Marcello, Michel, Ugo und Phillippe haben ihre besten Jahre hinter sich. Gelangweilt vom Leben im Überfluss und angeödet vom Mangel an neuen Herausforderungen beschließen sie, sich in einer abgelegenen Villa zu Tode zu fressen. Drei Callgirls und die üppige Lehrerin Andrea leisten den Lebensmüden bei ihrem Selbstmord durch orale Genusszuführung Gesellschaft. Fressgier und Sextrieb verschmelzen miteinander und nach und nach ereilt die Männer ihr selbst gewähltes Schicksal...
Bonusmaterial
Kapitel- / Szenenanwahl Animiertes DVD-Menü DVD-Menü mit SoundeffektenFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.01.2013Alles frisst auf mein Kommando!
Vor vierzig Jahren wurde dem Publikum in Cannes "Das große Fressen" serviert. Es war die Geburtsstunde des kulinarischen Kinos.
Von Daniel Kofahl
Als im Mai 1973 "La Grande Bouffe" (Das große Fressen) bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes uraufgeführt wurde, verging vielen Zuschauern schlagartig der Appetit. Sie bekamen von dem Regisseur Marco Ferreri etwas vorgesetzt, das ihnen zugleich Magen wie Verstand umzudrehen schien. Es wird von Kinobesuchern berichtet, die sich übergeben mussten, einige fielen in Ohnmacht. Die staatlichen Zensurbehörden sahen in der cineastischen Kalorienbombe freilich auch einen direkten Anschlag auf die sowieso schon vom Zeitgeist arg in Mitleidenschaft gezogene bürgerliche Moral und auf die zivilisatorische Ordnung der Gesellschaft. Der Film wurde erst ab 18 Jahren freigegeben, das katholische Irland verbot gleich alle Aufführungen. Ein Erfolg wurde der Film trotzdem. Er gewann noch im Jahr seiner Premiere den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritiker- und Filmjournalisten-Vereinigung, und ihn gesehen zu haben gehört heutzutage zur popkulturellen Allgemeinbildung. Zu Recht. Der Film ist ein Meilenstein der Filmgeschichte; und sein Thema ist immer noch aktuell.
Kulturverfall mit Haute Cuisine
Ein Richter, ein Fernsehproduzent, ein Flugkapitän und ein Koch, allesamt beruflich erfolgreich, ziehen sich in eine verlassene Pariser Villa zurück, um sich zu Tode zu fressen. Dies geschieht in einer Art und Weise, die einem selbstmörderischen Sturz von der Klippe kulinarischer Hochkultur gleicht. Kurzzeitig leisten einige Prostituierte den vier Männern Gesellschaft, doch die Dirnen ergreifen alsbald die Flucht. Zu verrückt, auf geradezu kuriose Art pervers, erscheint den Frauen das Männerquartett, das sich mit einer Mischung aus genusssüchtiger Schlemmerei und individueller Todeslust jeglicher strukturierenden Normativität vernünftiger Ernährungslehren entzieht. Die Haute Cuisine wird in "Das große Fressen" zum verschwenderischen Gegenspieler von Gesundheit, Genügsamkeit und maßvoller, bürgerlicher Lebensfreude am Esstisch. Sie wird zum Todfeind des kulinarischen Kulturerbes einer auf Dauer angelegten Gesellschaft. Überleben wird die Orgie lediglich Andréa, eine frivole Lehrerin (Andréa Ferréol), die für einige Tage und Nächte den morbiden Gourmands Muse, Prostituierte und Sterbehelferin zugleich ist.
Man kann "Das große Fressen" als die Geburtsstunde des kulinarischen Kinos bezeichnen. In ihm rückten das Essen und Trinken ins narrative Zentrum eines gesamten Films. Sogar das Sexuelle wurde auf einen dem Kulinarischen nachgeordneten Rang verwiesen. Wenngleich die aus der jüdisch-christlichen Tradition überlieferte Verwandtschaft der beiden Todsünden Völlerei und Wollust des Öfteren miteinander verwoben werden. Im ebenso schönen wie fleischigen Körper Andréas, die von allen vier Protagonisten hungrig begehrt wird, finden diese beiden obsessiven Lüste sodann ihre symbolische Vereinigung.
