Einzigartiges Filmdokument eines der bedeutendsten und originellsten Denker des 20. Jahrhunderts: Siebeneinhalb Stunden Filmgespräch mit dem französischen Philosophen und Rhizomatiker Gilles Deleuze, der für seine ehemalige Studentin und Freundin Claire Parnet 1988 erstmals die hartnäckige Weigerung aufgibt, im Fernsehen aufzutreten unter der Bedingung, das Material erst posthum auszustrahlen. Dass Deleuze einige Monate vor seinem krankheitsbedingten Freitod 1995 der Ausstrahlung in einzelnen Folgen dennoch zustimmt, ändert nichts an der ursprünglichen Versuchsanordnung dieses Ausnahmedokuments: Mit gelassener Heiterkeit, viel Charme und ohne jedes Pathos nimmt das überaus lebendige Gespenst des Philosophen die heterogenen Impulse auf, die von Parnets alphabetischer Begriffsauswahl von A wie Animal/Tier bis Z wie ZickZack ausgehen, und folgt ihnen freimütig. Von Spinoza zu Minnelli, von der Literatur zum Tennis, von der Zecke zur Kultur: Bestand für Deleuze die Aufgabe der Philosophie erklärtermaßen darin, »Begriffspersonen« zu erschaffen, so kündet dieses ABC von deren weit verzweigtem Eigen-Leben.Dieser seltene Glücksfall eines gelungenen TV-Interviews, noch dazu mit einem wahren Idol der französischen Postmoderne mit dem Mann also, dessen »Sprechgesang« die Studenten in Scharen in die Vorlesungen strömen ließ, und dessen Denken nach 68 auch weit über den akademischen Bereich hinausstrahlte war in Frankreich auch auf Video und DVD ein voller Erfolg.
Bonusmaterial
Beil.: BookletFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2009Denken macht gute Laune
Das Testament des Philosophen: Auf drei DVDs erklärt der einstige Theoriepopstar Gilles Deleuze die Welt in sechsundzwanzig Buchstaben
Wenn Deleuze ins Schimpfen gerät, dann immer gegen die Unvorbereiteten, die Meinungsproduzenten.
Kein Mensch braucht einen Philosophen zum Nachdenken. Kein Mathematiker, kein Maler, kein Musiker braucht einen Philosophen, um über die Mathematik, seine Bilder oder seine Musik nachzudenken. Wozu ist dann aber Philosophie da? Um auf ihre eigene Weise gegen die Dummheit vom Leben zu erzählen. Ein Philosoph macht denkbar, was nicht denkbar ist, so wie Maler nicht das Sichtbare wiedergeben, sondern etwas sichtbar machen, was bis dahin nicht gesehen wurde. Und während der Maler Farben und Striche zu Bildern komponiert, muss der Philosoph in seiner Arbeit Begriffe erfinden.
Das sagt der französische Philosoph Gilles Deleuze in einem Fernsehgespräch über seine Arbeit. "Abécédaire" heißt der Film, er ist mehr als sieben Stunden lang und liegt jetzt erstmals auf drei DVDs mit deutschen Untertiteln vor. Er ist so etwas wie das philosophische Testament des 1995 verstorbenen Deleuze; die Initiative dazu ging von seiner Schülerin, der Journalistin Claire Parnet, aus. Deleuze hat im Unterschied zu seinem Freund Michel Foucault das Fernsehen immer gemieden und die Befragung im Interview gehasst. Leute, die auf jede Frage im Spiel des Fernsehens eine Antwort parat haben, waren ihm ein Greuel, Leute wie Umberto Eco. "Fragen Sie Eco", sagt er einmal, "und es ist bestimmt ein Volltreffer, der antwortet auf alles und weiß es auch noch!"
