BORN TO BE BLUE erzählt von einem Wendepunkt im Leben des legendären Jazz-Trompeters Chet Baker (Ethan Hawke). Nach einem kometenhaften Aufstieg in den 1950er Jahren, gefeiert als der "James Dean of Jazz" und "King of Cool", war Baker schon zehn Jahre später am Ende. Zerrissen von seinen inneren Dämonen und den Exzessen des Musikerlebens, begegnet er einer Frau (Carmen Ejogo), mit der wieder alles möglich scheint. Angefeuert von seiner neuen Leidenschaft und ihrem bedingungslosen Glauben an ihn, kämpft sich Baker wieder zurück und erschafft so einige der unvergesslichsten Aufnahmen seiner Karriere.
Bonusmaterial
Trailer interviewsFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2017Heroin und Kommunismus
Chet Bakers Biographie ohne biographische Vollständigkeitswut, eine Familiengeschichte, die sagt, dass Drogen schlecht sind und Schnellfahren Spaß macht, und ein Bürgerkind, das Revolutionen beschwört, um Frauen zu kriegen
Was haben Film und Jazz gemeinsam? Beide leben von einer Illusion. Der Illusion von Leichtigkeit, der Illusion von Echtheit. Der Illusion zum Beispiel, dass der lässig tänzelnde, sehnsüchtige, suchende Ton von Chet Bakers Trompete ganz locker nebenbei entstünde. Cool eben. Cool Jazz. Oder dass sein brüchiger, dünner und gerade in dieser Schutzlosigkeit so berührender Gesang die Wahrheit sänge über seine Seele.
"Born to Be Blue" von Robert Budreau, der einen kurzen Abschnitt Mitte der sechziger Jahre im Leben von Chet Baker erzählt, zerstört beide Illusionen. Und ist genau deshalb großartig. Das größte Risiko jedes Biopics ist ja die biographische Vollständigkeitswut. Sobald ein Film nicht mehr der eigenen fiktionalen Logik folgt, sondern stattdessen chronologischen Fakten hinterherrennt, wird es nervig. "Born to Be Blue" entgeht dem, indem er die Fakten auf sehr vielen Ebenen bricht und neu zusammensetzt.
Das fängt damit an, dass der Film ganz früh zum Film-im-Film wird. "Born to Be Blue" beginnt 1966 in einem italienischen Gefängnis, wo Baker wegen Drogen einsitzt. Er war fast sein ganzes Leben lang heroinsüchtig. Da kommt der Produzent Dino de Laurentiis zu Besuch, der mit Chet Baker einen Film über Chet Baker drehen will. Der Film ist in Wirklichkeit nie über die Planungsphase hinausgekommen, aber hier bei Budreau eben doch. Und so sind die ersten zwei Minuten von "Born to Be Blue" also noch nicht ganz vorbei, da werden die Bilder schwarzweiß, und die Erzählung springt ins Jahr 1954 nach New York City, ins berühmte "Birdland". Es ist Chets erster Auftritt dort, Dizzy Gillespie ist da, und auch Miles Davis, das große Vorbild, der ewige Konkurrent.
Wieder ein Sprung: "Und dabei sind deine Texte so romantisch!", sagt Jane (Carmen Ejogo) zu Chet (Ethan Hawke). Sie sitzen nebeneinander auf einer Bowlingbahn. Erstes Date. Wie sehr er sie dazu überreden musste! "Ich versteh' wirklich nicht, was all diese Frauen an dir fanden", hat sie vorher zu ihm gesagt. Jetzt aber sitzen sie da, und er will sie mit Erzählungen von seinen sexuellen Höchstleistungen beeindrucken: sieben Mal an einem Tag! Dann spricht sie von seinen romantischen Texten: "Aber ich schätze, die schreibst du gar nicht selbst?" Er schweigt. Nein, schreibt er natürlich nicht.