Natürlich wurde schon vor dem "Großen Fressen" im Kinofilm gegessen. Gerade in den Filmen Federico Fellinis, besonders in seinem "Satyricon" (1969), erhielten wenige Jahre vor dem "Großen Fressen" Mahlzeiten zentrale Plätze in der filmischen Erzählung zugewiesen. 1972 spitzte sich dies bei Luis Buñuel sogar noch zu: In "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" geht es ebenfalls schon die ganze Zeit ums Essen, die Protagonisten kommen nur eigentlich nie dazu. Sie müssen im Dienst der Narration weitestgehend hungrig bleiben und dürfen nur ab und an von einigen Appetithappen träumen, bevor wieder etwas dazwischenkommt.
Im "Großen Fressen" knurrt kein Bauch. Stattdessen muss man minutenlange Sequenzen der Völlerei ertragen. Beispielsweise wenn Michel (Piccoli) mit einem Berg Kartoffelpüree gefüttert wird und sich anschließend mit lautstarken Magenwinden plagt, die infolge weiterer Essexzesse schließlich zu seinem Tod führen. Oder der Zuschauer sieht, wie Ugo (Tognazzi) mit einer Kathedrale aus Schoko-Sahne zu Tode gestopft wird. Gelingt es den Filmstars zu Beginn des Films noch, gepflegte Konversationen zu führen und sogar den Gastrosophen Brillat-Savarin zu erörtern, so wird im Laufe des Film die Brüchigkeit der oberflächlichen zivilisatorischen Errungenschaften durch mehr und mehr Gegrunze, Gestöhne und andere primitive körperliche Geräusche deutlich, welche die Protagonisten von sich geben. Die analoge Magen- und Fäkalsprache des Organismus macht den dekadenten Verfall der dem Tode geweihten Männer sichtbar.
Keine Frage, der Film war und ist noch immer eine Provokation. Aber warum?
Zum einen kann "Das große Fressen" als moderne, politische Hedonismuskritik verstanden werden. Diese Auslegung, wie sie beispielsweise von der Bonner Soziologin Judith Ehlert vertreten wird, sieht im Verhalten der Männer eine Analogie zur demonstrativen Verschwendungskultur der Überflussgesellschaft. Der Überdruss an Überproduktion und Luxus, der im kulinarischen Suizid mündet, ist so anstößig, weil sich beim Zuschauer immer das nur allzu bekannte Wissen um die konfliktträchtige, globale Hungerproblematik aufdrängt. Diejenigen, die sowieso schon mehr als genug besitzen, wollen immer schneller immer mehr. Bei schamlosen Wettessen und komatösen Trinkgelagen schert sich niemand um die gesunden Bedürfnisse des eigenen Körpers, und sie verweisen auf eine krasse Ignoranz gegenüber Fragen weltweiter Verteilungsgerechtigkeit. Dass die Folgekosten dessen, was die Überflussgesellschaft in sich hineinstopft, nicht dauerhaft externalisiert werden können, sondern irgendwo in verwandelter Form wieder zum Vorschein kommen werden, wird auf ekelerregende Weise ausgedrückt: Die Toilette der Villa geht kaputt, und die reichlich produzierten Exkremente der letzten Tage werden den Verursachern ins Haus zurückgespült.
Futtern ohne Reue
Eine andere Interpretation, unter anderen vom Wiener Philosophen Robert Pfaller stark gemacht, sieht in dem Film die gegenteilige Botschaft verpackt. In dieser Perspektive ist "Das große Fressen" eine Aufforderung zum unbedingten passionierten Genuss. Der Skandal, den der Film auslöste und der die bürgerliche Gesellschaft anhaltend verstört, liegt demnach darin, dass Michel, Ugo, Marcello (Mastroianni) und Philippe (Noiret) im Angesicht ihrer kulinarischen Sinnestaumel weder Tod noch Teufel fürchten. Kein Gedanke wird an die in der Gegenwart omnipräsenten diätmoralischen Imperative und Mahnungen verschwendet. Es wird gerade nicht über Cholesterinspiegel, ungesättigte Fettsäuren, Ernährungspyramiden oder den Body-Mass-Index gegrübelt, nur, um schließlich die Lüste des Körpers einer puritanischen Selbstzucht zu unterwerfen. Stattdessen wird ohne Reue gekocht und gefuttert, was möglich ist und was schmeckt. Dazu wird philosophiert, gefühlt, geliebt und - ja, das auch - gestorben. Die inhumanen Seiten der Gegenwartsgesellschaft zu beseitigen, so ein Argument dieser Deutung, bedarf der Kultivierung einer Vision von einem furchtlosen guten Leben. Keine Angst vor den eigenen Sehnsüchten und dem eigenen Tod aus guten Gründen zu haben könnte einem die Kraft verleihen, kämpferisch für ein besseres Leben anderer zu streiten. Und "Das große Fressen" geht in seiner normenzersetzenden Kraft immerhin nie so weit wie der ebenfalls 1973 erschienene Film "Themroc" von Claude Faraldo. Dort gibt es gar keine Sprache mehr, und Michel Piccoli, der auch in "Themroc" die Hauptrolle spielt, wird am Schluss gar zum Kannibalen: Der absolute Nullpunkt der menschlichen (Ess-)Kultur ist erreicht.
