Der hochgebildete Ben (Viggo Mortensen) lebt aus Überzeugung mit seinen sechs Kindern in der Einsamkeit der Berge im Nordwesten Amerikas. Er unterrichtet sie selbst und bringt ihnen nicht nur ein überdurchschnittliches Wissen bei, sondern auch wie man jagt und in der Wildnis überlebt. Als seine Frau stirbt, ist er gezwungen mitsamt der Sprösslinge seine selbst geschaffene Aussteigeridylle zu verlassen und der realen Welt entgegenzutreten. In ihrem alten, klapprigen Bus macht sich die Familie auf den Weg quer durch die USA zur Beerdigung, die bei den Großeltern stattfinden soll. Ihre Reise ist voller komischer wie dramatischer Momente, die Bens Freiheitsideale und seine Vorstellungen von Erziehung nachhaltig infrage stellen...
Bonusmaterial
Making Of B-RollFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2016Morgens jagen, mittags Nabokov lesen, abends Bach hören
Ein Film über das Leben in der Wildnis, die Ödnis der Zivilisation und über die Grausamkeit starrer Gegensätze. Viggo Mortensen glänzt als "Captain Fantastic"
Wenn man ein Kind in der Schule hat und auf diese Weise die eigene Schulzeit noch mal wie ein Zombie aus der Erinnerung wiederkehrt, wenn man das Übermaß an Reglementierungswut und den haarsträubenden Mangel an Empathie für junge Menschen betrachtet, der sich bei uns Schulpolitik nennt, dann könnte man es schon mal für eine gute Idee halten, die Kinder selbst zu unterrichten. Es schadet dabei sicher nicht, wenn man nicht in der Stadt lebt, die Kinder dabei auch das Überleben in der Wildnis zu lehren: wie man einen Hirsch erlegt oder Obst und Gemüse anbaut, aber eben auch, wie man die Grundgesetze der Physik, der Grammatik und die Erzählperspektive von Nabokovs "Lolita" begreifen kann, wie man fachgerecht das erlegte Tier ausweidet und ausstopft.
Wer das für groben Unsinn hält oder lapidar auf die allgemeine Schulpflicht verweist, deren Ignorieren in der Zwangsvorführung der Kinder endet, der sollte einfach mal ins Kino gehen und sich "Captain Fantastic" ansehen, der bei uns den dämlichen und überdies noch falschen Zusatz "Einmal Wildnis und zurück" bekommen hat. Matt Ross, den man eher als Schauspieler kennt, hat Regie geführt und auch das Drehbuch geschrieben, und er hat vor allem Viggo Mortensen für die Titelrolle gewonnen, der die lange Reihe seiner grandiosen Vorstellungen um eine weitere bereichert hat.
Mortensens Ben und dessen Frau Leslie haben sechs Kinder zwischen acht und achtzehn Jahren, sie leben irgendwo in der Wildnis des amerikanischen Nordwestens, die diesen Namen noch verdient; sie leben nicht außerhalb, sondern am äußersten Rand der Zivilisation, von der sie nehmen, was sie für sinnvoll halten, einen Kassettenrekorder auf Batteriebetrieb etwa, um Bachs "Goldberg-Variationen" zu hören, am liebsten natürlich von Glenn Gould gespielt. Statt Weihnachten feiern sie den Noam-Chomsky-Tag, die Kids wissen Bescheid über Mao, Marx und den Konsumterror des Kapitalismus, sie sind fit wie Athleten, und wenn der Film tief im Wald beginnt, muss man auch an den "Revenant" denken, da die Kids mit geschwärzten Gesichtern im Wald lauern und Bo, der Älteste, einen Hirsch nur mit dem Messer erlegt.
Diese späte, aufgeklärte und drogenfreie Hippieidylle bröckelt, als die Mutter Selbstmord in einer Klinik begeht, in der sie mehr als drei Monate in psychiatrischer Behandlung war. Um ihren letzten Willen zu erfüllen, bricht die Familie auf, damit sie nicht im Sarg beigesetzt, sondern verbrannt und ihre Asche die Toilette heruntergespült wird. Das ist die Bewegung, die den Zusammenprall zweier Kulturen erzeugt - ein vertrautes Erzählmuster, das Cowboys in die Großstadt, Aliens auf die Erde oder eben auch gebildete, aber in der Konsumkultur völlig unbedarfte Kinder in die moderne Welt schickt. Der Film legt es nicht auf die üblichen komischen Effekte an, die in solchen Konfrontationen entstehen, wie er auch sonst ohne allzu plakative Kontraste auskommt. Das liegt vor allem an Viggo Mortensen, der dem Film sein Gravitationszentrum gibt. Natürlich ist sein Purismus, ist die Selbstgerechtigkeit, das überlegene Erziehungsmodell, überhaupt das richtige Leben zu kennen, unerträglich. Natürlich muss Bo schnell erkennen, dass er zwar seinen Trotzki kennt, aber nicht weiß, wie man auf einem Campingplatz mit einem gleichaltrigen Mädchen flirtet oder es küsst.
