England Mitte des 19. Jahrhunderts: Resigniert von der männlich-dominierten Wissenschaftswelt Londons, hat sich die einst gefeierte Paläontologin Mary (Kate Winslet) in ein Provinznest an der Küste im Südwesten Englands zurückgezogen. Dort hält sie sich und ihre von Krankheit gezeichnete Mutter (Gemma Jones) mühsam mit dem Verkauf von Fossilien an Touristen über Wasser. Deshalb kann Mary auch das lukrative Angebot eines wohlhabenden Kunden keinesfalls ausschlagen, der ihr seine schwermütige junge Ehefrau Charlotte (Saoirse Ronan) zur Erholung in Obhut geben will, um seine Studienreise ungestört fortsetzen zu können. Mary begegnet ihrem ungewollten Gast zunächst kühl und abweisend, bis Charlotte schwer erkrankt und Marys volle Aufmerksamkeit erfordert. Einhergehend mit Charlottes Genesung, gewinnt auch Mary langsam die Lebensfreude zurück, und ihre schroffe Fassade beginnt zu bröckeln. Aus den für beide unerwarteten Glücksgefühlen entwickelt sich bald leidenschaftliche Begierde, die alle gesellschaftlichen Konventionen ins Wanken bringt und den Lebensweg beider Frauen unwiderruflich verändern wird.
Bonusmaterial
Trailer, Interviews, B-Roll, Making Of, BildergalerieFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2021Fossil eines verletzten Herzens
Frauenliebe zwischen Jurafelsen: Kate Winslet in Francis Lees Film "Ammonite"
Ammoniten sind ausgestorbene Kopffüßer. Sie besiedelten die Erde zwischen dem Unteren Devon und der späten Kreidezeit, etwa 350 Millionen Jahre lang, und kommen entsprechend häufig als Fossilien in Sedimentgesteinen vor. An der englischen Südküste treten sie regelmäßig nach Hangabbrüchen in den Klippen zutage, zusammen mit Saurierfossilien aus dem Erdmittelalter, in dem sich die Gesteinsschichten der Steilhänge abgelagert haben. Obwohl die Region als Jurassic Coast bekannt ist, stammen die meisten Funde aus jüngeren, auf das Jura folgenden Zeitaltern, in denen das südliche England von einem tropischen Flachmeer bedeckt war.
Mary Anning lebte von 1799 bis 1847 in Lyme Regis, dem wichtigsten Hafen der Juraküste. Ihr Vater besserte sein Einkommen als Tischler durch den Verkauf von Fossilien auf. Die Tochter machte daraus eine Lebensaufgabe. Mit elf Jahren fand sie das erste vollständige Skelett eines Ichthyosaurus, mit vierundzwanzig das bis heute besterhaltene Fossil eines Plesiosaurus, eines noch größeren Meeressauriers. 1826 eröffnete sie ihr eigenes Geschäft, "Anning's Fossil Shop". Obwohl sie mit den führenden Paläontologen ihrer Zeit korrespondierte, blieb ihr als Frau aus der Unterschicht die Mitgliedschaft in der Royal Society verwehrt. "Ich bin in ganz Europa bekannt", erklärte Anning dem Maler und Mediziner Carl Gustav Carus, der für den sächsischen König Friedrich August ein Ichthyosaurierfossil bei ihr erwarb. Nach ihrem Tod aber wurde Mary Anning vergessen. Mittlerweile sind ein Asteroid, ein Schiff und verschiedene fossile Spezies nach ihr benannt.
Francis Lees Film "Ammonite" beginnt mit Szenen einer Auslöschung. Im British Museum wird ein Saurierskelett in eine Vitrine gelegt, "found at Lyme Regis by Mary Anning" steht darauf, doch eine Hand nimmt den Zettel ab und ersetzt ihn durch eine Plakette mit dem Namen eines Mannes. Dann sieht man eine Frau im karierten Kleid, die im Hinterzimmer eines Ladens Gemüse für eine Suppe schneidet. Sie holt zwei Eier aus dem Hühnerstall und kocht sie ab, dann setzt sie sich mit ihrer Mutter, einer Greisin, zu Tisch. In einem der Eier steckt ein totes Küken. Die beiden Frauen schweigen sich an. Irgendwann geht die Türglocke: Kundschaft ist da.
Manchmal gibt es Rollen, die auf bestimmte Schauspielerinnen zu warten scheinen, darauf, dass diese das richtige Alter, das richtige Aussehen, die richtige Reife des Ausdrucks erreichen. Im Fall der Mary Anning ist es die Schauspielerin Kate Winslet. Eine Frau, die tagsüber mit hochgekrempeltem Rock Fossilien aus Felsblöcken klopft, abends für ihre Mutter kocht und nachts Briefwechsel mit Wissenschaftlern pflegt, kann ja nicht einfach von einem Hollywoodstar verkörpert werden. Sie kann aber, wenn sie auf der Leinwand leuchten soll, auch nicht von einem Nicht-Star gespielt werden.