Deleuze braucht Zeit für seine Antworten, er ist ein langsamer Mensch. "Meine Intensitäten sind durchweg bewegungslos", sagt er auf die Frage, warum er nicht gern reise. Parnet und Deleuze haben sich deshalb auf ein Arrangement geeinigt, das Deleuze alles zugesteht, was er braucht, um seine Gedanken zu entfalten. Parnet sucht zu jedem Buchstaben im Alphabet ein Stichwort, in dem zentrale Gedanken von Deleuze' Philosophie mit seinem Leben in Berührung kommen. Das beginnt mit A wie "Animal", Tier, geht über zu "Enfance" (Kindheit), K wie Kant und endet mit Z wie "Zickzack". Parnet hat ihm die Stichworte vorher genannt und bindet sie jetzt in Fragen ein, die immer auch versuchen, etwas über den Philosophen zu erfahren, was in seinem schriftlichen Werk nicht vorkommt.
Zu dem Arrangement gehörte auch, dass der Film, der vom Winter 1988 bis zum Frühjahr 1989 gedreht wurde, erst nach Deleuze' Tod gesendet werde. Das ermöglicht ihm im Prolog den Witz, dass er jetzt bereits "reiner Geist" sei und man daran sehen könne, dass ein reiner Geist nicht besonders tiefsinnig sei. Deleuze sitzt während des Gesprächs in einem Sessel. Das Bild kommt aus einer einzigen festen und stabilen Kameraeinstellung. Parnet sitzt ihm gegenüber, man sieht sie nur im ersten Drittel ab und zu in einem Spiegel hinter Deleuze' Rücken. Die beiden duzen sich, sie kennen sich gut. Und Parnet kennt sich aus in den Begriffslandschaften von Deleuze: Tier-Werden, Rhizom, Deterritorialisierung, Wunschmaschine und Nomadismus.
Das erste Stichwort, "Animal", führt Deleuze gleich ins Zentrum seines Denkens: das Territorium. Die Körperhaltungen, die Farben, mit denen Tiere ihre Territorien abstecken, das ist Kunst im Reinzustand. Deleuze spricht über das Tier-Werden bei Kafka, über die Zeichen bei Proust und über Hofmannsthal. Tier-Werden, das heißt an eine Grenze gehen, die Sprache, die Syntax an eine Grenze treiben, und eine dieser Grenzen ist die Grenze zum Tier. Prousts Diktum, alle guten Bücher seien in einer Art Fremdsprache geschrieben, und das Wort "outlandish" bei Melville stehen in einem Zusammenhang mit Deleuze' Begriff der Deterritorialisierung. Was heißt das, ein Territorium zu verlassen? Deleuze erzählt von einem Vogel, der außerhalb seines Reviers seinen Partner nicht mehr erkennt. Es gibt im Territorium immer einen Vektor, der aus dem Bekannten hinausführt. Darum geht es beim Schreiben, darum sagt Artaud: "Ich schreibe für die Analphabeten, die Irren, die Wilden."
Auch beim zweiten Buchstaben, "Boisson" für Alkohol, geht es um Grenzen und das Schreiben. "Du hast viel getrunken und dann aufgehört", leitet Claire Parnet ihre Frage ein. Ja, er habe viel getrunken und dann aufgehört, weil er nicht mehr arbeiten konnte, weil es zu gefährlich geworden sei, sagt Deleuze. Alkoholiker wie auch andere Drogenesser würden gewöhnlich falsch verstanden. Es gehe bei ihnen darum, etwas zu sehen, was andere nicht sehen. Dazu könne der Alkohol ein Türöffner sein; abgesehen davon seien Alkoholiker großartige Strategen der Quantität. Es gehe immer darum, bis zum vorletzten Glas zu trinken, dann müsse man aufhören. Und wenn Alkoholiker immer davon redeten, dass sie jederzeit aufhören könnten, dann werde das aus Unverständnis ins Lächerliche gezogen. Denn heute aufzuhören sei nichts anderes als die Voraussetzung dafür, morgen weitertrinken zu können.
Für Deleuze gehören Trinken und Schreiben zusammen. Außerdem ist Trinken ein wesentlicher Bestandteil der großen amerikanischen Literatur: bei Malcolm Lowry, Nelson Algren, William Faulkner und dem von Deleuze besonders geschätzten Thomas Wolfe. Deleuze hat einen schönen Kommentar zu F. Scott Fitzgeralds "Der Knacks" geschrieben, in dem es um diesen Moment geht, in dem man irgendwann morgens aufwacht und feststellen muss, dass man die letzten zehn Jahre besoffen war. Dann kommt der Punkt, an dem man lernen muss, von einem Glas Wasser betrunken zu werden. Parnet lässt hier nicht locker. Sie wendet ein, dass die französischen Schriftsteller, die trinken und die sie beide kennen, aufhören zu schreiben.
