Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2014Die geheimnisvollste Pianistin der Welt
Legendär gut, legendär schön, legendär öffentlichkeitsscheu: Martha Argerich, jetzt auch im Kino
Martha Argerich ist keine Musikerin, die dem Verklingen des letzten Tones lange nachspürt. Sie drückt die letzte Taste - und steht auch schon auf, wobei dieses kleine silbrige Lächeln ihre Mundwinkel umspielt, das sie unvermutet wie ein scheues Mädchen aussehen lässt. Ihre Art, Klavier zu spielen, vergleicht sie selbst mit einer Handschrift, die sich ein wenig nach rechts neigt - und irgendwie trifft das wohl für ihr ganzes Wesen zu: egal, wie sehr man versuchen mag, sie zu erfassen, sie ist immer schon weiter, uneinholbar, Richtung nach vorne entwischt.
Die jüngste ihrer drei Töchter - Stéphanie, 1975 geboren - hat über viele Jahre versucht, der Faszination, die von ihrer Mutter ausgeht, mit einer Kamera auf den Grund zu gehen. Begonnen hat sie dieses Projekt bereits mit elf Jahren, als ihre Mutter ihr von einer Konzertreise nach Japan eine kleine Videokamera mitbrachte. "Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass daraus eines Tages ein Film werden würde", sagt Stéphanie Argerich am Telefon aus Biarritz, wo sie diese Woche in einer Filmjury saß, "aber sie war wie ein Magnet für meine Kamera: Ich wollte sie immerzu filmen, ihre Haare, ihr Gesicht . . ." Schließlich wurde ein Dokumentarfilm daraus, den jeder, der ihn kurz vor Weihnachten auf Arte verpasst hat, sich ab Donnerstag im Kino anschauen kann - oder auf DVD -, was ich wirklich nur empfehlen kann, weil es so ein großes Vergnügen ist: "Bloody Daughter" ist ein sehr persönlicher, nein, intimer Blick auf Martha Argerich, nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Mutter und Frau. Es ist zugleich das Porträt einer Familie, die aus lauter tollen Frauen besteht. Und eine Suche nach sich selbst, und das sind ja immer die spannendsten Suchen, weil sich dabei so viel anderes finden lässt.
Natürlich sieht man Argerich oft am Klavier, was neben abenteuerlichen Studien über Lampenfieber für einen sensationell schönen Soundtrack sorgt - doch selbst wenn sie nicht die legendäre Pianistin wäre, die sie ist, sondern einfach nur irgendjemand mit ihrer Persönlichkeit, ergäbe es einen sehenswerten Film. Es gibt vermutlich nicht viele Menschen, die über eine solch immense innere Freiheit verfügen wie sie, so hundertprozentig sie selbst sind - ohne Rücksicht.
Argerich hat drei Töchter von drei Männern, lebte meistens in WG-ähnlichen Zuständen mit vielen Freunden und bis zu 18 Katzen, nahm ihre Töchter lieber auf Tourneen mit, anstatt sie in die Schule zu schicken. Ihre Erstgeborene gab sie nach der Geburt in ein Pflegeheim, um sich in Ruhe auf einen Wettbewerb vorzubereiten. Etwas später wurde das Baby von Argerichs Mutter zurück-gekidnapped, woraufhin Argerich das Sorgerecht verlor. Diese Tochter, Lyda, mit deren chinesischem Vater Argerich nur kurz liiert war, wenn überhaupt, und die in Pflegefamilien aufwuchs, rührt einen im Film fast zu Tränen mit der scheuen Bewunderung, die sie für ihre Mutter hat und die ohne den geringsten Vorwurf ist. Auch der Blick der beiden anderen Töchter auf ihre Mutter ist unendlich zärtlich. Lachend erinnern sie sich daran, wie sie nur gegen ihre Mutter rebellieren konnten, indem sie in die Schule gingen.