Kate Winslet ist die lebende Antwort auf dieses Besetzungsdilemma. Die Konsequenz, mit der sie nach ihrem Auftritt als blonde Schiffbruchs-Ikone in "Titanic" die Erwartungen der Branche düpierte, hat ihr nicht nur nicht geschadet, sondern ihr schauspielerisches Überleben in der Filmindustrie gesichert. Sie hätte als Bond-Girl und Superheldin enden können. Stattdessen war sie die Vorleserin Hanna, die lebenssüchtige April Wheeler, die unzerstörbare Mildred Pierce, die Muse von Michel Gondry und Woody Allen, die Geliebte des Marquis de Sade und die Gegenspielerin von Jodie Foster bei Roman Polanski.
Nichts von diesem Glanz spiegelt sich in Mary Annings Gesicht. Und doch ist alles da, eingeschlossen unter dem erstarrten Mienenspiel, dem kaum ein Lächeln entschlüpft. Die Frau, die durch den Küstenschlamm stapft und Souvenirs aus Muscheln und Porzellan an Touristen verkauft, trägt das Fossil eines verletzten Herzens in sich. Nach allem, was wir in "Ammonite" sehen, hat die Verletzung mit Elizabeth Philpot (Fiona Shaw) zu tun, einer angesehenen Bürgerin von Lyme Regis, und sie bricht wieder auf, als die Jüngere die Ältere aufsuchen muss, um von ihr ein Medikament zu erhalten. Aber da ist die Heilung der Mary Anning schon in Gang.
Francis Lee, der Regisseur von "Ammonite", hat im englischen Fernsehen und Kino kleinere Rollen gespielt, bevor er mit seinem Spielfilmdebüt "God's Own Country" auf die Berlinale eingeladen wurde. Darin ging es um eine homosexuelle Liebe zwischen einem Schafzüchter und einem Wanderarbeiter. Lees zweiter Film projiziert diese Konstellation, in der das Begehren durch Klassenunterschiede gehemmt wird, auf die Geschichte zweier Frauen. Das Material dazu hat er aus Mary Annings Biographie. Eine von Annings Briefpartnerinnen war Charlotte Murchison, die Frau eines seinerzeit bekannten Paläontologen. Als das Ehepaar in Lyme Regis Feldforschung betrieb, blieb Charlotte für einige Wochen bei Mary Anning, um das Handwerk der Fossiliensammlerin zu lernen.
An diesem Punkt setzt die filmische Fantasie von "Ammonite" ein. Denn Charlotte Murchison ist mit Seidenhäubchen und Spitzenkleid nicht nur das soziale Gegenteil von Mary, sondern auch ihre Schwester im Leiden. Wo bei der einen eine frühe Liebeskränkung sitzt, steckt bei der anderen ein totes Kind. Doch bevor die beiden zueinander finden, muss erst Charlotte auf Marys Schwelle zusammenbrechen, nachdem sie sich im Meer verkühlt hat; und dann muss auch noch Elizabeth Philpot, die ebenfalls auf einer realen Figur beruht, ihre Fäden spinnen, damit sich Annings aufgestaute Eifersucht endlich in erotischer Enthemmung entladen kann.
In dieser Übermotivierung seiner Figuren liegt die Schwäche eines Films, der sonst alles richtig macht - von der Kamera (Stéphane Fontaine), die allen historischen Postkartenansichten aus dem Weg geht, bis zu den Kostümen, die auf den bedeckten Himmel der Geschichte mit gedeckten Farben antworten. Vielleicht würde die erzählerische Unbeholfenheit von "Ammonite" auch weniger auffallen, wenn nicht vor zwei Jahren ein Film in die Kinos gekommen wäre, der mit einem ganz ähnlichen Stoff viel selbstverständlicher und zugleich raffinierter umgeht. Aber an das Spiel mit dem Sehen und Gesehenwerden, der Selbsterkenntnis im Blick der anderen, das Céline Sciamma in "Porträt einer jungen Frau in Flammen" entfaltet, reicht "Ammonite" eben in keinem Augenblick heran. Sein Liebesdrama bleibt eine Behauptung, es erstarrt zum Bild, bevor das Auge Feuer fängt.
