Yusuf lebt mit seinen Eltern in den waldreichen Bergen der Schwarzmeerregion, hoch oben im Nordosten der Türkei. Oft begleitet er seinen Vater, den Imker Yakup, bei dessen Streifzügen durch die tiefen, unberührten Wälder. Hoch oben in den Bäumen werden die Bienenstöcke angebracht, um den berühmten schwarzen Honig der Rize-Region zu ernten. Aufmerksam lernt Yusuf an der Seite seines Vaters die Geheimnisse der Natur kennen, flüsternd findet er hier zu einer Sprache, die ihm in der Schule immer wieder fehlen will.
Als ein unerklärliches Bienensterben die Gegend heimsucht, zieht Yakup los, um seine Bienenstöcke in einer schwer zugänglichen, gefährlichen Gebirgsregion aufzubauen. Nach Tagen ist er immer noch nicht zurück...
Als ein unerklärliches Bienensterben die Gegend heimsucht, zieht Yakup los, um seine Bienenstöcke in einer schwer zugänglichen, gefährlichen Gebirgsregion aufzubauen. Nach Tagen ist er immer noch nicht zurück...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2011Im Bergwerk der Schönheit gräbt man nach Gedichten
Semih Kaplanoglus "Yusuf"-Filmtrilogie eröffnet einen magischen Blick auf individuelle wie soziale Geschichte
In einer Buchhandlung in Istanbul beginnt eines der großen Erzählprojekte des neueren Weltkinos. Yusuf, der Besitzer, hat eigentlich schon Feierabend gemacht, dabei aber vergessen, die Tür abzuschließen. Er legt eine Schallplatte auf, zieht sich die Socken aus, gießt Tee ein und raucht eine Zigarette.
Da betritt eine schöne Frau das Geschäft und fragt nach einem Buch, das sie verschenken könnte. Sie nimmt schließlich ein vegetarisches Kochbuch aus dem Regal und bezahlt mit der Flasche Wein, die sie bei sich hatte. Für eine urbane Liebesgeschichte ist das ein klassischer Beginn, der alle Möglichkeiten in sich trägt. Doch Semih Kaplanoglu hatte 2007, als er seinen Film "Yumurta" ("Ei") so anfangen ließ, etwas ganz anderes vor.
Und so macht sich Yusuf, der in dieser Szene nämlich auch noch einen Anruf mit einer wichtigen Nachricht erhalten hat, gleich danach auf den Weg nach Hause. Er fährt von Istanbul nach Tire, eine westtürkische Stadt eineinhalb Stunden von Izmir entfernt. Yusuf fährt die ganze Nacht, und als er in der Morgendämmerung durch ein Dorf kommt, verweist ihn die Stimme eines Muezzins auf die Distanz, die er zurückgelegt hat. Es ist die Distanz seines ganzen Lebens, und zwar durchaus in jenem Sinn, der eine zurückgelegte Strecke mit einem Verlust an Unmittelbarkeit zusammendenkt.
Diese Distanz, die eine der Lektüre des Raums in der Zeit und umgekehrt ist, hat Semih Kaplanoglu danach noch in zwei weiteren Filmen durchmessen, in deren Mittelpunkt Yusuf als junger Mann und schließlich als kleiner Junge steht: In "Süt" ("Milch", 2008) sehen wir ihn bei ersten dichterischen Versuchen und bei Bemühungen, seine Mutter beim Erhalt der vaterlosen Kleinstfamilie zu unterstützen; in "Bal" ("Honig", 2010) erfahren wir, was es mit dem Tod seines Vaters auf sich hatte, und aus welchem Reichtum des Sinnlichen der spätere Dichter Yusuf heranwuchs.
Der Bewegung zurück an den Ursprung entspricht eine Bewegung in den Osten - im dritten Film, der in der inneren Chronologie der erste ist, sind wir weit im türkischen Nordosten, am Anfang des ersten sind wir in Istanbul.
Der große Erfolg, den "Bal" nicht nur beim deutschen Publikum hatte, bringt es mit sich, dass die beiden zugehörigen Filme nun der DVD-Edition hinzugefügt wurden, so dass man nun von einer "Yusuf-Trilogie" spricht, die hier mit ausführlichen "Making of"-Dokumentationen ergänzt wurde. Ebenso gut könnte man von einer "Türkei-Trilogie" sprechen, denn ganz eindeutig steht das individuelle Geschick hier in einem Verhältnis besonderer Repräsentanz zu dem des ganzen Landes. Deutlich legt Semih Kaplanoglu nämlich die Zeichen aus, die auf das historiographische Maß zielen. In "Süt" (Milch) nimmt der jugendliche Yusuf an einer Stelle in einer Buchhandlung in Izmir ein Buch von Braudel aus dem Regal und blättert eine Weile darin herum.