Ja, das sei schrecklich, sagt Deleuze, wenn man sieht, wie junge Menschen zu Wracks werden, wenn sie ihr Vermögen verlieren, wenn sie nicht mehr arbeiten können. Denn Leben, das durchzieht das ganze Gespräch, heißt arbeiten, sein Vermögen entfalten. Für ihn als Philosophieprofessor war es deshalb immer selbstverständlich, gut vorbereitet in die Vorlesungen zu gehen. Wenn Deleuze im Gespräch ins Schimpfen gerät, dann geht es immer gegen die Unvorbereiteten: gegen Schriftsteller, die meinen, schreiben zu können, ohne zu lesen; gegen Leute, die immer nur Meinungen absondern, ohne etwas untersucht zu haben.
Diesen Aspekt wendet Parnet gegen ihn selbst, beim Stichwort "Désir" (Wunsch). Deleuze gilt als Philosoph des Wunsches. Zu seinen Begriffsschöpfungen gehört die "Wunschmaschine", ein Begriff, der einen heute noch in die Flucht schlägt. Ob seine Leser, für die er in den siebziger Jahren ein Theoriepopstar war, da nicht etwas falsch verstanden hätten, fragt Parnet, besonders die Drogenesser und Anarchisten in seinen Seminaren an der Reformuniversität Vincennes, an der Deleuze bis 1987 lehrte? Ja, antwortet er, sie hätten seinen Ko-Autor Félix Guattari und ihn missverstanden. Die einen hätten aus dem Wunsch ihren Spontaneismus abgeleitet, die anderen darunter ihr ewiges Fest verstanden.
Sie hätten von "Maschine" gesprochen, sagt Deleuze, weil sie den Wunsch aus dem privatistischen, familialen Gefüge, in das ihn die Psychoanalyse gesteckt hatte, herausnehmen und auf seinen fabrikartigen Charakter hinweisen wollten. Man spürt, dass ihm sein eigener Begriff unheimlich geworden ist - und kann hinzufügen, dass der Begriff "Wunschmaschine" mit dem Verschwinden der Fabriken überholt ist. Deleuze verteidigt dann auch den "Anti-Ödipus", in dem der Wunsch zum Thema wird, aus einem anderen Grund: Es sei bis jetzt das einzige Buch, das eine neue Konzeption des Unbewussten versucht habe, welche die Wahrnehmung aus dem Mutter-Vater-Kind-Schema Freuds herauskatapultiere. Es ist eine schöne Fügung der französischen Sprache, dass in ihrem Alphabet die Kindheit ("Enfance") gleich auf den Wunsch ("Désir") folgt. Deleuze' Gedanken zur Kindheit sind auf eine charmante und uneitle Weise der Schlüssel zu seinem Denken, und es ist den Produzenten der DVD gelungen, im Deutschen eine kongeniale Stimme für den Philosophen zu finden. Der Schauspieler Hanns Zischler spricht in einer Voice-over-Version, die neben dem französischen Original und der deutsch untertitelten Fassung gewählt werden kann, Deleuze' Part. Diese Besetzung wird bei der Geschichte vom kleinen Mädchen, das fünf Stunden lang auf das Wasser starrt, als es zum ersten Mal das Meer sieht, zu einem politischen, künstlerischen und philosophischen Akt. Zum ersten Mal das Meer sehen: ein unfassbares Ereignis! Demokratisiert hat es Léon Blum als Vorsteher der Volksfrontregierung mit der Einführung des bezahlten Urlaubs. Der Hass der Bürger am Strand von Deauville auf die ersten Hausmädchen sei ungeheuerlich gewesen. Man verstehe den Antisemitismus des französischen Bürgertums nicht ohne das Ereignis des bezahlten Urlaubs, der das Privileg der Meererfahrung kassiert habe, sagt Deleuze. Natürlich ist er für die Proletarisierung des Meerblicks. Mehr Meer in allen Seelen ist nur gut.
