Eine Tanzgruppe quartiert sich für Proben in einem abgelegenen Übungszentrum ein. Bei der Abschlussparty mischt ein Unbekannter Drogen in die Sangría und verursacht damit einen kollektiven Höllentrip. Aus Angst wird Paranoia, aus unterschwelliger Aggression offene Gewalt, aus Zuneigung unkontrollierte Begierde. Die energetische Choreographie löst sich in Chaos auf, die Tänzer taumeln, stolpern und tanzen weiter in höchster Ekstase bis zum Morgengrauen als die Polizei eintrifft und das ganze Ausmaß entdeckt.
Frankfurter Allgemeine ZeitungWer hat das LSD in die Sangria getan?
In Gaspar Noés Film "Climax" erlebt eine Gruppe Tänzerinnen und Tänzer ihren Horrortrip
Frankreich, 1996. Zwei Dutzend Tänzer und Tänzerinnen wirbeln durch eine heruntergerockte Turnhalle. Sie fallen auf- und ineinander, verschmelzen zu unwahrscheinlichen Figuren, zappeln halbnackt wie ein archaischer Stamm auf Tuchfühlung mit dem Übersinnlichen zu einem Remix des Discoklassikers "Supernature". So spektakulär das ist, nichts an dieser Choreographie wirkt prätentiös oder artifiziell wie etwa das Ouvertürenballett von "La La Land". Dieser Tanz ist dreckig, lasziv, dionysisch, reine Ekstase - als dirigierte ein ravender Nietzsche das Technovolk im "Berghain". Es ist die Abschlussprobe eines jungen Tanzensembles. Am nächsten Tag soll es auf Amerika-Tournee gehen. Doch wie immer bei Gaspar Noé kann auf so viel Rausch nur der Kater folgen.
Seine Filme drehen sich alle um eine Frage: Wo tritt der Mensch aus sich heraus, wo beginnt das ekstatische Sein? Sie sind Exkurse in das Reich der Ängste und Affekte. Im quasipornographischen "Love" kollidieren Sex und Liebe in einer fatalen Dreiecksbeziehung, in "Irreversible" konterkariert er den Trieb eines Vergewaltigers mit der Mordlust seines Rächers, in "Enter the Void" steigt der Protagonist dann buchstäblich aus seinem Körper und geistert als obdachlose Seele durch Tokio. Noés Experimente sind mitunter brillant, oft schräg, immer Grenzerfahrungen. Und in seinem neuen Film "Climax" gelingt ihm das so gut wie lange nicht mehr.
"Climax" basiert lose auf wahren Begebenheiten. Auf einem verheerenden Horror-LSD-Trip in einer abgelegenen Schule im Winter 1996. Es sei die symptomatische Schlagzeile dieser Generation gewesen, sagt Noé. Und meint damit den ersten Höhepunkt des Elektro-Hedonismus, der Mitte der Neunziger, als die erste Daft-Punk-Platte erscheint, in Frankreich so etwas wie seine Wiener Klassik erlebt. In diesem Klima lädt eine renommierte Choreographin ihr Ensemble zur Klausur. Die Mitglieder sind jung, extrovertiert und jeder Coleur: schwarz, weiß, maghrebinisch, hetero, schwul, lesbisch, queer. Ein Querschnitt der urbanen Subkultur. Nach der Abschlussprobe soll gefeiert werden. Es gibt hausgemachte Sangria, in der ein paar Stückchen Dosenananas dümpeln und in die irgendjemand heimlich sehr viel LSD geträufelt hat.
Bevor die Droge anschlägt, sehen wir die Gruppe in Zwiegesprächen. Ein junger Typ in Sportjacke prahlt, wen er hier schon alles gevögelt hat. Zwei Mädels erklären denselben Poser zur Herpesschleuder. Bullige Kerle philosophieren über Analsex und wie man den zierlichen Schwulen vis à vis mal mit einem Besenstiel durchnehmen müsste. Die Choreographin bringt ihren jungen Sohn ins Bett, während zwei Frauen in einer Ecke kauernd über Abtreibung diskutieren. Dazu hämmert ein Elektrobeat in einem bedrohlichen Ritardando. Immer mehr mischen sich Geilheit, Neid, Gehässigkeit in den Ton, immer stärker zerredet sich dieses eben noch euphorisierte Kollektiv in seine pathologischen Einzelteile.