Die beiläufige Szene verweist in das Zentrum nicht nur dieses einen Films. Die Trilogie in ihrer konzeptuellen Verschränktheit bei gleichzeitiger narrativer Offenheit lässt sich wie eine Veranschaulichung von Braudels Konzept einer "langen Dauer" denken, deren Details in der biographischen (romanhaften) Erzähllinie eine Struktur finden. Dass Kaplanoglu diese Linie gegen den Zeitpfeil zieht, macht seine Trilogie auch noch zu einem "archäologischen" Vorhaben - er trägt Schichten ab, doch das "ab ovo" steht am Gegenwartsende.
In "Süt" betreiben Yusuf und seine Mutter Zehra eine Landwirtschaft "ein bisschen außerhalb der Stadt". Es lohnt sich, ein wenig darauf zu achten, wie sorgfältig und ausgeklügelt Kaplanoglu durch Bildkomposition hier ein eigenes Spiel mit Ereignis und Dauer spielt. Zu Beginn des Films sind die Kadragen so gewählt, dass die Landwirtschaft und das Haus von Yusuf und Zehra für sich zu stehen scheinen - ein typischer Subsistenzbetrieb, von dem aus Mutter und Sohn zu noch nachtschlafener Zeit im Beiwagenmotorrad in die Stadt fahren, um dort auf dem Markt Frisch- und Salzkäse und auch Sahne zu verkaufen. Dieser ursprünglichen Produktion von Gütern stehen die Dinge entgegen, die Yusuf in den Haushalt einbringt: "Hefte, Stifte, Zeitschriften, Bücher", beklagt sich seine Mutter, sind alles, was er kauft. Zunehmend öffnet Kaplanoglu von hier aus den Blick auf die Welt, in der "Süt" spielt: De facto stehen die Neubauten schon direkt vor der Tür.
Das eröffnet einerseits potentielle Märkte für die Milch (Yusuf geht von Tür zur Tür und findet guten Absatz für seine Produkte), andererseits sind die Wohnbauten auch ein Zeichen für jene Rationalität der Moderne, die zwangsweise dazu führen wird, dass die (hygienischer verpackte und irgendwann auch billigere) Milch aus dem Supermarkt das Auskommen von Zehra und Yusuf gefährden wird.
Kaplanoglu macht also durch Erweiterung des Bildfelds deutlich, was sich historisch ereignet und was die lange Dauer, der das gemeinsame Leben von Mutter und Sohn entstammt, ablösen wird: ein System von Effizienz, in dem Menschen in Wohneinheiten leben werden, und in dem der "Milchmann" verschwunden sein wird (in "Yumurta" taucht gleichwohl noch einmal einer auf).
Die vielleicht eindringlichste Szene ist dabei die mit einem Freund, der auch Gedichte schreibt, sein Geld aber in einem Bergwerk verdient, dessen Bildwelt in "Süt" die grundlegenden Umwälzungen vertritt, auf denen Modernisierung und Industrialisierung beruhen. Die beiden Dichter bilden hier so etwas wie eine konspirative Zelle; sie verbindet eine Zärtlichkeit, die hier vollkommen fehl am Platz ist und gerade deswegen eine Sprengkraft hat, die auf den Status von Kaplanoglus Trilogie zurückverweist. Der Fortschritt des Gemeinwesens wird hier durch Individualität verkompliziert, die Ereignisgeschichte bekommt ein widerständiges Moment.
Dazu tragen nicht zuletzt jene Szenen bei, die näher am Traum als an der Realitätsdarstellung sind, vor allem der Prolog, der auf magische Praktiken verweist und zugleich einen filmhistorischen Hinweis darauf enthält, wie Kaplanoglu sich das Verhältnis von Ereignis und Dauer denkt.
Die Glasflasche, die in dieser ersten Szene von "Süt" so auffällig mitten im Bild steht, ist eine überdeutliche Anspielung auf die berühmten Filmästhetikdebatten über die Tiefenschärfe, wie sie im Nachkriegskino geführt wurden. Das Verhältnis von Dauer und Ereignis ist dem Filmbild schon eingeschrieben, allerdings nur dort, wo es eine Spannung von Vordergrund und Hintergrund hat, wo also sich aus einer Welt der Beständigkeit oder der Dauer heraus etwas ereignen kann.
In der Trilogie von Kaplanoglu werden diese Zusammenhänge in mehrfacher Hinsicht ausdifferenziert: Nicht nur wird, wie schon erwähnt, die Entwicklungslinie (geschichtstheoretisch: die Teleologie) umgekehrt, die Figur des Dichters Yusuf verweist auch auf eine krisenhafte Medialität aller Entwicklungsprozesse.