In dieser Hinsicht ist Deleuze links, ohne dabei seinen proustschen Aristokratismus zu leugnen. Er gehört zu den wenigen Intellektuellen, die sich von allem stalinistischen und maoistischen Engagement ferngehalten haben. Bei ihm lag es daran, dass er Versammlungen und Diskussionen nicht ertrug. Deshalb mochte er Tiere und die mondänen Welten der feinen Empfänge, weil da dauernd Zeichen ohne Diskussion gesendet werden. Und deshalb mochte er Jürgen Habermas nicht. Es gebe zu viel Kommunikation und zu wenig Schöpferisches in der Welt, lautete seine Diagnose. Auf den DVDs kann man sieben Stunden lang einem Mann zusehen, der mit jedem Satz Denken schafft und dabei gute Laune macht.
CORD RIECHELMANN
"Abécédaire - Gilles Deleuze von A bis Z". 3 DVDs, Absolut Medien, 49,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Testament des Philosophen: Auf drei DVDs erklärt der einstige Theoriepopstar Gilles Deleuze die Welt in sechsundzwanzig Buchstaben
Wenn Deleuze ins Schimpfen gerät, dann immer gegen die Unvorbereiteten, die Meinungsproduzenten.
Kein Mensch braucht einen Philosophen zum Nachdenken. Kein Mathematiker, kein Maler, kein Musiker braucht einen Philosophen, um über die Mathematik, seine Bilder oder seine Musik nachzudenken. Wozu ist dann aber Philosophie da? Um auf ihre eigene Weise gegen die Dummheit vom Leben zu erzählen. Ein Philosoph macht denkbar, was nicht denkbar ist, so wie Maler nicht das Sichtbare wiedergeben, sondern etwas sichtbar machen, was bis dahin nicht gesehen wurde. Und während der Maler Farben und Striche zu Bildern komponiert, muss der Philosoph in seiner Arbeit Begriffe erfinden.
Das sagt der französische Philosoph Gilles Deleuze in einem Fernsehgespräch über seine Arbeit. "Abécédaire" heißt der Film, er ist mehr als sieben Stunden lang und liegt jetzt erstmals auf drei DVDs mit deutschen Untertiteln vor. Er ist so etwas wie das philosophische Testament des 1995 verstorbenen Deleuze; die Initiative dazu ging von seiner Schülerin, der Journalistin Claire Parnet, aus. Deleuze hat im Unterschied zu seinem Freund Michel Foucault das Fernsehen immer gemieden und die Befragung im Interview gehasst. Leute, die auf jede Frage im Spiel des Fernsehens eine Antwort parat haben, waren ihm ein Greuel, Leute wie Umberto Eco. "Fragen Sie Eco", sagt er einmal, "und es ist bestimmt ein Volltreffer, der antwortet auf alles und weiß es auch noch!"
Deleuze braucht Zeit für seine Antworten, er ist ein langsamer Mensch. "Meine Intensitäten sind durchweg bewegungslos", sagt er auf die Frage, warum er nicht gern reise. Parnet und Deleuze haben sich deshalb auf ein Arrangement geeinigt, das Deleuze alles zugesteht, was er braucht, um seine Gedanken zu entfalten. Parnet sucht zu jedem Buchstaben im Alphabet ein Stichwort, in dem zentrale Gedanken von Deleuze' Philosophie mit seinem Leben in Berührung kommen. Das beginnt mit A wie "Animal", Tier, geht über zu "Enfance" (Kindheit), K wie Kant und endet mit Z wie "Zickzack". Parnet hat ihm die Stichworte vorher genannt und bindet sie jetzt in Fragen ein, die immer auch versuchen, etwas über den Philosophen zu erfahren, was in seinem schriftlichen Werk nicht vorkommt.