Als die ersten Tänzer dann lallend, stolpernd und kotzend realisieren, dass sie vergiftet wurden, schlägt die latente Verbitterung in Hass und Panik um. Für jeden beginnt ein persönlicher Horrortrip. Sie sind drauf, sie taumeln, verloren in ihrer jeweils eigenen Paranoia. "Für eine Gemeinschaft kann Ekstase konstruktiv sein", sagt Noé, "aber ebenso gut zerstörerisch." Momente, in denen alles zerbricht, gibt es in Noés Filmen immer. Nicht selten rutschen sie dabei ins Groteske ab, verlieren sich im selbstverliebten Manierismus des Skandalösen, enden in abseitigen Schockern, wie in "Enter the Void", wo man aus der Innenperspektive einer Vagina einen ejakulierenden Penis begrüßen darf. In "Climax" hat Noé für den Abstieg ins moralische Souterrain eine bessere Form gefunden: den Tanz.
Für seinen Film castete Noé keine Schauspieler, sondern die Stars des modernen Tanzes. Ihrer Ausdruckskraft vertraut Noé so sehr, dass er nur die Anfangssequenz choreographiert hat. Der zweite Teil des Films, eine ungeschnittene, 42-minütige Verfallsgeschichte, ist komplett improvisiert. Etliche Male hat Noé diese Szene gedreht und zusammen mit seinen Darstellern verfeinert. Er selbst operierte an der Kamera dann nur wie ein Schaulustiger, der auf der Suche nach den krassesten Momenten durch die Gänge schwebt. Die Abgründe, auf die er dabei stößt, sind keine spektakulären visuellen Effekte oder brutale Splatterszenen, sondern entwickeln sich allein aus dem Ausdrucksschatz seines Ensembles.
Noé hat mit "Climax" einen Anti-Tanzfilm gedreht, welcher gegenüber der Ästhetik des Choreographen Busby Berkeley mit ihrer dekorativen Inszenierung tanzender Massen, die spätestens seit "La La Land" eine Renaissance erlebt, den Tanz vom Individuum her denkt, als unmittelbare Übersetzung innerer Zustände. Auf seinem mäandernden Horrortrip gelingt es Noé aber auch, diesen Individualismus als Krankheitsbild jener letzten zwanzig Jahre Druffi-Lifestyle der europäischen Metropolen bloßzustellen.
MAXIMILIAN SIPPENAUER
Ab Donnerstag im Kino
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Gaspar Noés Film "Climax" erlebt eine Gruppe Tänzerinnen und Tänzer ihren Horrortrip
Frankreich, 1996. Zwei Dutzend Tänzer und Tänzerinnen wirbeln durch eine heruntergerockte Turnhalle. Sie fallen auf- und ineinander, verschmelzen zu unwahrscheinlichen Figuren, zappeln halbnackt wie ein archaischer Stamm auf Tuchfühlung mit dem Übersinnlichen zu einem Remix des Discoklassikers "Supernature". So spektakulär das ist, nichts an dieser Choreographie wirkt prätentiös oder artifiziell wie etwa das Ouvertürenballett von "La La Land". Dieser Tanz ist dreckig, lasziv, dionysisch, reine Ekstase - als dirigierte ein ravender Nietzsche das Technovolk im "Berghain". Es ist die Abschlussprobe eines jungen Tanzensembles. Am nächsten Tag soll es auf Amerika-Tournee gehen. Doch wie immer bei Gaspar Noé kann auf so viel Rausch nur der Kater folgen.
Seine Filme drehen sich alle um eine Frage: Wo tritt der Mensch aus sich heraus, wo beginnt das ekstatische Sein? Sie sind Exkurse in das Reich der Ängste und Affekte. Im quasipornographischen "Love" kollidieren Sex und Liebe in einer fatalen Dreiecksbeziehung, in "Irreversible" konterkariert er den Trieb eines Vergewaltigers mit der Mordlust seines Rächers, in "Enter the Void" steigt der Protagonist dann buchstäblich aus seinem Körper und geistert als obdachlose Seele durch Tokio. Noés Experimente sind mitunter brillant, oft schräg, immer Grenzerfahrungen. Und in seinem neuen Film "Climax" gelingt ihm das so gut wie lange nicht mehr.