Brust oder Keule
1976 wurde der zweite Grundstein des kulinarischen Kinos gelegt: Claude Zidi drehte mit "L'aile ou la cuisse" (Brust oder Keule) eine Kritik an industriell gefertigtem Convenience Food. Wobei er nicht vergaß, im gleichen Atemzug eine Parodie auf die oftmals selbstverliebten und sich allzu objektiv gerierenden Gourmets der Haute Cuisine zu formulieren. Die vom "Großen Fressen" aufgeworfenen Fragen wurden durch weitere ergänzt. Die Debatte um die Form, in der die hochmoderne Gesellschaft ihre Ernährung organisiert, verschwand also mit zunehmendem weltweitem Wohlstand nicht, sondernd nun nahm sich ihrer sogar das Kino an, und zwar auf eine thematisch spezifische, aber in sich wiederum vielfältig differenzierte Weise.
Man muss keine verbindliche Deutung für einen Film wie "Das große Fressen" finden. Es gilt, die Vielfalt der Perspektiven, die uns dieses Werk wie auch andere Filme des kulinarischen Kinos bieten, zu erkennen und mit ihnen die komplexen, nicht selten auch moralisch zu simplifiziert geführten Diskurse über die Ernährung der Menschen zu bereichern und zu reflektieren.
Daniel Kofahl ist Soziologe. Sein gemeinsam mit Gerrit Fröhlich und Lars Albereth herausgegebenes Buch "Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film" erscheint im März im Transcript Verlag.
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Vor vierzig Jahren wurde dem Publikum in Cannes "Das große Fressen" serviert. Es war die Geburtsstunde des kulinarischen Kinos.
Von Daniel Kofahl
Als im Mai 1973 "La Grande Bouffe" (Das große Fressen) bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes uraufgeführt wurde, verging vielen Zuschauern schlagartig der Appetit. Sie bekamen von dem Regisseur Marco Ferreri etwas vorgesetzt, das ihnen zugleich Magen wie Verstand umzudrehen schien. Es wird von Kinobesuchern berichtet, die sich übergeben mussten, einige fielen in Ohnmacht. Die staatlichen Zensurbehörden sahen in der cineastischen Kalorienbombe freilich auch einen direkten Anschlag auf die sowieso schon vom Zeitgeist arg in Mitleidenschaft gezogene bürgerliche Moral und auf die zivilisatorische Ordnung der Gesellschaft. Der Film wurde erst ab 18 Jahren freigegeben, das katholische Irland verbot gleich alle Aufführungen. Ein Erfolg wurde der Film trotzdem. Er gewann noch im Jahr seiner Premiere den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritiker- und Filmjournalisten-Vereinigung, und ihn gesehen zu haben gehört heutzutage zur popkulturellen Allgemeinbildung. Zu Recht. Der Film ist ein Meilenstein der Filmgeschichte; und sein Thema ist immer noch aktuell.