Dabei trifft es sich gut, dass Lee auch für seine zweite Hauptrolle die ideale Besetzung gefunden hat. Wenn Kate Winslet die beste englischsprachige Filmschauspielerin ihrer Generation ist, dann gilt für die zwanzig Jahre jüngere Saoirse Ronan das Gleiche. Die Affäre zwischen Mary Anning und ihrer Schülerin wird so zum Duell zwischen Winslets wuchtiger Körperlichkeit und Ronans geschmeidiger Eleganz. Dass der Film am Ende selbst nicht genau weiß, wie seine Geschichte ausgehen soll, spielt dabei keine Rolle mehr. In Wahrheit sind sich Mary und Charlotte wohl immer nur freundschaftlich begegnet. Aber wer fragt im Kino schon nach Wahrheit, wenn es um Liebe geht. ANDREAS KILB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frauenliebe zwischen Jurafelsen: Kate Winslet in Francis Lees Film "Ammonite"
Ammoniten sind ausgestorbene Kopffüßer. Sie besiedelten die Erde zwischen dem Unteren Devon und der späten Kreidezeit, etwa 350 Millionen Jahre lang, und kommen entsprechend häufig als Fossilien in Sedimentgesteinen vor. An der englischen Südküste treten sie regelmäßig nach Hangabbrüchen in den Klippen zutage, zusammen mit Saurierfossilien aus dem Erdmittelalter, in dem sich die Gesteinsschichten der Steilhänge abgelagert haben. Obwohl die Region als Jurassic Coast bekannt ist, stammen die meisten Funde aus jüngeren, auf das Jura folgenden Zeitaltern, in denen das südliche England von einem tropischen Flachmeer bedeckt war.
Mary Anning lebte von 1799 bis 1847 in Lyme Regis, dem wichtigsten Hafen der Juraküste. Ihr Vater besserte sein Einkommen als Tischler durch den Verkauf von Fossilien auf. Die Tochter machte daraus eine Lebensaufgabe. Mit elf Jahren fand sie das erste vollständige Skelett eines Ichthyosaurus, mit vierundzwanzig das bis heute besterhaltene Fossil eines Plesiosaurus, eines noch größeren Meeressauriers. 1826 eröffnete sie ihr eigenes Geschäft, "Anning's Fossil Shop". Obwohl sie mit den führenden Paläontologen ihrer Zeit korrespondierte, blieb ihr als Frau aus der Unterschicht die Mitgliedschaft in der Royal Society verwehrt. "Ich bin in ganz Europa bekannt", erklärte Anning dem Maler und Mediziner Carl Gustav Carus, der für den sächsischen König Friedrich August ein Ichthyosaurierfossil bei ihr erwarb. Nach ihrem Tod aber wurde Mary Anning vergessen. Mittlerweile sind ein Asteroid, ein Schiff und verschiedene fossile Spezies nach ihr benannt.
Francis Lees Film "Ammonite" beginnt mit Szenen einer Auslöschung. Im British Museum wird ein Saurierskelett in eine Vitrine gelegt, "found at Lyme Regis by Mary Anning" steht darauf, doch eine Hand nimmt den Zettel ab und ersetzt ihn durch eine Plakette mit dem Namen eines Mannes. Dann sieht man eine Frau im karierten Kleid, die im Hinterzimmer eines Ladens Gemüse für eine Suppe schneidet. Sie holt zwei Eier aus dem Hühnerstall und kocht sie ab, dann setzt sie sich mit ihrer Mutter, einer Greisin, zu Tisch. In einem der Eier steckt ein totes Küken. Die beiden Frauen schweigen sich an. Irgendwann geht die Türglocke: Kundschaft ist da.
Manchmal gibt es Rollen, die auf bestimmte Schauspielerinnen zu warten scheinen, darauf, dass diese das richtige Alter, das richtige Aussehen, die richtige Reife des Ausdrucks erreichen. Im Fall der Mary Anning ist es die Schauspielerin Kate Winslet. Eine Frau, die tagsüber mit hochgekrempeltem Rock Fossilien aus Felsblöcken klopft, abends für ihre Mutter kocht und nachts Briefwechsel mit Wissenschaftlern pflegt, kann ja nicht einfach von einem Hollywoodstar verkörpert werden. Sie kann aber, wenn sie auf der Leinwand leuchten soll, auch nicht von einem Nicht-Star gespielt werden.
Kate Winslet ist die lebende Antwort auf dieses Besetzungsdilemma. Die Konsequenz, mit der sie nach ihrem Auftritt als blonde Schiffbruchs-Ikone in "Titanic" die Erwartungen der Branche düpierte, hat ihr nicht nur nicht geschadet, sondern ihr schauspielerisches Überleben in der Filmindustrie gesichert. Sie hätte als Bond-Girl und Superheldin enden können. Stattdessen war sie die Vorleserin Hanna, die lebenssüchtige April Wheeler, die unzerstörbare Mildred Pierce, die Muse von Michel Gondry und Woody Allen, die Geliebte des Marquis de Sade und die Gegenspielerin von Jodie Foster bei Roman Polanski.