Mit einem Dichter lässt sich gerade kein Nationalepos schreiben, wohl aber ein dichtes Protokoll von Prozessen, in deren Spiegel sich die Herausbildung der modernen Türkei bricht wie das tägliche Leben in den Träumen und Filmen, die so viel mehr wissen als unser waches Selbst.
BERT REBHANDL
Semih Kaplanoglu:
"Bal - Honig"
Piffl Medien. 3 DVDs Special Edition "Yusuf-Trilogie". 298 Min., türkisch, deutsch, UT. Extras: "Yumurta - Ei" und "Süt - Milch". Making Of, Booklet.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Semih Kaplanoglus "Yusuf"-Filmtrilogie eröffnet einen magischen Blick auf individuelle wie soziale Geschichte
In einer Buchhandlung in Istanbul beginnt eines der großen Erzählprojekte des neueren Weltkinos. Yusuf, der Besitzer, hat eigentlich schon Feierabend gemacht, dabei aber vergessen, die Tür abzuschließen. Er legt eine Schallplatte auf, zieht sich die Socken aus, gießt Tee ein und raucht eine Zigarette.
Da betritt eine schöne Frau das Geschäft und fragt nach einem Buch, das sie verschenken könnte. Sie nimmt schließlich ein vegetarisches Kochbuch aus dem Regal und bezahlt mit der Flasche Wein, die sie bei sich hatte. Für eine urbane Liebesgeschichte ist das ein klassischer Beginn, der alle Möglichkeiten in sich trägt. Doch Semih Kaplanoglu hatte 2007, als er seinen Film "Yumurta" ("Ei") so anfangen ließ, etwas ganz anderes vor.
Und so macht sich Yusuf, der in dieser Szene nämlich auch noch einen Anruf mit einer wichtigen Nachricht erhalten hat, gleich danach auf den Weg nach Hause. Er fährt von Istanbul nach Tire, eine westtürkische Stadt eineinhalb Stunden von Izmir entfernt. Yusuf fährt die ganze Nacht, und als er in der Morgendämmerung durch ein Dorf kommt, verweist ihn die Stimme eines Muezzins auf die Distanz, die er zurückgelegt hat. Es ist die Distanz seines ganzen Lebens, und zwar durchaus in jenem Sinn, der eine zurückgelegte Strecke mit einem Verlust an Unmittelbarkeit zusammendenkt.
Diese Distanz, die eine der Lektüre des Raums in der Zeit und umgekehrt ist, hat Semih Kaplanoglu danach noch in zwei weiteren Filmen durchmessen, in deren Mittelpunkt Yusuf als junger Mann und schließlich als kleiner Junge steht: In "Süt" ("Milch", 2008) sehen wir ihn bei ersten dichterischen Versuchen und bei Bemühungen, seine Mutter beim Erhalt der vaterlosen Kleinstfamilie zu unterstützen; in "Bal" ("Honig", 2010) erfahren wir, was es mit dem Tod seines Vaters auf sich hatte, und aus welchem Reichtum des Sinnlichen der spätere Dichter Yusuf heranwuchs.
Der Bewegung zurück an den Ursprung entspricht eine Bewegung in den Osten - im dritten Film, der in der inneren Chronologie der erste ist, sind wir weit im türkischen Nordosten, am Anfang des ersten sind wir in Istanbul.
Der große Erfolg, den "Bal" nicht nur beim deutschen Publikum hatte, bringt es mit sich, dass die beiden zugehörigen Filme nun der DVD-Edition hinzugefügt wurden, so dass man nun von einer "Yusuf-Trilogie" spricht, die hier mit ausführlichen "Making of"-Dokumentationen ergänzt wurde. Ebenso gut könnte man von einer "Türkei-Trilogie" sprechen, denn ganz eindeutig steht das individuelle Geschick hier in einem Verhältnis besonderer Repräsentanz zu dem des ganzen Landes. Deutlich legt Semih Kaplanoglu nämlich die Zeichen aus, die auf das historiographische Maß zielen. In "Süt" (Milch) nimmt der jugendliche Yusuf an einer Stelle in einer Buchhandlung in Izmir ein Buch von Braudel aus dem Regal und blättert eine Weile darin herum.
Die beiläufige Szene verweist in das Zentrum nicht nur dieses einen Films. Die Trilogie in ihrer konzeptuellen Verschränktheit bei gleichzeitiger narrativer Offenheit lässt sich wie eine Veranschaulichung von Braudels Konzept einer "langen Dauer" denken, deren Details in der biographischen (romanhaften) Erzähllinie eine Struktur finden. Dass Kaplanoglu diese Linie gegen den Zeitpfeil zieht, macht seine Trilogie auch noch zu einem "archäologischen" Vorhaben - er trägt Schichten ab, doch das "ab ovo" steht am Gegenwartsende.