Kulturverfall mit Haute Cuisine
Ein Richter, ein Fernsehproduzent, ein Flugkapitän und ein Koch, allesamt beruflich erfolgreich, ziehen sich in eine verlassene Pariser Villa zurück, um sich zu Tode zu fressen. Dies geschieht in einer Art und Weise, die einem selbstmörderischen Sturz von der Klippe kulinarischer Hochkultur gleicht. Kurzzeitig leisten einige Prostituierte den vier Männern Gesellschaft, doch die Dirnen ergreifen alsbald die Flucht. Zu verrückt, auf geradezu kuriose Art pervers, erscheint den Frauen das Männerquartett, das sich mit einer Mischung aus genusssüchtiger Schlemmerei und individueller Todeslust jeglicher strukturierenden Normativität vernünftiger Ernährungslehren entzieht. Die Haute Cuisine wird in "Das große Fressen" zum verschwenderischen Gegenspieler von Gesundheit, Genügsamkeit und maßvoller, bürgerlicher Lebensfreude am Esstisch. Sie wird zum Todfeind des kulinarischen Kulturerbes einer auf Dauer angelegten Gesellschaft. Überleben wird die Orgie lediglich Andréa, eine frivole Lehrerin (Andréa Ferréol), die für einige Tage und Nächte den morbiden Gourmands Muse, Prostituierte und Sterbehelferin zugleich ist.
Man kann "Das große Fressen" als die Geburtsstunde des kulinarischen Kinos bezeichnen. In ihm rückten das Essen und Trinken ins narrative Zentrum eines gesamten Films. Sogar das Sexuelle wurde auf einen dem Kulinarischen nachgeordneten Rang verwiesen. Wenngleich die aus der jüdisch-christlichen Tradition überlieferte Verwandtschaft der beiden Todsünden Völlerei und Wollust des Öfteren miteinander verwoben werden. Im ebenso schönen wie fleischigen Körper Andréas, die von allen vier Protagonisten hungrig begehrt wird, finden diese beiden obsessiven Lüste sodann ihre symbolische Vereinigung.
Natürlich wurde schon vor dem "Großen Fressen" im Kinofilm gegessen. Gerade in den Filmen Federico Fellinis, besonders in seinem "Satyricon" (1969), erhielten wenige Jahre vor dem "Großen Fressen" Mahlzeiten zentrale Plätze in der filmischen Erzählung zugewiesen. 1972 spitzte sich dies bei Luis Buñuel sogar noch zu: In "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" geht es ebenfalls schon die ganze Zeit ums Essen, die Protagonisten kommen nur eigentlich nie dazu. Sie müssen im Dienst der Narration weitestgehend hungrig bleiben und dürfen nur ab und an von einigen Appetithappen träumen, bevor wieder etwas dazwischenkommt.
Im "Großen Fressen" knurrt kein Bauch. Stattdessen muss man minutenlange Sequenzen der Völlerei ertragen. Beispielsweise wenn Michel (Piccoli) mit einem Berg Kartoffelpüree gefüttert wird und sich anschließend mit lautstarken Magenwinden plagt, die infolge weiterer Essexzesse schließlich zu seinem Tod führen. Oder der Zuschauer sieht, wie Ugo (Tognazzi) mit einer Kathedrale aus Schoko-Sahne zu Tode gestopft wird. Gelingt es den Filmstars zu Beginn des Films noch, gepflegte Konversationen zu führen und sogar den Gastrosophen Brillat-Savarin zu erörtern, so wird im Laufe des Film die Brüchigkeit der oberflächlichen zivilisatorischen Errungenschaften durch mehr und mehr Gegrunze, Gestöhne und andere primitive körperliche Geräusche deutlich, welche die Protagonisten von sich geben. Die analoge Magen- und Fäkalsprache des Organismus macht den dekadenten Verfall der dem Tode geweihten Männer sichtbar.
Keine Frage, der Film war und ist noch immer eine Provokation. Aber warum?
