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Ein junger Kunstlehrer aus Istanbul leistet seit vier Jahren seinen Pflichtdienst in einem abgelegenen Dorf in Anatolien. Er verrichtet seine Arbeit gewissenhaft, wartet aber, trotz einer Affäre mit seiner Kollegin, nur darauf, die Trostlosigkeit der türkischen Peripherie so schnell wie möglich wieder verlassen zu können. Nach einer Reihe von Ereignissen schwindet aber Hoffnung immer mehr - und der Lehrer offenbart Züge, die ihn als völlig anderen Menschen ausweisen.

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Produktbeschreibung
Ein junger Kunstlehrer aus Istanbul leistet seit vier Jahren seinen Pflichtdienst in einem abgelegenen Dorf in Anatolien. Er verrichtet seine Arbeit gewissenhaft, wartet aber, trotz einer Affäre mit seiner Kollegin, nur darauf, die Trostlosigkeit der türkischen Peripherie so schnell wie möglich wieder verlassen zu können. Nach einer Reihe von Ereignissen schwindet aber Hoffnung immer mehr - und der Lehrer offenbart Züge, die ihn als völlig anderen Menschen ausweisen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2024

Der Winter der Sehnsucht hört nie auf

Ein Lehrer in der türkischen Provinz: Nuri Bilge Ceylans meisterlicher Film "Auf trockenen Gräsern"

Samet, der Lehrer, macht Fotos. Er nimmt Jugendliche auf, Greise, Soldaten, verschleierte Frauen, Bauern mit ihren Pferden, Jäger mit ihren Gewehren. Und seine Schüler. Am liebsten fotografiert er Sevim, ein Mädchen mit langem, lockigem braunem Haar und dunklen Augen. Im Kunstunterricht erteilt er Sevim so oft das Wort, dass ein Schüler sich über die Bevorzugung beschwert. Samet weist ihn barsch zurecht.

Dann wird Samet zusammen mit einem Kollegen vom Leiter des regionalen Schulamts einbestellt. Sevim und ein anderes Mädchen haben sich über die beiden Lehrer beschwert. Samet soll Sevim an Schultern und Hüfte berührt haben. Der Schulamtsleiter erklärt, er habe die Anzeige unterdrückt, aber beim nächsten Mal seien die beiden "dran". Wie ein geprügelter Hund schleicht Samet aus der Behörde. Über das, was wirklich passiert ist, redet er nicht. Denn der Lehrer hat seine Schülerin nicht äußerlich, aber innerlich berührt. Die Folge war ein Liebesbrief, der bei einer Durchsuchung der Klasse aus Sevims Schulheft gefallen ist. Samet hat ihn an sich genommen und gelesen. Und er hat Sevim, die ihn zurückforderte, angelogen, er habe das Schriftstück ungelesen weggeworfen. In Wahrheit steckt es in seiner Jackentasche. Das ist der Übergriff, für den er büßen muss, nicht mit Entlassenwerden, sondern mit Einsamkeit.

Nuri Bilge Ceylans Film "Auf trockenen Gräsern" ist die Geschichte einer Entzweiung - zwischen einem Lehrer und seiner Schülerin, aber auch, im Hintergrund, zwischen einem Filmemacher und seinem Land. Dafür braucht Ceylan keinen großen erzählerischen Apparat. Es genügt, dass er die Geschichte im äußersten Osten der Türkei spielen lässt, in der Region von Agri, wo sich die Dörfer vor der Kulisse des Ararats in die zerklüftete Hochebene ducken, und im Winter, der so kalt ist, dass der Schnee auf den Straßen und Feldern bis in den April liegen bleibt. Es ist eine der Seelenlandschaften des türkischen Regisseurs, ein Ort, an dem viele seiner Filme spielen, von seinem Regie-Erstling "Die Stadt" über das autobiographische Ehedrama "Jahreszeiten" bis hin zu "Winterschlaf", für den er vor zehn Jahren in Cannes die Goldene Palme bekam.

Hier, in einem Dorf, das groß genug für eine Schule, aber zu klein für einen eigenen Geldautomaten ist, leistet Samet seine Pflichtjahre als Provinzlehrer ab. Er ist nicht mehr jung, wie sein zurückweichender Haaransatz verrät, aber auch noch nicht alt; er steckt in der Phase, in der man entscheiden muss, wie man sich im Leben einrichten will. Aber Samet ist unentschieden. Das Einzige, was er sicher weiß, ist, dass er wegwill, zurück nach Istanbul. Seine vierjährige Dienstzeit ist fast zu Ende, was man auch daran sieht, dass er sowohl mit dem örtlichen Militärkommandanten Freundschaft geschlossen hat als auch mit einem Barbesitzer, der bei sich zu Hause geschmuggelten Whisky ausschenkt, und seinem Schützling, einem Kurden, der sich vor der Polizei versteckt, ohne dass man genau erfährt, warum.

