Der wohlgeordnete Alltag in einer Kleinstadt wird abrupt zerstört: bei einem Busunfall verlieren 14 Kinder ihre Leben. Als ein Anwalt einige Eltern zur Schadenersatzklage überredet, kommt es zwischen den Betroffenen zu Zwietracht. Die Überlebende Nicole will die Gemeinde versöhnen ...
Bonusmaterial
DVD-Ausstattung / Bonusmaterial: - Kapitel- / Szenenanwahl - Animiertes DVD-Menü - DVD-Menü mit SoundeffektenFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.1998Hameln liegt in Kanada
Der Rattenfänger als Ratte: Der Regisseur Atom Egoyan macht aus dem "Süßen Jenseits" ein filmisches Meisterwerk
In diesem Film geht kein Schiff unter, sondern ein Schulbus. Er durchbricht die Eisdecke eines zugefrorenen Flusses in British Columbia. Vom Uferhang sehen wir ihn auf die weiße Ebene schliddern, wie ein Eiskunstläufer dreht er eine Pirouette und bleibt stehen, als habe er seine Kür beendet. Dann bricht er ein - weit weg vom Ufer, wo Billy Ansell steht, der Vater von Mason und Jessica. Seine Kinder werden ertrinken, seine Zukunft bricht ab. Wie die der Kleinstadt Sam Dent, die durch das Unglück ihre jungen Bewohner verliert. "Sie wurde zu einer Stadt mit eigenen Regeln, deren Menschen schon im süßen Jenseits leben", wird Nicole Burnell, ein überlebendes Mädchen über die letzten Bilder sprechen. Sam Dent ist sterblich geworden, und plötzlich versteht man, warum diese Siedlung Vor- und Nachnamen trägt.
In der Nacht bevor Nicole den Schulbus besteigen wird, betreut sie Mason und Jessica, damit Billy für ein Schäferstündchen Zeit hat. Zum Einschlafen liest sie den Kindern den "Rattenfänger von Hameln" vor, und nach der Katastrophe, die sie gelähmt zurückläßt, wird Nicole sich an das einzelne lahme Kind erinnern, das dem Rattenfänger nicht in den Berg folgen konnte und traurig zurückbleiben mußte. Der Tod ist ein Rattenfänger, der Nicole das süße Jenseits versprach, das sie aus der inzestuösen Beziehung mit ihrem Vater befreit hätte. Er aber hat sie zurückgelassen.
Der kanadische Regisseur Atom Egoyan zählt zu den Besten seiner Zunft, und "Das süße Jenseits" ist sein bislang bester Film. Erzählte uns "Der Schätzer" vom Zen in der Kunst, Zensur zu üben, und "Exotica" von der Beobachtung der Beobachter, so treibt "Das süße Jenseits" Egoyans destruktive Rekonstruktionsbemühungen auf die Spitze. Die Schleier der Vergangenheit werden zerschnitten wie die Chronologie des Films, doch alle Beteiligten sind nur allzugern bereit, die nackte Wahrheit wieder zu verhüllen. Wir sehen das Busunglück, seine Vorgeschichte, die Tage danach und eine Flugreise, die der Rechtsanwalt Mitchell Stephens zwei Jahre später unternimmt. Er vertrat die Eltern der Opfer, und Nicoles Aussage brachte ihn um seinen Erfolg.
Mitchell Stephens hält sich an den, der Geld hat. Nicht Dolores, die überlebende Busfahrerin, will er anklagen lassen - ihre Haftpflichtversicherung ist zu niedrig -, sondern den Hersteller des Busses. Mit dem Versprechen, nicht das Leid der Eltern lindern zu wollen, sondern ihrem Zorn eine Richtung zu geben, fängt er seine Klienten ein: Mitchell ist der größte Rattenfänger in Sam Dent. Sein Hamelner Vorläufer handelte als Betrogener, für Mitchells Verhalten gibt es scheinbar keine mildernden Umstände. Nur Billy verweigert sich dem Anwalt, der sein Bemühen unter das Motto "Verteidigung der Zukunft" gesetzt hat. Billy weiß, daß es nichts mehr zu verteidigen gibt.
