht lang wird, weil schon auch eine ganze Menge Unsinn geredet wird, den man nicht unbedingt wiederzuhören braucht, auch wenn man mit 24 Jahren ähnlichen Unsinn von sich gegeben hat.
Auf eine seltsame Weise scheint der Film dabei selbst in eine Zeit zu rutschen, als die Nachfahren der Hippies mit dem VW-Bus durch Europa fuhren. Es gibt in "303" zwar Mobiltelefone und Internet. Aber im Herzen, man kann es kaum anders sagen, ist der Film analog. Wobei man allerdings, im Namen eines milden Realismus, fragen könnte, ob ein so altersschwacher Bus wirklich pannenfrei die Strecke schafft und ob die extrem geringe Verkehrsdichte nicht eher in die sechziger Jahre verweist.
Doch darauf kommt es am Ende nicht an. Man wird auch nicht jünger, wenn man mit dem Film eintaucht in die Zeit, als man selbst so alt war. Weingartner, der auf die fünfzig zugeht, mag vielleicht ein wenig nostalgisch geworden sein. Es hätte bestimmt auch nicht geschadet, etwas stärker zu verdichten oder die Dinge manchmal mit ein wenig Ironie zu nehmen. Auch macht der Film es sich am Ende ein bisschen zu leicht mit dem Liebeskonflikt. Aber all diese Einwände nehmen sich kleinlich aus, wenn man sieht, wie großzügig, wie zärtlich Hans Weingartner mit seinen Figuren umgeht - obwohl er doch gesagt hat, er wolle auf keinen Fall einen Liebesfilm machen.
PETER KÖRTE
Ab Donnerstag im Kino
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine junge Frau, ein junger Mann und ein alter Bus. Mehr braucht man nicht. Hans Weingartners neuer Film "303" ist ein zärtliches Roadmovie, im Herzen analog
Wie schön, wenn da offenbar noch ein paar Dinge sind, an die sich glauben lässt. Dass zum Beispiel im Kino mit Bildern erzählt wird und in der Literatur mit Wörtern. Was aber leider so trivial ist, dass daraus, wenn einer unnachgiebig darauf beharrt, ein Totschlagargument wird. Hans Weingartners Filmprojekt "303" wurde von den Fördergremien mit der Begründung abgelehnt, es werde im Film zu viel geredet. Auch Philip Gröning, der es mit "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" immerhin in den Wettbewerb der Berlinale schaffte, dürfte Ähnliches gehört haben.
Was ist nun eigentlich so schlimm daran, wenn in einem Film viel geredet wird? Dass junge Menschen, wie bei Gröning, zur Vorbereitung auf die Abiturprüfung über Heidegger und Augustinus reden, dass bei Weingartner zwei Studenten von Mitte zwanzig über Kapitalismus und Egoismus diskutieren oder über Liebe, Beziehung und Sex, das ist ja überhaupt kein Einwand, darin verbirgt sich nur ein armseliges Vorurteil, wenn es dem Film gelingt, Einstellungen und Perspektiven zu finden, seine Charaktere einzubetten in eine Welt und so reden zu lassen, dass man ihnen zuhören mag. Wird nicht, nur mal als Beispiel, bei Tarantino ohne Unterlass geredet? Ist nicht Jean Eustaches "Die Mama und die Hure" ein vierstündiges Dauerreden? Man muss aber gar nicht solche Beispiele bemühen. Sondern sollte besser wütend werden über die Phantasielosigkeit von Fördergremien und Fernsehsendern, die Regisseure wie Gröning und Weingartner zu jahrelangem Klinkenputzen nötigen, bis das Budget gerade mal reicht, um einem Filmprojekt zur Welt zu verhelfen.
Weingartners letzter Film "Die Summe meiner einzelnen Teile" liegt sechs Jahre zurück, er war vor noch längerer Zeit, 2004, mit "Die fetten Jahre sind vorbei" im Wettbewerb von Cannes. "Das weiße Rauschen" war 2001 ein furioses Debüt, das nebenbei auch für Daniel Brühl den Durchbruch bedeutete. Dass ein Regisseur wie der 47-jährige Weingartner derart um Budgets kämpfen muss, ist nicht bloß "traurig", wie er gesagt hat, es ist unverschämt und ignorant angesichts dessen, was die Gremien sonst für förderwürdig halten im deutschen Film.
Mag sein, dass dieser Mangel an Akzeptanz auch mit Weingartners politischer Haltung zu tun hat. Er lässt sich nicht ausreden, dass im Kino auch über die Probleme des Kapitalismus geredet werden sollte, dass anarchische Impulse nicht sofort wieder pädagogisch eingehegt werden müssen und dass es lohnend und dringlich sein könnte, von einem zu erzählen, der aus dem normalen Erwerbsleben aussteigt und in den Wald zieht wie der Protagonist in "Die Summe meiner einzelnen Teile".