Er muss die Texte ja auch nicht selbst schreiben, damit sie echt sind. Es gibt ja auch im ganzen Film nichts von Bakers "echter" Musik zu hören. Es ist Hauptdarsteller Ethan Hawke, der singt, und ein Profimusiker (Kevin Turcotte) hat die Trompete eingespielt. Die Szene ist genau deshalb so wichtig. Nicht nur, weil sie Chets Persönlichkeit zeigt, seine Verführungskünste und seine Widersprüchlichkeit. Und die Frau, die so wichtig für ihn wird. Sondern vor allem, weil Janes Desillusionierung eben genau auf diese Stärke von "Born to Be Blue" anspielt. Die Enttäuschung als Stilmittel eines Films, der gerade deshalb kein bisschen enttäuscht.
Die Desillusionierung als Leitmotiv eines musikalischen Biopics, das Film und Musik so miteinander verwebt, dass sie zusammen einen neuen Sinn ergeben. Wie bei der Improvisation, wie bei einer Begegnung, wie immer dann, wenn das entsteht, was man Atmosphäre nennen kann oder Stimmung, Unerklärliches, Geheimnis. So erzählt "Born to Be Blue" eine Geschichte von Kunst, Begabung und Zerstörung, von Abhängigkeit und Liebe und dem Kampf zwischen ihnen allen. Eine alte Geschichte, eigentlich. Aber so, wie sie hier gespielt wird, klingt sie ganz neu.
* * *
Was haben Film und Autorennen gemeinsam? Im Fall von "Giulias großes Rennen" von Matteo Rovere: Beide sind schnell und verführerisch, beide sind ein Spektakel, das erst mal nicht unendlich originell scheint, einen dann aber doch packt. Denn tatsächlich sieht man noch Tage nach diesem Film die Autos auf der Straße anders an, nimmt ihre Kurventechnik und Bremsbewegungen unter taktischen Gesichtspunkten wahr. Die beiden Hauptfiguren dieses Films gucken bei den Rennen aber nicht nur zu, sie fahren sie selbst. Beziehungsweise fuhren, im Fall von Loris De Martino (Stefano Accorsi). Bevor er drogenabhängig wurde (noch ein Heroinsüchtiger!), galt er in seiner Heimat in der Emilia-Romagna als großes Talent. Weil er so elegante Kurven fuhr, nannten sie ihn "ballerino". Er ist der Bruder von Giulia De Martino (Matilda De Angelis), die mit siebzehn Jahren auch schon wichtige Rennen fährt. Gesehen haben sich die beiden seit Jahren nicht. Erst, als der gemeinsame Vater stirbt, kommt Loris zurück. Das ist der Startpunkt des Films. Giulia will keinen Junkie im Haus. Sie muss aber ein großes Rennen gewinnen, um durch die Schulden ihres Vaters nicht das Haus zu verlieren. Also nimmt sie die Hilfe ihres großen Bruders an.
Auch in diesem Film ist es ein Heroinsüchtiger, der mit seiner Kraft und Zerstörungswut die Handlung trägt. Es ist eine Spezialität italienischer Filme, dass sie das Rauhe, Erschreckende mit konventionellen Komödienelementen kombinieren können, als sei es das Natürlichste überhaupt, dass auf eine Szene in einem Junkiehaus wieder ein familienverträglicher Ton folgt. Es ist das, was den Blick darauf von außen so interessant macht. Es führt aber auch dazu, dass die meisten dieser Filme vor allem wie kulturelle Repräsentationen Italiens wirken. Wenn man es liebt, dann genießt man all das: das viele Fluchen, das ständige Lautwerden, dieses selbstverständliche Hin und Her zwischen Wut und freudigem Überschwang.
Die Geschichte der Familie De Martino ist eine gute Geschichte (mit einem realen Vorbild). Dass sie vor allem darauf hinausläuft, dass die Familie wichtig ist und möglichst zusammenhalten sollte, dass Heroin gefährlich ist und Schnellfahren Spaß macht, ist nicht schlimm. Ist ja auch alles wahr. Ist aber nicht genug, um den italienischen Film wieder zu etwas zu machen, das von einer Gegenwart erzählt, die überall gilt.