Wie Ian Holm als Mitchell auf seine prospektiven Klienten zukriecht, wie er nach erfolgreichen Verhandlungen zu seinem Auto rennt, um das Vertragsformular zu holen, wie er vor dem Wort "Tragödie" die Augen schließt, die Stirn in noch tiefere Falten legt und seinem Gesicht den Ausdruck tiefer Qual gibt, ist ein Meisterstück - der Rattenfänger als Ratte. Wie ihn dabei Paul Sarossys Kamera beobachtet, ist es nicht minder. Auch andere Einstellungen begeistern: die Luftbilder des in sein Unglück fahrenden Busses etwa, von dem die Kamera immer wieder abschwenkt, um die zerklüftete Winterlandschaft einzufangen. Auf diesem weißen Boden kann sich nichts Schmutziges ereignen; erst als der Bus das Eis durchbricht, ist sein Schicksal besiegelt.
Die Gemeinschaft droht ebenfalls zu zerbrechen. Das Kleinstadtgefüge, in der Realität durch Ehebruch, Inzest, Schlaganfall und Krebstod längst gelockert, steht vor dem Einsturz. Mitchells Anstrengungen halten die Eltern nicht zusammen, sondern er beschränkt sich auf die Vertretung der Bürger mit gutem Leumund. Daß er dabei ausgerechnet an Nicoles Vater gerät, den Tom McManus ohne jeden Zug von Perfidie spielt, ist sein Pech. Die gelähmte Nicole (von Sarah Polley brillant dargestellt), seinem Begehren nun ganz ausgeliefert, liefert sich vor ihrer entscheidenden Aussage ein Augenduell mit dem Vater. Ihre Lüge rettet nicht die Gemeinschaft, wie Billy hofft, sondern nur sie selbst.
Das ist der Kern aller Filme Egoyans: die verzweifelten Bemühungen des Individuums, sich vor Vereinnahmung zu schützen, und das hat ihn auch an der Romanvorlage von Russell Banks beeindruckt. Hinter Mitchells Anwaltsmaske steckt selbst ein Vater, der seine Tochter an Drogen und Aids verloren hat. Alle Triumphe des einzelnen sind zwiespältig: Zwei Jahre nach dem Unfall sitzt Dolores wieder am Steuer eines Busses. Sie hat ihren Schock überwunden, aber die Falschaussage von Nicole hat ihr die Schuld zugeschoben: Auch die Fahrerin wurde zur Rattenfängerin gestempelt. Jetzt lebt sie fernab von Sam Dent, dem kanadischen Hameln. Man kann über diesen Film, seine Figuren, die Liebe zum Detail nur staunen, und wenn Egoyans Leistung in zwei Wochen keinen Oscar wert sein sollte, würde man nicht einmal mehr das können. ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Rattenfänger als Ratte: Der Regisseur Atom Egoyan macht aus dem "Süßen Jenseits" ein filmisches Meisterwerk
In diesem Film geht kein Schiff unter, sondern ein Schulbus. Er durchbricht die Eisdecke eines zugefrorenen Flusses in British Columbia. Vom Uferhang sehen wir ihn auf die weiße Ebene schliddern, wie ein Eiskunstläufer dreht er eine Pirouette und bleibt stehen, als habe er seine Kür beendet. Dann bricht er ein - weit weg vom Ufer, wo Billy Ansell steht, der Vater von Mason und Jessica. Seine Kinder werden ertrinken, seine Zukunft bricht ab. Wie die der Kleinstadt Sam Dent, die durch das Unglück ihre jungen Bewohner verliert. "Sie wurde zu einer Stadt mit eigenen Regeln, deren Menschen schon im süßen Jenseits leben", wird Nicole Burnell, ein überlebendes Mädchen über die letzten Bilder sprechen. Sam Dent ist sterblich geworden, und plötzlich versteht man, warum diese Siedlung Vor- und Nachnamen trägt.
In der Nacht bevor Nicole den Schulbus besteigen wird, betreut sie Mason und Jessica, damit Billy für ein Schäferstündchen Zeit hat. Zum Einschlafen liest sie den Kindern den "Rattenfänger von Hameln" vor, und nach der Katastrophe, die sie gelähmt zurückläßt, wird Nicole sich an das einzelne lahme Kind erinnern, das dem Rattenfänger nicht in den Berg folgen konnte und traurig zurückbleiben mußte. Der Tod ist ein Rattenfänger, der Nicole das süße Jenseits versprach, das sie aus der inzestuösen Beziehung mit ihrem Vater befreit hätte. Er aber hat sie zurückgelassen.