"Climax" basiert lose auf wahren Begebenheiten. Auf einem verheerenden Horror-LSD-Trip in einer abgelegenen Schule im Winter 1996. Es sei die symptomatische Schlagzeile dieser Generation gewesen, sagt Noé. Und meint damit den ersten Höhepunkt des Elektro-Hedonismus, der Mitte der Neunziger, als die erste Daft-Punk-Platte erscheint, in Frankreich so etwas wie seine Wiener Klassik erlebt. In diesem Klima lädt eine renommierte Choreographin ihr Ensemble zur Klausur. Die Mitglieder sind jung, extrovertiert und jeder Coleur: schwarz, weiß, maghrebinisch, hetero, schwul, lesbisch, queer. Ein Querschnitt der urbanen Subkultur. Nach der Abschlussprobe soll gefeiert werden. Es gibt hausgemachte Sangria, in der ein paar Stückchen Dosenananas dümpeln und in die irgendjemand heimlich sehr viel LSD geträufelt hat.
Bevor die Droge anschlägt, sehen wir die Gruppe in Zwiegesprächen. Ein junger Typ in Sportjacke prahlt, wen er hier schon alles gevögelt hat. Zwei Mädels erklären denselben Poser zur Herpesschleuder. Bullige Kerle philosophieren über Analsex und wie man den zierlichen Schwulen vis à vis mal mit einem Besenstiel durchnehmen müsste. Die Choreographin bringt ihren jungen Sohn ins Bett, während zwei Frauen in einer Ecke kauernd über Abtreibung diskutieren. Dazu hämmert ein Elektrobeat in einem bedrohlichen Ritardando. Immer mehr mischen sich Geilheit, Neid, Gehässigkeit in den Ton, immer stärker zerredet sich dieses eben noch euphorisierte Kollektiv in seine pathologischen Einzelteile.
Als die ersten Tänzer dann lallend, stolpernd und kotzend realisieren, dass sie vergiftet wurden, schlägt die latente Verbitterung in Hass und Panik um. Für jeden beginnt ein persönlicher Horrortrip. Sie sind drauf, sie taumeln, verloren in ihrer jeweils eigenen Paranoia. "Für eine Gemeinschaft kann Ekstase konstruktiv sein", sagt Noé, "aber ebenso gut zerstörerisch." Momente, in denen alles zerbricht, gibt es in Noés Filmen immer. Nicht selten rutschen sie dabei ins Groteske ab, verlieren sich im selbstverliebten Manierismus des Skandalösen, enden in abseitigen Schockern, wie in "Enter the Void", wo man aus der Innenperspektive einer Vagina einen ejakulierenden Penis begrüßen darf. In "Climax" hat Noé für den Abstieg ins moralische Souterrain eine bessere Form gefunden: den Tanz.
Für seinen Film castete Noé keine Schauspieler, sondern die Stars des modernen Tanzes. Ihrer Ausdruckskraft vertraut Noé so sehr, dass er nur die Anfangssequenz choreographiert hat. Der zweite Teil des Films, eine ungeschnittene, 42-minütige Verfallsgeschichte, ist komplett improvisiert. Etliche Male hat Noé diese Szene gedreht und zusammen mit seinen Darstellern verfeinert. Er selbst operierte an der Kamera dann nur wie ein Schaulustiger, der auf der Suche nach den krassesten Momenten durch die Gänge schwebt. Die Abgründe, auf die er dabei stößt, sind keine spektakulären visuellen Effekte oder brutale Splatterszenen, sondern entwickeln sich allein aus dem Ausdrucksschatz seines Ensembles.
Noé hat mit "Climax" einen Anti-Tanzfilm gedreht, welcher gegenüber der Ästhetik des Choreographen Busby Berkeley mit ihrer dekorativen Inszenierung tanzender Massen, die spätestens seit "La La Land" eine Renaissance erlebt, den Tanz vom Individuum her denkt, als unmittelbare Übersetzung innerer Zustände. Auf seinem mäandernden Horrortrip gelingt es Noé aber auch, diesen Individualismus als Krankheitsbild jener letzten zwanzig Jahre Druffi-Lifestyle der europäischen Metropolen bloßzustellen.
MAXIMILIAN SIPPENAUER
Ab Donnerstag im Kino
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main