* * *
Was haben Film und Kommunismus gemeinsam? Beide sind bloß eine Illusion, würde Julian, die Hauptfigur aus "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" von Julian Radlmaier, wahrscheinlich sagen. Im Moment nicht viel, würde Julian Radlmaier selbst wahrscheinlich sagen. Dass Revolutionen in Filmen meistens mit Desillusionierung endeten, sagt er, war der Auslöser für "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes", seinen Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. "Die These des Films ist, dass dies etwas mit den Klasseninteressen ihrer Autoren zu tun hat. Also vielleicht auch mit meinen eigenen", sagt Radlmaier.
Und deshalb spielt er die Hauptfigur gleich selbst. Diesen Julian, der sich den Zuschauern zu Beginn des Films als Hund vorstellt, als Windhund. Und der dann erzählt, wie er dazu geworden ist. Vorher nämlich war er (das erzählt nicht seine Stimme, das erzählen die Bilder) ein hübscher rothaariger Hipsterjunge, mit der richtigen kurzen Lockenfrisur und der richtigen runden Brille. Er war Filmemacher, lebte von Hartz IV und hielt sich bevorzugt am Kulturforum am Potsdamer Platz auf, um dort die Kunststudentinnen anzusehen.
Eine von diesen schönen, zwischen den Bildern Umherlaufenden ist die Kanadierin Camille (Deragh Campbell). In unbeholfenem Englisch erzählt er ihr von seinem nächsten Filmprojekt. Ob sie schon mal daran gedacht habe, Schauspielerin zu werden? Nein, hat sie nicht, will sie nicht. Aber als Julian die Saisonarbeit auf der Apfelplantage, die ihm sein Hartz-IV-Berater verordnet, in eine Filmrecherche über aktuelle kapitalistische Produktionsverhältnisse umdeutet, ist sie neugierig und kommt mit.
"Ehrgeizzerfressene Sesselpupser" hatte der Professor sie gerade noch alle genannt. Und jetzt macht einer doch was anderes, als bloß Projekte zu pitchen. Einer von denen, der dieser Generation der Endzwanziger-Anfangdreißiger angehört, deren größtes Problem es zu sein scheint, dass sie "nichts haben, wogegen sie rebellieren können". Schließlich waren es schon ihre Eltern, die Demos organisiert, Atomtransporte blockiert, Pflastersteine geworfen haben. Es ist die Generation, die linke Positionen deshalb selbstverständlich richtig findet, es aber genauso selbstverständlich findet, dass sich davon nichts mehr verwirklichen lässt.
Das gilt natürlich nicht für alle. Aber von denen, die aus dem Westen sind, die im Kunst- und Kulturbereich arbeiten, die mal was erben werden, sind das schon ganz schön viele. Von denen erzählt Radlmaier hier. Das gelingt vor allem, weil er seine Hauptfigur nicht nur selbstironisch, sondern auch wirklich uneitel spielt und zeigt. Gibt es etwas Peinlicheres als einen Möchtegernkommunisten, der in seinem Innern ein hoffnungslos opportunistisches Bürgerkind ist? Der die Revolution beschwört, solange die Frau, die es zu erobern gilt, im Raum ist, und erleichtert einlenkt, wenn sie es nicht mehr hört?
Es ist tatsächlich ein ganz eigener Ton, den der Film dabei trifft: leicht und skurril und lustig. Diese Leichtigkeit ist aber auch ein Problem. So richtig nimmt man dem Film bei der ganzen Ironie nämlich nicht ab, dass er die Ideen wichtig findet, die er ad absurdum führt. Was ja Radlmaiers These von Film und Kommunismus nur bestätigen würde.