Matt Ross lässt das Pendel jedoch immer wieder zurückschwingen. Sobald die Aussteiger in ihrem umgebauten Schulbus bei der Familie von Leslies Schwester angekommen sind, punkten sie mühelos gegen deren Haltungen und Ansichten, die ohne Argument und Reflexion allein deshalb gelten sollen, weil sie gestern schon galten. So steht es denn unentschieden zwischen verstiegenen Alternativen und bräsigen Spießern. Zu einer Art Showdown kommt es erst mit Leslies Eltern, vor allem mit dem Vater, den Frank Langella mit einer Würde und Härte ausstattet, die Viggo Mortensens suggestivem Auftritt gewachsen sind. Bens Verhalten erscheint auf einmal nur anmaßend, seine Worte klingen dogmatisch und moralin, seine Sorge um und Liebe zu den Kindern wirken vor allem eigensüchtig. Auch bei dem einen oder anderen der Kinder regt sich Widerspruch, und die Frage nach der Schuld an Leslies Tod bleibt nicht aus.
Der Film treibt dieses Szenario so weit, dass man sich fragt, wie er sich aus den unversöhnlichen Gegensätzen mit den Mitteln des konventionellen Erzählkinos noch herauswinden will. Er fängt an zu lavieren, er kann oder will die Schärfe, die Konfrontation nicht mehr aufrechterhalten, er möchte glätten, vermitteln, und er greift daher zu dramaturgischen Tricks, zu unwahrscheinlichen kleinen Wendungen, um den Konsequenzen dessen auszuweichen, was er da angerichtet hat.
Leider läuft ja in Drehbüchern ein Sinneswandel im Zeitraffer ab, und Einsichten fallen sehr viel öfter vom Himmel als im sogenannten wahren Leben. Aber mag man auch mit dem Ende von "Captain Fantastic" ein wenig hadern, wenn man daran denkt, mit welcher Entschlossenheit der Film begonnen hat - er erinnert einen letztlich doch vor allem daran, was wir am amerikanischen Kino haben, an seinen unendlichen Räumen, den weiten Himmeln und am Spirit der Pioniere, der Männer der Wildnis, an diesem unbeugsamen Willen, sein Geschick selber in die Hand zu nehmen, statt bei Staat und Gesellschaft vermeintliche Schulden einzuklagen. Dieser "rugged individualism" mag in der Wirklichkeit zu hässlichen Irrläufern führen, im Kino ist er nach wie vor ein unverwüstlicher Archetyp, erst recht wenn einer wie Viggo Mortensen ihm ein Gesicht verleiht.
PETER KÖRTE
Ab Donnerstag im Kino
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Film über das Leben in der Wildnis, die Ödnis der Zivilisation und über die Grausamkeit starrer Gegensätze. Viggo Mortensen glänzt als "Captain Fantastic"
Wenn man ein Kind in der Schule hat und auf diese Weise die eigene Schulzeit noch mal wie ein Zombie aus der Erinnerung wiederkehrt, wenn man das Übermaß an Reglementierungswut und den haarsträubenden Mangel an Empathie für junge Menschen betrachtet, der sich bei uns Schulpolitik nennt, dann könnte man es schon mal für eine gute Idee halten, die Kinder selbst zu unterrichten. Es schadet dabei sicher nicht, wenn man nicht in der Stadt lebt, die Kinder dabei auch das Überleben in der Wildnis zu lehren: wie man einen Hirsch erlegt oder Obst und Gemüse anbaut, aber eben auch, wie man die Grundgesetze der Physik, der Grammatik und die Erzählperspektive von Nabokovs "Lolita" begreifen kann, wie man fachgerecht das erlegte Tier ausweidet und ausstopft.
Wer das für groben Unsinn hält oder lapidar auf die allgemeine Schulpflicht verweist, deren Ignorieren in der Zwangsvorführung der Kinder endet, der sollte einfach mal ins Kino gehen und sich "Captain Fantastic" ansehen, der bei uns den dämlichen und überdies noch falschen Zusatz "Einmal Wildnis und zurück" bekommen hat. Matt Ross, den man eher als Schauspieler kennt, hat Regie geführt und auch das Drehbuch geschrieben, und er hat vor allem Viggo Mortensen für die Titelrolle gewonnen, der die lange Reihe seiner grandiosen Vorstellungen um eine weitere bereichert hat.