Der kanadische Regisseur Atom Egoyan zählt zu den Besten seiner Zunft, und "Das süße Jenseits" ist sein bislang bester Film. Erzählte uns "Der Schätzer" vom Zen in der Kunst, Zensur zu üben, und "Exotica" von der Beobachtung der Beobachter, so treibt "Das süße Jenseits" Egoyans destruktive Rekonstruktionsbemühungen auf die Spitze. Die Schleier der Vergangenheit werden zerschnitten wie die Chronologie des Films, doch alle Beteiligten sind nur allzugern bereit, die nackte Wahrheit wieder zu verhüllen. Wir sehen das Busunglück, seine Vorgeschichte, die Tage danach und eine Flugreise, die der Rechtsanwalt Mitchell Stephens zwei Jahre später unternimmt. Er vertrat die Eltern der Opfer, und Nicoles Aussage brachte ihn um seinen Erfolg.
Mitchell Stephens hält sich an den, der Geld hat. Nicht Dolores, die überlebende Busfahrerin, will er anklagen lassen - ihre Haftpflichtversicherung ist zu niedrig -, sondern den Hersteller des Busses. Mit dem Versprechen, nicht das Leid der Eltern lindern zu wollen, sondern ihrem Zorn eine Richtung zu geben, fängt er seine Klienten ein: Mitchell ist der größte Rattenfänger in Sam Dent. Sein Hamelner Vorläufer handelte als Betrogener, für Mitchells Verhalten gibt es scheinbar keine mildernden Umstände. Nur Billy verweigert sich dem Anwalt, der sein Bemühen unter das Motto "Verteidigung der Zukunft" gesetzt hat. Billy weiß, daß es nichts mehr zu verteidigen gibt.
Wie Ian Holm als Mitchell auf seine prospektiven Klienten zukriecht, wie er nach erfolgreichen Verhandlungen zu seinem Auto rennt, um das Vertragsformular zu holen, wie er vor dem Wort "Tragödie" die Augen schließt, die Stirn in noch tiefere Falten legt und seinem Gesicht den Ausdruck tiefer Qual gibt, ist ein Meisterstück - der Rattenfänger als Ratte. Wie ihn dabei Paul Sarossys Kamera beobachtet, ist es nicht minder. Auch andere Einstellungen begeistern: die Luftbilder des in sein Unglück fahrenden Busses etwa, von dem die Kamera immer wieder abschwenkt, um die zerklüftete Winterlandschaft einzufangen. Auf diesem weißen Boden kann sich nichts Schmutziges ereignen; erst als der Bus das Eis durchbricht, ist sein Schicksal besiegelt.
Die Gemeinschaft droht ebenfalls zu zerbrechen. Das Kleinstadtgefüge, in der Realität durch Ehebruch, Inzest, Schlaganfall und Krebstod längst gelockert, steht vor dem Einsturz. Mitchells Anstrengungen halten die Eltern nicht zusammen, sondern er beschränkt sich auf die Vertretung der Bürger mit gutem Leumund. Daß er dabei ausgerechnet an Nicoles Vater gerät, den Tom McManus ohne jeden Zug von Perfidie spielt, ist sein Pech. Die gelähmte Nicole (von Sarah Polley brillant dargestellt), seinem Begehren nun ganz ausgeliefert, liefert sich vor ihrer entscheidenden Aussage ein Augenduell mit dem Vater. Ihre Lüge rettet nicht die Gemeinschaft, wie Billy hofft, sondern nur sie selbst.
Das ist der Kern aller Filme Egoyans: die verzweifelten Bemühungen des Individuums, sich vor Vereinnahmung zu schützen, und das hat ihn auch an der Romanvorlage von Russell Banks beeindruckt. Hinter Mitchells Anwaltsmaske steckt selbst ein Vater, der seine Tochter an Drogen und Aids verloren hat. Alle Triumphe des einzelnen sind zwiespältig: Zwei Jahre nach dem Unfall sitzt Dolores wieder am Steuer eines Busses. Sie hat ihren Schock überwunden, aber die Falschaussage von Nicole hat ihr die Schuld zugeschoben: Auch die Fahrerin wurde zur Rattenfängerin gestempelt. Jetzt lebt sie fernab von Sam Dent, dem kanadischen Hameln. Man kann über diesen Film, seine Figuren, die Liebe zum Detail nur staunen, und wenn Egoyans Leistung in zwei Wochen keinen Oscar wert sein sollte, würde man nicht einmal mehr das können. ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main