Was hat es dann aber zu bedeuten, dass man nach diesem Film unbedingt, wirklich unbedingt sofort in einen Apfel beißen will? Dass die Apfelernte-Szenen die besten des Films waren? Dass Deragh Campbell eine so gute Schauspielerin ist, dass sie auf ansteckende Art in Äpfel beißen kann? Oder ist diese Apfellust etwa doch so etwas wie ein kulinarischer Funke von Revolutionsgeist, den der Film weitergibt?
JULIA DETTKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Chet Bakers Biographie ohne biographische Vollständigkeitswut, eine Familiengeschichte, die sagt, dass Drogen schlecht sind und Schnellfahren Spaß macht, und ein Bürgerkind, das Revolutionen beschwört, um Frauen zu kriegen
Was haben Film und Jazz gemeinsam? Beide leben von einer Illusion. Der Illusion von Leichtigkeit, der Illusion von Echtheit. Der Illusion zum Beispiel, dass der lässig tänzelnde, sehnsüchtige, suchende Ton von Chet Bakers Trompete ganz locker nebenbei entstünde. Cool eben. Cool Jazz. Oder dass sein brüchiger, dünner und gerade in dieser Schutzlosigkeit so berührender Gesang die Wahrheit sänge über seine Seele.
"Born to Be Blue" von Robert Budreau, der einen kurzen Abschnitt Mitte der sechziger Jahre im Leben von Chet Baker erzählt, zerstört beide Illusionen. Und ist genau deshalb großartig. Das größte Risiko jedes Biopics ist ja die biographische Vollständigkeitswut. Sobald ein Film nicht mehr der eigenen fiktionalen Logik folgt, sondern stattdessen chronologischen Fakten hinterherrennt, wird es nervig. "Born to Be Blue" entgeht dem, indem er die Fakten auf sehr vielen Ebenen bricht und neu zusammensetzt.
Das fängt damit an, dass der Film ganz früh zum Film-im-Film wird. "Born to Be Blue" beginnt 1966 in einem italienischen Gefängnis, wo Baker wegen Drogen einsitzt. Er war fast sein ganzes Leben lang heroinsüchtig. Da kommt der Produzent Dino de Laurentiis zu Besuch, der mit Chet Baker einen Film über Chet Baker drehen will. Der Film ist in Wirklichkeit nie über die Planungsphase hinausgekommen, aber hier bei Budreau eben doch. Und so sind die ersten zwei Minuten von "Born to Be Blue" also noch nicht ganz vorbei, da werden die Bilder schwarzweiß, und die Erzählung springt ins Jahr 1954 nach New York City, ins berühmte "Birdland". Es ist Chets erster Auftritt dort, Dizzy Gillespie ist da, und auch Miles Davis, das große Vorbild, der ewige Konkurrent.
Wieder ein Sprung: "Und dabei sind deine Texte so romantisch!", sagt Jane (Carmen Ejogo) zu Chet (Ethan Hawke). Sie sitzen nebeneinander auf einer Bowlingbahn. Erstes Date. Wie sehr er sie dazu überreden musste! "Ich versteh' wirklich nicht, was all diese Frauen an dir fanden", hat sie vorher zu ihm gesagt. Jetzt aber sitzen sie da, und er will sie mit Erzählungen von seinen sexuellen Höchstleistungen beeindrucken: sieben Mal an einem Tag! Dann spricht sie von seinen romantischen Texten: "Aber ich schätze, die schreibst du gar nicht selbst?" Er schweigt. Nein, schreibt er natürlich nicht.
Er muss die Texte ja auch nicht selbst schreiben, damit sie echt sind. Es gibt ja auch im ganzen Film nichts von Bakers "echter" Musik zu hören. Es ist Hauptdarsteller Ethan Hawke, der singt, und ein Profimusiker (Kevin Turcotte) hat die Trompete eingespielt. Die Szene ist genau deshalb so wichtig. Nicht nur, weil sie Chets Persönlichkeit zeigt, seine Verführungskünste und seine Widersprüchlichkeit. Und die Frau, die so wichtig für ihn wird. Sondern vor allem, weil Janes Desillusionierung eben genau auf diese Stärke von "Born to Be Blue" anspielt. Die Enttäuschung als Stilmittel eines Films, der gerade deshalb kein bisschen enttäuscht.