Zu dem Arrangement gehörte auch, dass der Film, der vom Winter 1988 bis zum Frühjahr 1989 gedreht wurde, erst nach Deleuze' Tod gesendet werde. Das ermöglicht ihm im Prolog den Witz, dass er jetzt bereits "reiner Geist" sei und man daran sehen könne, dass ein reiner Geist nicht besonders tiefsinnig sei. Deleuze sitzt während des Gesprächs in einem Sessel. Das Bild kommt aus einer einzigen festen und stabilen Kameraeinstellung. Parnet sitzt ihm gegenüber, man sieht sie nur im ersten Drittel ab und zu in einem Spiegel hinter Deleuze' Rücken. Die beiden duzen sich, sie kennen sich gut. Und Parnet kennt sich aus in den Begriffslandschaften von Deleuze: Tier-Werden, Rhizom, Deterritorialisierung, Wunschmaschine und Nomadismus.
Das erste Stichwort, "Animal", führt Deleuze gleich ins Zentrum seines Denkens: das Territorium. Die Körperhaltungen, die Farben, mit denen Tiere ihre Territorien abstecken, das ist Kunst im Reinzustand. Deleuze spricht über das Tier-Werden bei Kafka, über die Zeichen bei Proust und über Hofmannsthal. Tier-Werden, das heißt an eine Grenze gehen, die Sprache, die Syntax an eine Grenze treiben, und eine dieser Grenzen ist die Grenze zum Tier. Prousts Diktum, alle guten Bücher seien in einer Art Fremdsprache geschrieben, und das Wort "outlandish" bei Melville stehen in einem Zusammenhang mit Deleuze' Begriff der Deterritorialisierung. Was heißt das, ein Territorium zu verlassen? Deleuze erzählt von einem Vogel, der außerhalb seines Reviers seinen Partner nicht mehr erkennt. Es gibt im Territorium immer einen Vektor, der aus dem Bekannten hinausführt. Darum geht es beim Schreiben, darum sagt Artaud: "Ich schreibe für die Analphabeten, die Irren, die Wilden."
Auch beim zweiten Buchstaben, "Boisson" für Alkohol, geht es um Grenzen und das Schreiben. "Du hast viel getrunken und dann aufgehört", leitet Claire Parnet ihre Frage ein. Ja, er habe viel getrunken und dann aufgehört, weil er nicht mehr arbeiten konnte, weil es zu gefährlich geworden sei, sagt Deleuze. Alkoholiker wie auch andere Drogenesser würden gewöhnlich falsch verstanden. Es gehe bei ihnen darum, etwas zu sehen, was andere nicht sehen. Dazu könne der Alkohol ein Türöffner sein; abgesehen davon seien Alkoholiker großartige Strategen der Quantität. Es gehe immer darum, bis zum vorletzten Glas zu trinken, dann müsse man aufhören. Und wenn Alkoholiker immer davon redeten, dass sie jederzeit aufhören könnten, dann werde das aus Unverständnis ins Lächerliche gezogen. Denn heute aufzuhören sei nichts anderes als die Voraussetzung dafür, morgen weitertrinken zu können.
Für Deleuze gehören Trinken und Schreiben zusammen. Außerdem ist Trinken ein wesentlicher Bestandteil der großen amerikanischen Literatur: bei Malcolm Lowry, Nelson Algren, William Faulkner und dem von Deleuze besonders geschätzten Thomas Wolfe. Deleuze hat einen schönen Kommentar zu F. Scott Fitzgeralds "Der Knacks" geschrieben, in dem es um diesen Moment geht, in dem man irgendwann morgens aufwacht und feststellen muss, dass man die letzten zehn Jahre besoffen war. Dann kommt der Punkt, an dem man lernen muss, von einem Glas Wasser betrunken zu werden. Parnet lässt hier nicht locker. Sie wendet ein, dass die französischen Schriftsteller, die trinken und die sie beide kennen, aufhören zu schreiben.
Ja, das sei schrecklich, sagt Deleuze, wenn man sieht, wie junge Menschen zu Wracks werden, wenn sie ihr Vermögen verlieren, wenn sie nicht mehr arbeiten können. Denn Leben, das durchzieht das ganze Gespräch, heißt arbeiten, sein Vermögen entfalten. Für ihn als Philosophieprofessor war es deshalb immer selbstverständlich, gut vorbereitet in die Vorlesungen zu gehen. Wenn Deleuze im Gespräch ins Schimpfen gerät, dann geht es immer gegen die Unvorbereiteten: gegen Schriftsteller, die meinen, schreiben zu können, ohne zu lesen; gegen Leute, die immer nur Meinungen absondern, ohne etwas untersucht zu haben.