Und man muss es auch nicht, denn die Kamera, die mit Samets Blick auf die verschneite Landschaft schaut, weiß es, und man kann es überall nachlesen. Im Ersten Weltkrieg war die Provinz Agri ein Schauplatz des Armeniergenozids und der grausamen Winterschlachten zwischen Russland und dem Osmanischen Reich, und später tobte hier der Bürgerkrieg zwischen kurdischen Separatisten und der türkischen Regierung, von dem Yilmaz Güney in "Yol - Der Weg" erzählt hat. An Güneys Filmklassiker erinnert in "Auf trockenen Gräsern" nicht nur der regelmäßig wiederkehrende Schneesturm, sondern auch eine Szene, in der zwei Männer auf einem Felsvorsprung sitzen und Wasser aus einer Quelle in Plastikflaschen füllen. Sie schauen auf eine Eiswüste herab. Und sie reden über ihr Leben, ihre Pläne, ihre Träume.

Die beiden Männer sind Samet und sein Mitbewohner Kenan, und von ihnen handelt die zweite Geschichte dieses Films - auch sie ein Spiel um Begehren, Lüge und Entzweiung. In der nahen Kleinstadt lernt Samet die Englischlehrerin Nuray kennen. Sie hinkt, denn sie hat bei einem Selbstmordattentat in Ankara ein Bein verloren. Und sie ist schön. Aber sie will in der Gegend bleiben, und Samet wird im Frühjahr fortgehen. Deshalb lädt er Kenan zu ihrer nächsten Verabredung ein, und Kenan verliebt sich in Nuray. Dann aber beobachtet Samet zufällig ein Treffen der beiden, und seine Eifersucht erwacht. Als er Nuray auf der Straße begegnet und sie ihn und seinen Mitbewohner zum Essen einlädt, kommt er allein und verbringt die Nacht mit ihr. Nachdem Kenan erfahren hat, was passiert ist, zieht er sich vom Freund und von der Freundin zurück. Bis Nuray bei den beiden auftaucht und dem Geschehen eine neue Wendung gibt.

Es ist das alte Dreiecksdrama um Liebe und Verrat, nur dass es bei Ceylan einen besonderen Twist bekommt. Denn bevor Samet mit Nuray schläft, führen die beiden ein langes Gespräch über das, worum es in "Auf trockenen Gräsern" eigentlich geht: Fliehen oder Standhalten, Rückzug oder Engagement, Kunst um ihrer selbst oder um der Menschen willen. Und auf einmal wird das nächtliche Zimmer im hintersten Winkel der Türkei zu einem Schauplatz realer Gegenwart, einem jener Orte, die es nur im Kino gibt. Merve Dizdar, die Darstellerin der Nuray, bekam in Cannes zu Recht den Preis für die beste Darstellerin. In ihrer Dankrede widmete sie die Auszeichnung dem Kampf der türkischen Frauen. Natürlich gab es politischen Ärger, wie immer, wenn jemand öffentlich sagt, was gesagt werden muss.

Die Schlussszenen des Films spielen am Nemrut Dag, einem Hügel über dem Euphrattal, auf dem sich ein hellenistischer Kleinkönig im ersten Jahrhundert vor Christus ein monumentales Grabmal errichten ließ, von dem einige Riesenthrone mit Götterstatuen, abgefallene Köpfe und Grundmauern erhalten sind. Hier sind endlich die trockenen Gräser zu sehen, die der Filmtitel verspricht. Und hier sehen wir, wie sich Samet von Kenan und Nuray, die jetzt ein Paar sind, löst und im Sonnenlicht den Hügel erklimmt. Er will allein sein mit seinem Traum, der nicht von Istanbul handelt, sondern vom Winter in Agri und von Sevim, der Schülerin, die er verraten hat. Auch sie, sagt er bitter, werde einmal gelb und vertrocknet sein wie das Gras unter seinen Füßen. Aber die Bilder einer Schneeballschlacht im Dorf, die man dazu sieht, erzählen etwas anderes. Sie zeigen das Foto, das der Lehrer nicht gemacht hat, weil er im Überschwang des Moments vergaß, auf den Auslöser zu drücken. Und so endet der Film mit dem Bild eines Mädchengesichts, in dem das Rätsel der Zukunft verborgen liegt.

"Großes Kino": Das ist heute eine so geläufige Floskel, wie es einst, vor dem Beginn eines neuen Zeitalters der Kriege, die "Bombenstimmung" war. Aber je öfter sie mittlerweile gebraucht wird, desto seltener, scheint es, gibt es das, was sie meint. Wirklich großes Kino lässt uns darüber staunen, wie vertraut uns die Dinge sind, die es in Bilder übersetzt. So wie "Auf trockenen Gräsern", ein Film von Nuri Bilge Ceylan. ANDREAS KILB

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