Die Desillusionierung als Leitmotiv eines musikalischen Biopics, das Film und Musik so miteinander verwebt, dass sie zusammen einen neuen Sinn ergeben. Wie bei der Improvisation, wie bei einer Begegnung, wie immer dann, wenn das entsteht, was man Atmosphäre nennen kann oder Stimmung, Unerklärliches, Geheimnis. So erzählt "Born to Be Blue" eine Geschichte von Kunst, Begabung und Zerstörung, von Abhängigkeit und Liebe und dem Kampf zwischen ihnen allen. Eine alte Geschichte, eigentlich. Aber so, wie sie hier gespielt wird, klingt sie ganz neu.
* * *
Was haben Film und Autorennen gemeinsam? Im Fall von "Giulias großes Rennen" von Matteo Rovere: Beide sind schnell und verführerisch, beide sind ein Spektakel, das erst mal nicht unendlich originell scheint, einen dann aber doch packt. Denn tatsächlich sieht man noch Tage nach diesem Film die Autos auf der Straße anders an, nimmt ihre Kurventechnik und Bremsbewegungen unter taktischen Gesichtspunkten wahr. Die beiden Hauptfiguren dieses Films gucken bei den Rennen aber nicht nur zu, sie fahren sie selbst. Beziehungsweise fuhren, im Fall von Loris De Martino (Stefano Accorsi). Bevor er drogenabhängig wurde (noch ein Heroinsüchtiger!), galt er in seiner Heimat in der Emilia-Romagna als großes Talent. Weil er so elegante Kurven fuhr, nannten sie ihn "ballerino". Er ist der Bruder von Giulia De Martino (Matilda De Angelis), die mit siebzehn Jahren auch schon wichtige Rennen fährt. Gesehen haben sich die beiden seit Jahren nicht. Erst, als der gemeinsame Vater stirbt, kommt Loris zurück. Das ist der Startpunkt des Films. Giulia will keinen Junkie im Haus. Sie muss aber ein großes Rennen gewinnen, um durch die Schulden ihres Vaters nicht das Haus zu verlieren. Also nimmt sie die Hilfe ihres großen Bruders an.
Auch in diesem Film ist es ein Heroinsüchtiger, der mit seiner Kraft und Zerstörungswut die Handlung trägt. Es ist eine Spezialität italienischer Filme, dass sie das Rauhe, Erschreckende mit konventionellen Komödienelementen kombinieren können, als sei es das Natürlichste überhaupt, dass auf eine Szene in einem Junkiehaus wieder ein familienverträglicher Ton folgt. Es ist das, was den Blick darauf von außen so interessant macht. Es führt aber auch dazu, dass die meisten dieser Filme vor allem wie kulturelle Repräsentationen Italiens wirken. Wenn man es liebt, dann genießt man all das: das viele Fluchen, das ständige Lautwerden, dieses selbstverständliche Hin und Her zwischen Wut und freudigem Überschwang.
Die Geschichte der Familie De Martino ist eine gute Geschichte (mit einem realen Vorbild). Dass sie vor allem darauf hinausläuft, dass die Familie wichtig ist und möglichst zusammenhalten sollte, dass Heroin gefährlich ist und Schnellfahren Spaß macht, ist nicht schlimm. Ist ja auch alles wahr. Ist aber nicht genug, um den italienischen Film wieder zu etwas zu machen, das von einer Gegenwart erzählt, die überall gilt.