Mortensens Ben und dessen Frau Leslie haben sechs Kinder zwischen acht und achtzehn Jahren, sie leben irgendwo in der Wildnis des amerikanischen Nordwestens, die diesen Namen noch verdient; sie leben nicht außerhalb, sondern am äußersten Rand der Zivilisation, von der sie nehmen, was sie für sinnvoll halten, einen Kassettenrekorder auf Batteriebetrieb etwa, um Bachs "Goldberg-Variationen" zu hören, am liebsten natürlich von Glenn Gould gespielt. Statt Weihnachten feiern sie den Noam-Chomsky-Tag, die Kids wissen Bescheid über Mao, Marx und den Konsumterror des Kapitalismus, sie sind fit wie Athleten, und wenn der Film tief im Wald beginnt, muss man auch an den "Revenant" denken, da die Kids mit geschwärzten Gesichtern im Wald lauern und Bo, der Älteste, einen Hirsch nur mit dem Messer erlegt.
Diese späte, aufgeklärte und drogenfreie Hippieidylle bröckelt, als die Mutter Selbstmord in einer Klinik begeht, in der sie mehr als drei Monate in psychiatrischer Behandlung war. Um ihren letzten Willen zu erfüllen, bricht die Familie auf, damit sie nicht im Sarg beigesetzt, sondern verbrannt und ihre Asche die Toilette heruntergespült wird. Das ist die Bewegung, die den Zusammenprall zweier Kulturen erzeugt - ein vertrautes Erzählmuster, das Cowboys in die Großstadt, Aliens auf die Erde oder eben auch gebildete, aber in der Konsumkultur völlig unbedarfte Kinder in die moderne Welt schickt. Der Film legt es nicht auf die üblichen komischen Effekte an, die in solchen Konfrontationen entstehen, wie er auch sonst ohne allzu plakative Kontraste auskommt. Das liegt vor allem an Viggo Mortensen, der dem Film sein Gravitationszentrum gibt. Natürlich ist sein Purismus, ist die Selbstgerechtigkeit, das überlegene Erziehungsmodell, überhaupt das richtige Leben zu kennen, unerträglich. Natürlich muss Bo schnell erkennen, dass er zwar seinen Trotzki kennt, aber nicht weiß, wie man auf einem Campingplatz mit einem gleichaltrigen Mädchen flirtet oder es küsst.
Matt Ross lässt das Pendel jedoch immer wieder zurückschwingen. Sobald die Aussteiger in ihrem umgebauten Schulbus bei der Familie von Leslies Schwester angekommen sind, punkten sie mühelos gegen deren Haltungen und Ansichten, die ohne Argument und Reflexion allein deshalb gelten sollen, weil sie gestern schon galten. So steht es denn unentschieden zwischen verstiegenen Alternativen und bräsigen Spießern. Zu einer Art Showdown kommt es erst mit Leslies Eltern, vor allem mit dem Vater, den Frank Langella mit einer Würde und Härte ausstattet, die Viggo Mortensens suggestivem Auftritt gewachsen sind. Bens Verhalten erscheint auf einmal nur anmaßend, seine Worte klingen dogmatisch und moralin, seine Sorge um und Liebe zu den Kindern wirken vor allem eigensüchtig. Auch bei dem einen oder anderen der Kinder regt sich Widerspruch, und die Frage nach der Schuld an Leslies Tod bleibt nicht aus.
Der Film treibt dieses Szenario so weit, dass man sich fragt, wie er sich aus den unversöhnlichen Gegensätzen mit den Mitteln des konventionellen Erzählkinos noch herauswinden will. Er fängt an zu lavieren, er kann oder will die Schärfe, die Konfrontation nicht mehr aufrechterhalten, er möchte glätten, vermitteln, und er greift daher zu dramaturgischen Tricks, zu unwahrscheinlichen kleinen Wendungen, um den Konsequenzen dessen auszuweichen, was er da angerichtet hat.
Leider läuft ja in Drehbüchern ein Sinneswandel im Zeitraffer ab, und Einsichten fallen sehr viel öfter vom Himmel als im sogenannten wahren Leben. Aber mag man auch mit dem Ende von "Captain Fantastic" ein wenig hadern, wenn man daran denkt, mit welcher Entschlossenheit der Film begonnen hat - er erinnert einen letztlich doch vor allem daran, was wir am amerikanischen Kino haben, an seinen unendlichen Räumen, den weiten Himmeln und am Spirit der Pioniere, der Männer der Wildnis, an diesem unbeugsamen Willen, sein Geschick selber in die Hand zu nehmen, statt bei Staat und Gesellschaft vermeintliche Schulden einzuklagen. Dieser "rugged individualism" mag in der Wirklichkeit zu hässlichen Irrläufern führen, im Kino ist er nach wie vor ein unverwüstlicher Archetyp, erst recht wenn einer wie Viggo Mortensen ihm ein Gesicht verleiht.
PETER KÖRTE
Ab Donnerstag im Kino
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main