In "Süt" betreiben Yusuf und seine Mutter Zehra eine Landwirtschaft "ein bisschen außerhalb der Stadt". Es lohnt sich, ein wenig darauf zu achten, wie sorgfältig und ausgeklügelt Kaplanoglu durch Bildkomposition hier ein eigenes Spiel mit Ereignis und Dauer spielt. Zu Beginn des Films sind die Kadragen so gewählt, dass die Landwirtschaft und das Haus von Yusuf und Zehra für sich zu stehen scheinen - ein typischer Subsistenzbetrieb, von dem aus Mutter und Sohn zu noch nachtschlafener Zeit im Beiwagenmotorrad in die Stadt fahren, um dort auf dem Markt Frisch- und Salzkäse und auch Sahne zu verkaufen. Dieser ursprünglichen Produktion von Gütern stehen die Dinge entgegen, die Yusuf in den Haushalt einbringt: "Hefte, Stifte, Zeitschriften, Bücher", beklagt sich seine Mutter, sind alles, was er kauft. Zunehmend öffnet Kaplanoglu von hier aus den Blick auf die Welt, in der "Süt" spielt: De facto stehen die Neubauten schon direkt vor der Tür.
Das eröffnet einerseits potentielle Märkte für die Milch (Yusuf geht von Tür zur Tür und findet guten Absatz für seine Produkte), andererseits sind die Wohnbauten auch ein Zeichen für jene Rationalität der Moderne, die zwangsweise dazu führen wird, dass die (hygienischer verpackte und irgendwann auch billigere) Milch aus dem Supermarkt das Auskommen von Zehra und Yusuf gefährden wird.
Kaplanoglu macht also durch Erweiterung des Bildfelds deutlich, was sich historisch ereignet und was die lange Dauer, der das gemeinsame Leben von Mutter und Sohn entstammt, ablösen wird: ein System von Effizienz, in dem Menschen in Wohneinheiten leben werden, und in dem der "Milchmann" verschwunden sein wird (in "Yumurta" taucht gleichwohl noch einmal einer auf).
Die vielleicht eindringlichste Szene ist dabei die mit einem Freund, der auch Gedichte schreibt, sein Geld aber in einem Bergwerk verdient, dessen Bildwelt in "Süt" die grundlegenden Umwälzungen vertritt, auf denen Modernisierung und Industrialisierung beruhen. Die beiden Dichter bilden hier so etwas wie eine konspirative Zelle; sie verbindet eine Zärtlichkeit, die hier vollkommen fehl am Platz ist und gerade deswegen eine Sprengkraft hat, die auf den Status von Kaplanoglus Trilogie zurückverweist. Der Fortschritt des Gemeinwesens wird hier durch Individualität verkompliziert, die Ereignisgeschichte bekommt ein widerständiges Moment.
Dazu tragen nicht zuletzt jene Szenen bei, die näher am Traum als an der Realitätsdarstellung sind, vor allem der Prolog, der auf magische Praktiken verweist und zugleich einen filmhistorischen Hinweis darauf enthält, wie Kaplanoglu sich das Verhältnis von Ereignis und Dauer denkt.
Die Glasflasche, die in dieser ersten Szene von "Süt" so auffällig mitten im Bild steht, ist eine überdeutliche Anspielung auf die berühmten Filmästhetikdebatten über die Tiefenschärfe, wie sie im Nachkriegskino geführt wurden. Das Verhältnis von Dauer und Ereignis ist dem Filmbild schon eingeschrieben, allerdings nur dort, wo es eine Spannung von Vordergrund und Hintergrund hat, wo also sich aus einer Welt der Beständigkeit oder der Dauer heraus etwas ereignen kann.
In der Trilogie von Kaplanoglu werden diese Zusammenhänge in mehrfacher Hinsicht ausdifferenziert: Nicht nur wird, wie schon erwähnt, die Entwicklungslinie (geschichtstheoretisch: die Teleologie) umgekehrt, die Figur des Dichters Yusuf verweist auch auf eine krisenhafte Medialität aller Entwicklungsprozesse.
Mit einem Dichter lässt sich gerade kein Nationalepos schreiben, wohl aber ein dichtes Protokoll von Prozessen, in deren Spiegel sich die Herausbildung der modernen Türkei bricht wie das tägliche Leben in den Träumen und Filmen, die so viel mehr wissen als unser waches Selbst.
BERT REBHANDL
Semih Kaplanoglu:
"Bal - Honig"
Piffl Medien. 3 DVDs Special Edition "Yusuf-Trilogie". 298 Min., türkisch, deutsch, UT. Extras: "Yumurta - Ei" und "Süt - Milch". Making Of, Booklet.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main