"Natürlich gab es Zeiten, in denen ich wütend auf meine Mutter war", sagt Stéphanie Argerich. "Wir geraten nach wie vor manchmal aneinander, nicht schlimm, aber es ist kein Spaziergang mit ihr. Es ist kompliziert, und dennoch kenne ich niemanden, der ihr böse ist. Sie ist ein guter Mensch. Auch wenn sie Sachen vermasselt hat, sie hat es nie mit Absicht getan. Es ist ihr eher so passiert. Sie hat es nicht einmal entschieden." Als Kind kam es ihr vor, als sei sie, die Tochter, in Wahrheit die Größere von ihnen beiden, als müsse sie ihre berühmte Mutter beschützen. "Werde ich dieses Konzert gut spielen? Sehe ich okay aus? Diese Art Bestätigung brauchte sie. Wie ein kleines Mädchen. Und dann siehst du dieses Biest da auf der Bühne - und denkst, hm, okay. Du bist vollkommen erschöpft, weil sie all deine Energie und Aufmerksamkeit genommen hat, und dann sitzt sie da am Flügel, stark, präsent, und bringt den Saal zum Einstürzen. Es ist dieser Sprung von einem Extrem zum anderen, der für diejenigen um sie herum manchmal nicht leicht ist."
Auch Stéphanies Vater kommt im Film vor, der Pianist Stephen Kovacevic. Seine Tochter zeigt ihn als schwachen Mann, der feste Bindungen scheut und sich in Humor flüchtet, sobald etwas ernst wird. Und als großen Künstler und gutmütigen Charakter. Der drei große Lieben hat: Beethoven, Frauen und Tarama. Es ist dieser liebevolle, mild ironische Blick auf Menschen, der "Bloody Daughter" darüber hinaushebt, eine Dokumentation über die private Martha Argerich zu sein. Es ist ein Film über eine ungewöhnliche Familie. In dem schillernde Figuren auftauchen wie Großmutter Juanita Argerich aus Argentinien, die niemals ihre Sonnenbrille abnahm, weil ihr die Form ihrer Augen missfiel. Und in deren unmissverständlichem Mittelpunkt eben Martha Argerich steht, diese legendäre Pianistin und einzigartige Frau, die immer wirkt, als wolle sie sich und alles, was sie sagt, sogleich in Luft auflösen, als schwebe sie, sei nicht wirklich auf dieser Welt. Die schon auf dem Sprung ist, während der letzte Ton verhallt. Und deren Tochter ihr Geheimnis letztlich nicht zu erklären vermag. "Es ist immer etwas an ihr, das einem entwischt. Das nicht zu fassen ist. Auch wenn man sie im Film im Pyjama sieht, sie bleibt doch ein Rätsel, nicht wahr? Auch für sie selbst, glaube ich."
JOHANNA ADORJÁN
"Bloody Daughter": ab Donnerstag im Kino
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Legendär gut, legendär schön, legendär öffentlichkeitsscheu: Martha Argerich, jetzt auch im Kino
Martha Argerich ist keine Musikerin, die dem Verklingen des letzten Tones lange nachspürt. Sie drückt die letzte Taste - und steht auch schon auf, wobei dieses kleine silbrige Lächeln ihre Mundwinkel umspielt, das sie unvermutet wie ein scheues Mädchen aussehen lässt. Ihre Art, Klavier zu spielen, vergleicht sie selbst mit einer Handschrift, die sich ein wenig nach rechts neigt - und irgendwie trifft das wohl für ihr ganzes Wesen zu: egal, wie sehr man versuchen mag, sie zu erfassen, sie ist immer schon weiter, uneinholbar, Richtung nach vorne entwischt.
Die jüngste ihrer drei Töchter - Stéphanie, 1975 geboren - hat über viele Jahre versucht, der Faszination, die von ihrer Mutter ausgeht, mit einer Kamera auf den Grund zu gehen. Begonnen hat sie dieses Projekt bereits mit elf Jahren, als ihre Mutter ihr von einer Konzertreise nach Japan eine kleine Videokamera mitbrachte. "Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass daraus eines Tages ein Film werden würde", sagt Stéphanie Argerich am Telefon aus Biarritz, wo sie diese Woche in einer Filmjury saß, "aber sie war wie ein Magnet für meine Kamera: Ich wollte sie immerzu filmen, ihre Haare, ihr Gesicht . . ." Schließlich wurde ein Dokumentarfilm daraus, den jeder, der ihn kurz vor Weihnachten auf Arte verpasst hat, sich ab Donnerstag im Kino anschauen kann - oder auf DVD -, was ich wirklich nur empfehlen kann, weil es so ein großes Vergnügen ist: "Bloody Daughter" ist ein sehr persönlicher, nein, intimer Blick auf Martha Argerich, nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Mutter und Frau. Es ist zugleich das Porträt einer Familie, die aus lauter tollen Frauen besteht. Und eine Suche nach sich selbst, und das sind ja immer die spannendsten Suchen, weil sich dabei so viel anderes finden lässt.