Diesen Aspekt wendet Parnet gegen ihn selbst, beim Stichwort "Désir" (Wunsch). Deleuze gilt als Philosoph des Wunsches. Zu seinen Begriffsschöpfungen gehört die "Wunschmaschine", ein Begriff, der einen heute noch in die Flucht schlägt. Ob seine Leser, für die er in den siebziger Jahren ein Theoriepopstar war, da nicht etwas falsch verstanden hätten, fragt Parnet, besonders die Drogenesser und Anarchisten in seinen Seminaren an der Reformuniversität Vincennes, an der Deleuze bis 1987 lehrte? Ja, antwortet er, sie hätten seinen Ko-Autor Félix Guattari und ihn missverstanden. Die einen hätten aus dem Wunsch ihren Spontaneismus abgeleitet, die anderen darunter ihr ewiges Fest verstanden.
Sie hätten von "Maschine" gesprochen, sagt Deleuze, weil sie den Wunsch aus dem privatistischen, familialen Gefüge, in das ihn die Psychoanalyse gesteckt hatte, herausnehmen und auf seinen fabrikartigen Charakter hinweisen wollten. Man spürt, dass ihm sein eigener Begriff unheimlich geworden ist - und kann hinzufügen, dass der Begriff "Wunschmaschine" mit dem Verschwinden der Fabriken überholt ist. Deleuze verteidigt dann auch den "Anti-Ödipus", in dem der Wunsch zum Thema wird, aus einem anderen Grund: Es sei bis jetzt das einzige Buch, das eine neue Konzeption des Unbewussten versucht habe, welche die Wahrnehmung aus dem Mutter-Vater-Kind-Schema Freuds herauskatapultiere. Es ist eine schöne Fügung der französischen Sprache, dass in ihrem Alphabet die Kindheit ("Enfance") gleich auf den Wunsch ("Désir") folgt. Deleuze' Gedanken zur Kindheit sind auf eine charmante und uneitle Weise der Schlüssel zu seinem Denken, und es ist den Produzenten der DVD gelungen, im Deutschen eine kongeniale Stimme für den Philosophen zu finden. Der Schauspieler Hanns Zischler spricht in einer Voice-over-Version, die neben dem französischen Original und der deutsch untertitelten Fassung gewählt werden kann, Deleuze' Part. Diese Besetzung wird bei der Geschichte vom kleinen Mädchen, das fünf Stunden lang auf das Wasser starrt, als es zum ersten Mal das Meer sieht, zu einem politischen, künstlerischen und philosophischen Akt. Zum ersten Mal das Meer sehen: ein unfassbares Ereignis! Demokratisiert hat es Léon Blum als Vorsteher der Volksfrontregierung mit der Einführung des bezahlten Urlaubs. Der Hass der Bürger am Strand von Deauville auf die ersten Hausmädchen sei ungeheuerlich gewesen. Man verstehe den Antisemitismus des französischen Bürgertums nicht ohne das Ereignis des bezahlten Urlaubs, der das Privileg der Meererfahrung kassiert habe, sagt Deleuze. Natürlich ist er für die Proletarisierung des Meerblicks. Mehr Meer in allen Seelen ist nur gut.
In dieser Hinsicht ist Deleuze links, ohne dabei seinen proustschen Aristokratismus zu leugnen. Er gehört zu den wenigen Intellektuellen, die sich von allem stalinistischen und maoistischen Engagement ferngehalten haben. Bei ihm lag es daran, dass er Versammlungen und Diskussionen nicht ertrug. Deshalb mochte er Tiere und die mondänen Welten der feinen Empfänge, weil da dauernd Zeichen ohne Diskussion gesendet werden. Und deshalb mochte er Jürgen Habermas nicht. Es gebe zu viel Kommunikation und zu wenig Schöpferisches in der Welt, lautete seine Diagnose. Auf den DVDs kann man sieben Stunden lang einem Mann zusehen, der mit jedem Satz Denken schafft und dabei gute Laune macht.
CORD RIECHELMANN
"Abécédaire - Gilles Deleuze von A bis Z". 3 DVDs, Absolut Medien, 49,90 Euro
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