Zum einen kann "Das große Fressen" als moderne, politische Hedonismuskritik verstanden werden. Diese Auslegung, wie sie beispielsweise von der Bonner Soziologin Judith Ehlert vertreten wird, sieht im Verhalten der Männer eine Analogie zur demonstrativen Verschwendungskultur der Überflussgesellschaft. Der Überdruss an Überproduktion und Luxus, der im kulinarischen Suizid mündet, ist so anstößig, weil sich beim Zuschauer immer das nur allzu bekannte Wissen um die konfliktträchtige, globale Hungerproblematik aufdrängt. Diejenigen, die sowieso schon mehr als genug besitzen, wollen immer schneller immer mehr. Bei schamlosen Wettessen und komatösen Trinkgelagen schert sich niemand um die gesunden Bedürfnisse des eigenen Körpers, und sie verweisen auf eine krasse Ignoranz gegenüber Fragen weltweiter Verteilungsgerechtigkeit. Dass die Folgekosten dessen, was die Überflussgesellschaft in sich hineinstopft, nicht dauerhaft externalisiert werden können, sondern irgendwo in verwandelter Form wieder zum Vorschein kommen werden, wird auf ekelerregende Weise ausgedrückt: Die Toilette der Villa geht kaputt, und die reichlich produzierten Exkremente der letzten Tage werden den Verursachern ins Haus zurückgespült.
Futtern ohne Reue
Eine andere Interpretation, unter anderen vom Wiener Philosophen Robert Pfaller stark gemacht, sieht in dem Film die gegenteilige Botschaft verpackt. In dieser Perspektive ist "Das große Fressen" eine Aufforderung zum unbedingten passionierten Genuss. Der Skandal, den der Film auslöste und der die bürgerliche Gesellschaft anhaltend verstört, liegt demnach darin, dass Michel, Ugo, Marcello (Mastroianni) und Philippe (Noiret) im Angesicht ihrer kulinarischen Sinnestaumel weder Tod noch Teufel fürchten. Kein Gedanke wird an die in der Gegenwart omnipräsenten diätmoralischen Imperative und Mahnungen verschwendet. Es wird gerade nicht über Cholesterinspiegel, ungesättigte Fettsäuren, Ernährungspyramiden oder den Body-Mass-Index gegrübelt, nur, um schließlich die Lüste des Körpers einer puritanischen Selbstzucht zu unterwerfen. Stattdessen wird ohne Reue gekocht und gefuttert, was möglich ist und was schmeckt. Dazu wird philosophiert, gefühlt, geliebt und - ja, das auch - gestorben. Die inhumanen Seiten der Gegenwartsgesellschaft zu beseitigen, so ein Argument dieser Deutung, bedarf der Kultivierung einer Vision von einem furchtlosen guten Leben. Keine Angst vor den eigenen Sehnsüchten und dem eigenen Tod aus guten Gründen zu haben könnte einem die Kraft verleihen, kämpferisch für ein besseres Leben anderer zu streiten. Und "Das große Fressen" geht in seiner normenzersetzenden Kraft immerhin nie so weit wie der ebenfalls 1973 erschienene Film "Themroc" von Claude Faraldo. Dort gibt es gar keine Sprache mehr, und Michel Piccoli, der auch in "Themroc" die Hauptrolle spielt, wird am Schluss gar zum Kannibalen: Der absolute Nullpunkt der menschlichen (Ess-)Kultur ist erreicht.
Brust oder Keule
1976 wurde der zweite Grundstein des kulinarischen Kinos gelegt: Claude Zidi drehte mit "L'aile ou la cuisse" (Brust oder Keule) eine Kritik an industriell gefertigtem Convenience Food. Wobei er nicht vergaß, im gleichen Atemzug eine Parodie auf die oftmals selbstverliebten und sich allzu objektiv gerierenden Gourmets der Haute Cuisine zu formulieren. Die vom "Großen Fressen" aufgeworfenen Fragen wurden durch weitere ergänzt. Die Debatte um die Form, in der die hochmoderne Gesellschaft ihre Ernährung organisiert, verschwand also mit zunehmendem weltweitem Wohlstand nicht, sondernd nun nahm sich ihrer sogar das Kino an, und zwar auf eine thematisch spezifische, aber in sich wiederum vielfältig differenzierte Weise.
Man muss keine verbindliche Deutung für einen Film wie "Das große Fressen" finden. Es gilt, die Vielfalt der Perspektiven, die uns dieses Werk wie auch andere Filme des kulinarischen Kinos bieten, zu erkennen und mit ihnen die komplexen, nicht selten auch moralisch zu simplifiziert geführten Diskurse über die Ernährung der Menschen zu bereichern und zu reflektieren.
Daniel Kofahl ist Soziologe. Sein gemeinsam mit Gerrit Fröhlich und Lars Albereth herausgegebenes Buch "Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film" erscheint im März im Transcript Verlag.
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