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Was haben Film und Kommunismus gemeinsam? Beide sind bloß eine Illusion, würde Julian, die Hauptfigur aus "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" von Julian Radlmaier, wahrscheinlich sagen. Im Moment nicht viel, würde Julian Radlmaier selbst wahrscheinlich sagen. Dass Revolutionen in Filmen meistens mit Desillusionierung endeten, sagt er, war der Auslöser für "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes", seinen Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. "Die These des Films ist, dass dies etwas mit den Klasseninteressen ihrer Autoren zu tun hat. Also vielleicht auch mit meinen eigenen", sagt Radlmaier.
Und deshalb spielt er die Hauptfigur gleich selbst. Diesen Julian, der sich den Zuschauern zu Beginn des Films als Hund vorstellt, als Windhund. Und der dann erzählt, wie er dazu geworden ist. Vorher nämlich war er (das erzählt nicht seine Stimme, das erzählen die Bilder) ein hübscher rothaariger Hipsterjunge, mit der richtigen kurzen Lockenfrisur und der richtigen runden Brille. Er war Filmemacher, lebte von Hartz IV und hielt sich bevorzugt am Kulturforum am Potsdamer Platz auf, um dort die Kunststudentinnen anzusehen.
Eine von diesen schönen, zwischen den Bildern Umherlaufenden ist die Kanadierin Camille (Deragh Campbell). In unbeholfenem Englisch erzählt er ihr von seinem nächsten Filmprojekt. Ob sie schon mal daran gedacht habe, Schauspielerin zu werden? Nein, hat sie nicht, will sie nicht. Aber als Julian die Saisonarbeit auf der Apfelplantage, die ihm sein Hartz-IV-Berater verordnet, in eine Filmrecherche über aktuelle kapitalistische Produktionsverhältnisse umdeutet, ist sie neugierig und kommt mit.
"Ehrgeizzerfressene Sesselpupser" hatte der Professor sie gerade noch alle genannt. Und jetzt macht einer doch was anderes, als bloß Projekte zu pitchen. Einer von denen, der dieser Generation der Endzwanziger-Anfangdreißiger angehört, deren größtes Problem es zu sein scheint, dass sie "nichts haben, wogegen sie rebellieren können". Schließlich waren es schon ihre Eltern, die Demos organisiert, Atomtransporte blockiert, Pflastersteine geworfen haben. Es ist die Generation, die linke Positionen deshalb selbstverständlich richtig findet, es aber genauso selbstverständlich findet, dass sich davon nichts mehr verwirklichen lässt.
Das gilt natürlich nicht für alle. Aber von denen, die aus dem Westen sind, die im Kunst- und Kulturbereich arbeiten, die mal was erben werden, sind das schon ganz schön viele. Von denen erzählt Radlmaier hier. Das gelingt vor allem, weil er seine Hauptfigur nicht nur selbstironisch, sondern auch wirklich uneitel spielt und zeigt. Gibt es etwas Peinlicheres als einen Möchtegernkommunisten, der in seinem Innern ein hoffnungslos opportunistisches Bürgerkind ist? Der die Revolution beschwört, solange die Frau, die es zu erobern gilt, im Raum ist, und erleichtert einlenkt, wenn sie es nicht mehr hört?
Es ist tatsächlich ein ganz eigener Ton, den der Film dabei trifft: leicht und skurril und lustig. Diese Leichtigkeit ist aber auch ein Problem. So richtig nimmt man dem Film bei der ganzen Ironie nämlich nicht ab, dass er die Ideen wichtig findet, die er ad absurdum führt. Was ja Radlmaiers These von Film und Kommunismus nur bestätigen würde.
Was hat es dann aber zu bedeuten, dass man nach diesem Film unbedingt, wirklich unbedingt sofort in einen Apfel beißen will? Dass die Apfelernte-Szenen die besten des Films waren? Dass Deragh Campbell eine so gute Schauspielerin ist, dass sie auf ansteckende Art in Äpfel beißen kann? Oder ist diese Apfellust etwa doch so etwas wie ein kulinarischer Funke von Revolutionsgeist, den der Film weitergibt?
JULIA DETTKE
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