Natürlich sieht man Argerich oft am Klavier, was neben abenteuerlichen Studien über Lampenfieber für einen sensationell schönen Soundtrack sorgt - doch selbst wenn sie nicht die legendäre Pianistin wäre, die sie ist, sondern einfach nur irgendjemand mit ihrer Persönlichkeit, ergäbe es einen sehenswerten Film. Es gibt vermutlich nicht viele Menschen, die über eine solch immense innere Freiheit verfügen wie sie, so hundertprozentig sie selbst sind - ohne Rücksicht.
Argerich hat drei Töchter von drei Männern, lebte meistens in WG-ähnlichen Zuständen mit vielen Freunden und bis zu 18 Katzen, nahm ihre Töchter lieber auf Tourneen mit, anstatt sie in die Schule zu schicken. Ihre Erstgeborene gab sie nach der Geburt in ein Pflegeheim, um sich in Ruhe auf einen Wettbewerb vorzubereiten. Etwas später wurde das Baby von Argerichs Mutter zurück-gekidnapped, woraufhin Argerich das Sorgerecht verlor. Diese Tochter, Lyda, mit deren chinesischem Vater Argerich nur kurz liiert war, wenn überhaupt, und die in Pflegefamilien aufwuchs, rührt einen im Film fast zu Tränen mit der scheuen Bewunderung, die sie für ihre Mutter hat und die ohne den geringsten Vorwurf ist. Auch der Blick der beiden anderen Töchter auf ihre Mutter ist unendlich zärtlich. Lachend erinnern sie sich daran, wie sie nur gegen ihre Mutter rebellieren konnten, indem sie in die Schule gingen.
"Natürlich gab es Zeiten, in denen ich wütend auf meine Mutter war", sagt Stéphanie Argerich. "Wir geraten nach wie vor manchmal aneinander, nicht schlimm, aber es ist kein Spaziergang mit ihr. Es ist kompliziert, und dennoch kenne ich niemanden, der ihr böse ist. Sie ist ein guter Mensch. Auch wenn sie Sachen vermasselt hat, sie hat es nie mit Absicht getan. Es ist ihr eher so passiert. Sie hat es nicht einmal entschieden." Als Kind kam es ihr vor, als sei sie, die Tochter, in Wahrheit die Größere von ihnen beiden, als müsse sie ihre berühmte Mutter beschützen. "Werde ich dieses Konzert gut spielen? Sehe ich okay aus? Diese Art Bestätigung brauchte sie. Wie ein kleines Mädchen. Und dann siehst du dieses Biest da auf der Bühne - und denkst, hm, okay. Du bist vollkommen erschöpft, weil sie all deine Energie und Aufmerksamkeit genommen hat, und dann sitzt sie da am Flügel, stark, präsent, und bringt den Saal zum Einstürzen. Es ist dieser Sprung von einem Extrem zum anderen, der für diejenigen um sie herum manchmal nicht leicht ist."
Auch Stéphanies Vater kommt im Film vor, der Pianist Stephen Kovacevic. Seine Tochter zeigt ihn als schwachen Mann, der feste Bindungen scheut und sich in Humor flüchtet, sobald etwas ernst wird. Und als großen Künstler und gutmütigen Charakter. Der drei große Lieben hat: Beethoven, Frauen und Tarama. Es ist dieser liebevolle, mild ironische Blick auf Menschen, der "Bloody Daughter" darüber hinaushebt, eine Dokumentation über die private Martha Argerich zu sein. Es ist ein Film über eine ungewöhnliche Familie. In dem schillernde Figuren auftauchen wie Großmutter Juanita Argerich aus Argentinien, die niemals ihre Sonnenbrille abnahm, weil ihr die Form ihrer Augen missfiel. Und in deren unmissverständlichem Mittelpunkt eben Martha Argerich steht, diese legendäre Pianistin und einzigartige Frau, die immer wirkt, als wolle sie sich und alles, was sie sagt, sogleich in Luft auflösen, als schwebe sie, sei nicht wirklich auf dieser Welt. Die schon auf dem Sprung ist, während der letzte Ton verhallt. Und deren Tochter ihr Geheimnis letztlich nicht zu erklären vermag. "Es ist immer etwas an ihr, das einem entwischt. Das nicht zu fassen ist. Auch wenn man sie im Film im Pyjama sieht, sie bleibt doch ein Rätsel, nicht wahr? Auch für sie selbst, glaube ich."
JOHANNA ADORJÁN
"Bloody Daughter": ab Donnerstag im Kino
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main