Dieses Aufbegehren gegen die herrschenden Verhältnisse verleiht Weingartners Filmen ihre Wucht, ohne dass man deswegen immer einverstanden sein oder sie für geglückt halten müsste. Es sorgt dafür, dass man ihnen mit offenen Augen und Herzen gegenübertritt, weil sich da einer nicht verbiegen will. In "303" sind die beiden Protagonisten im Übrigen gar nicht rebellisch. Jan und Jule sind einfach zwei junge Menschen, die nach Klarheit und Sinn suchen. Klarheit über sich selbst, über ihren künftigen Weg, aber eben auch über die letzten und vorletzten Dinge; darüber, wie man selbst leben will, wie Menschen leben sollten, warum die Gesellschaft ist, wie sie ist. All das halt, was jede und jeden in diesem Alter bewegt und was man mit einem existentiellen Ernst diskutiert, als wäre es das erste Mal.
Weingartner begleitet sie dabei voller Empathie. Er wählt das schon leicht gealterte Genre des Roadmovies, wozu dann das titelgebende Fahrzeug passt, der Bus auf der Basis eines Mercedes-Transporters (den Weingartner, weil es besser klingt, "303" nennt, obwohl es ein "308" ist). Jule und Jan reisen quer durch Europa, von Berlin bis an Portugals Atlantikküste. Sie, die Besitzerin des Autos, will ihrem Freund, der in einer Kooperative für seine Dissertation forscht, sagen, dass sie schwanger ist. Jan, der Tramper, will seinen leiblichen Vater im Baskenland treffen, den er noch nie gesehen hat. Das ist nicht wenig Gepäck, aber auch kein erzählerisches Übergewicht. Und weil absehbar ist, dass sich zwischen den beiden etwas entwickeln muss, Spannung, Nähe und vielleicht noch mehr, kommt alles darauf an, wie Weingartner das geschehen lässt. Und mit wem.
Mala Emde, die Jule, ist einfach hinreißend. Das heißt nicht, Anton Spieker als Jan sei weniger überzeugend, aber sie hat eine Ausstrahlung, eine Kraft hinter ihrer Zierlichkeit und psychischen Fragilität, dass man ihr länger zuschauen könnte als die langen 145 Minuten, die "303" dauert. Ein Seitenblick, ein kurzes Erschrecken, nachdem ihr mehr herausgerutscht ist, als sie sagen wollte, Energie und Verärgerung, wenn sie findet, dass Jan Mist geredet hat, leiser Spott, als er den Grill nicht angezündet bekommt. Diese 22-Jährige ist eine Entdeckung, und das hat sicher auch mit der Art zu tun, wie Weingartner mit seinen Schauspielern arbeitet.
Nähe zu den Figuren ist auch das Prinzip der Kameraarbeit, es braucht keine pompösen Totalen oder Hubschrauberflüge, dafür wäre auch kein Geld da gewesen. Der Film zeigt die Landschaften in Belgien, Frankreich oder Spanien ohne demonstrativen Gestus. Immer genug, um den beiden eine Welt zu geben, aber zugleich in dem Bewusstsein, dass, je länger die Reise dauert, die beiden einander Welt genug sind. Und so bewegen sich ihre Gespräche auch von der Vereinzelung des Menschen im Kapitalismus über die anthropologischen Konstanten zu Fragen der Liebe und Bindung. Und es ist fast rührend zu sehen, wie sie dabei immer mehr von sich selbst sprechen, ohne es zu bemerken.
Die Kamera ist präsent wie ein diskreter Erzähler, dem nicht entgeht, was den beiden eine ganze Weile entgeht, wenn sie altklug über die Botenstoffe beim Küssen reden, um später heimlich am T-Shirt des anderen zu riechen, ob man zueinander passt. Man wundert sich irgendwann selbst, dass einem dabei die Zeit nicht lang wird, weil schon auch eine ganze Menge Unsinn geredet wird, den man nicht unbedingt wiederzuhören braucht, auch wenn man mit 24 Jahren ähnlichen Unsinn von sich gegeben hat.
Auf eine seltsame Weise scheint der Film dabei selbst in eine Zeit zu rutschen, als die Nachfahren der Hippies mit dem VW-Bus durch Europa fuhren. Es gibt in "303" zwar Mobiltelefone und Internet. Aber im Herzen, man kann es kaum anders sagen, ist der Film analog. Wobei man allerdings, im Namen eines milden Realismus, fragen könnte, ob ein so altersschwacher Bus wirklich pannenfrei die Strecke schafft und ob die extrem geringe Verkehrsdichte nicht eher in die sechziger Jahre verweist.
Doch darauf kommt es am Ende nicht an. Man wird auch nicht jünger, wenn man mit dem Film eintaucht in die Zeit, als man selbst so alt war. Weingartner, der auf die fünfzig zugeht, mag vielleicht ein wenig nostalgisch geworden sein. Es hätte bestimmt auch nicht geschadet, etwas stärker zu verdichten oder die Dinge manchmal mit ein wenig Ironie zu nehmen. Auch macht der Film es sich am Ende ein bisschen zu leicht mit dem Liebeskonflikt. Aber all diese Einwände nehmen sich kleinlich aus, wenn man sieht, wie großzügig, wie zärtlich Hans Weingartner mit seinen Figuren umgeht - obwohl er doch gesagt hat, er wolle auf keinen Fall einen Liebesfilm machen.
PETER KÖRTE
Ab Donnerstag im Kino
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main