Nichts von diesem Glanz spiegelt sich in Mary Annings Gesicht. Und doch ist alles da, eingeschlossen unter dem erstarrten Mienenspiel, dem kaum ein Lächeln entschlüpft. Die Frau, die durch den Küstenschlamm stapft und Souvenirs aus Muscheln und Porzellan an Touristen verkauft, trägt das Fossil eines verletzten Herzens in sich. Nach allem, was wir in "Ammonite" sehen, hat die Verletzung mit Elizabeth Philpot (Fiona Shaw) zu tun, einer angesehenen Bürgerin von Lyme Regis, und sie bricht wieder auf, als die Jüngere die Ältere aufsuchen muss, um von ihr ein Medikament zu erhalten. Aber da ist die Heilung der Mary Anning schon in Gang.
Francis Lee, der Regisseur von "Ammonite", hat im englischen Fernsehen und Kino kleinere Rollen gespielt, bevor er mit seinem Spielfilmdebüt "God's Own Country" auf die Berlinale eingeladen wurde. Darin ging es um eine homosexuelle Liebe zwischen einem Schafzüchter und einem Wanderarbeiter. Lees zweiter Film projiziert diese Konstellation, in der das Begehren durch Klassenunterschiede gehemmt wird, auf die Geschichte zweier Frauen. Das Material dazu hat er aus Mary Annings Biographie. Eine von Annings Briefpartnerinnen war Charlotte Murchison, die Frau eines seinerzeit bekannten Paläontologen. Als das Ehepaar in Lyme Regis Feldforschung betrieb, blieb Charlotte für einige Wochen bei Mary Anning, um das Handwerk der Fossiliensammlerin zu lernen.
An diesem Punkt setzt die filmische Fantasie von "Ammonite" ein. Denn Charlotte Murchison ist mit Seidenhäubchen und Spitzenkleid nicht nur das soziale Gegenteil von Mary, sondern auch ihre Schwester im Leiden. Wo bei der einen eine frühe Liebeskränkung sitzt, steckt bei der anderen ein totes Kind. Doch bevor die beiden zueinander finden, muss erst Charlotte auf Marys Schwelle zusammenbrechen, nachdem sie sich im Meer verkühlt hat; und dann muss auch noch Elizabeth Philpot, die ebenfalls auf einer realen Figur beruht, ihre Fäden spinnen, damit sich Annings aufgestaute Eifersucht endlich in erotischer Enthemmung entladen kann.
In dieser Übermotivierung seiner Figuren liegt die Schwäche eines Films, der sonst alles richtig macht - von der Kamera (Stéphane Fontaine), die allen historischen Postkartenansichten aus dem Weg geht, bis zu den Kostümen, die auf den bedeckten Himmel der Geschichte mit gedeckten Farben antworten. Vielleicht würde die erzählerische Unbeholfenheit von "Ammonite" auch weniger auffallen, wenn nicht vor zwei Jahren ein Film in die Kinos gekommen wäre, der mit einem ganz ähnlichen Stoff viel selbstverständlicher und zugleich raffinierter umgeht. Aber an das Spiel mit dem Sehen und Gesehenwerden, der Selbsterkenntnis im Blick der anderen, das Céline Sciamma in "Porträt einer jungen Frau in Flammen" entfaltet, reicht "Ammonite" eben in keinem Augenblick heran. Sein Liebesdrama bleibt eine Behauptung, es erstarrt zum Bild, bevor das Auge Feuer fängt.
Dabei trifft es sich gut, dass Lee auch für seine zweite Hauptrolle die ideale Besetzung gefunden hat. Wenn Kate Winslet die beste englischsprachige Filmschauspielerin ihrer Generation ist, dann gilt für die zwanzig Jahre jüngere Saoirse Ronan das Gleiche. Die Affäre zwischen Mary Anning und ihrer Schülerin wird so zum Duell zwischen Winslets wuchtiger Körperlichkeit und Ronans geschmeidiger Eleganz. Dass der Film am Ende selbst nicht genau weiß, wie seine Geschichte ausgehen soll, spielt dabei keine Rolle mehr. In Wahrheit sind sich Mary und Charlotte wohl immer nur freundschaftlich begegnet. Aber wer fragt im Kino schon nach Wahrheit, wenn es um Liebe geht. ANDREAS KILB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main