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Benjamin ist Schüler an einer aufgeklärten, staatlichen Schule. Eines Tages weigert er sich, am Schwimmunterricht teilzunehmen und zwar nicht, wie seine Mutter vermutet, wegen einer unkontrollierbaren Erektion, sondern weil der Anblick seiner minimal bekleideten Mitschülerinnen seine religiösen Gefühle verletzt. Benjamin ist konvertiert: zum Christentum und bedient sich ab sofort bei einer schier unendlichen Ressource der Aggression: der Bibel. Während sich seine Mitschüler weiterhin in Reih und Glied liberaler Unterrichtsführung dirigieren lassen, ist Benjamin auf Rebellionskurs, ein…mehr

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Produktbeschreibung
Benjamin ist Schüler an einer aufgeklärten, staatlichen Schule. Eines Tages weigert er sich, am Schwimmunterricht teilzunehmen und zwar nicht, wie seine Mutter vermutet, wegen einer unkontrollierbaren Erektion, sondern weil der Anblick seiner minimal bekleideten Mitschülerinnen seine religiösen Gefühle verletzt. Benjamin ist konvertiert: zum Christentum und bedient sich ab sofort bei einer schier unendlichen Ressource der Aggression: der Bibel. Während sich seine Mitschüler weiterhin in Reih und Glied liberaler Unterrichtsführung dirigieren lassen, ist Benjamin auf Rebellionskurs, ein Missionar und Kreuzzügler, der gegen Homosexualität, geschiedene Frauen und Evolutionstheorie die eine oder andere Bibelstelle ins Feld zu führen weiß. So heftig und eloquent ist Benjamins Protest gegen den wissenschaftlichen Tenor der Schule, dass die Lehrerschaft bald ins Wanken gerät: die Mädchen müssen ab sofort in Badeanzügen schwimmen und das Kondom wird schließlich doch lieber aus dem Biologie-Unterricht verbannt. Für Benjamin reicht das allerdings noch lange nicht: ein wahrer Jünger Jesu lässt seine Feinde nicht ungeschoren davon kommen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2017

Das Ziel jeder Religion liegt im Radikalen
Aufklärung braucht Blutzeugen: Kirill Serebrennikovs Film "Der die Zeichen liest"

Von einem Burkini für russisch-orthodoxe Männer hat man bisher nie etwas gehört. Aber genau das wäre eventuell erforderlich im Fall eines jungen Mannes, der sich weigert, am Schwimmunterricht in seiner Schule teilzunehmen. Die Begründung erinnert stark an vergleichbare Argumente in einem anderen Kontext: Das Baden erscheint ihm als unzüchtig. So steht es in der Bibel. Wobei die Heilige Schrift der Juden und der Christen noch nichts gewusst haben kann von den knappen Bikinis, mit denen die Klassenkameradinnen von Benjamin so zum Schwimmen gehen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Ist es ja auch, es sei denn, man sieht das anders.

Kirill Serebrennikovs Film "Der die Zeichen liest" erzählt konsequent von so einem Perspektivwechsel. Ein Einzelner fordert eine Ordnung heraus, weil er meint, einen Text auf seiner Seite zu haben. Benjamin deklamiert Bibelstellen, und wie zur Verstärkung sehen wir sie dabei auch noch eingeblendet im Bild, gleichsam als Teleprompter einer wortgeleiteten Intervention. Der Perspektivwechsel ist eigentlich ein doppelter, wenn man auf die heutige Öffentlichkeit blickt: Bei Serebrennikov geht Benjamin in Kaliningrad zur Schule, in der einst deutschen, heute russischen Enklave an der Ostsee.

Die Vorlage für "Der die Zeichen liest" aber bildet ein deutsches Theaterstück: "Märtyrer" von Marius von Mayenburg, uraufgeführt an der Berliner Schaubühne im Jahr 2011. Die Übertragung aus dem Milieu des deutschen Protestantismus in die Welt des heutigen Russlands, mit einem träge selbstbewussten Vertreter der nationalen Kirche und dem noch deutlich sowjetisch geprägten Bildungsapparat, vollzieht sich aber vor dem Hintergrund, dass schon "Märtyrer" als kritische Pointe natürlich auf den Vergleich mit dem muslimischen Fundamentalismus zielte - von dem eine vage "abendländische" Befindlichkeit manchmal gern meinen würde, nur dort gäbe es fanatische Übertreibungen undifferenzierter (wenn überhaupt) Lektüren. Marius von Mayenburg musste nicht lange suchen, um in der Bibel auch jede Menge Anlass zur Unerbittlichkeit zu finden. Was braucht es aber, damit am Ende dieses im Grunde agitatorischen Manövers auch ein guter Film herauskommt?

Serebrennikov ist selbst ein Mann der Bühne. Er leitet in Moskau das Gogol-Theater und inszeniert auch immer wieder im Westen, zuletzt an der Komischen Oper in Berlin einen "Barbier von Sevilla". Als Vertreter einer liberalen Öffentlichkeit in einem zunehmend nationalistisch gestimmten Land wie Russland könnte er aus "Märtyrer" (der Originaltitel spielt mit der Nähe der russischen Wörter für "Student" und "Märtyrer") ein Manifest machen, stark auf einen Effekt hin inszeniert, den man mit den Worten eines berühmten Wortes von Jesus als Entfernung des Balkens aus dem eigenen Auge bezeichnen könnte.

"Der die Zeichen liest" überzeugt aber vor allem, weil es Serebrennikov gelingt, die Geschichte in der russischen Alltagswelt zu verorten. Sein Benjamin bleibt eine erratische Figur, ein junger Mann in einer unvermittelten Totalverweigerung, deren Motive man sich aus Andeutungen und Leerstellen zusammensuchen muss. Schon seine Mutter ist eine höchst glaubwürdige Figur, mit der er sich auseinandersetzen muss. Es ist eine dieser asymmetrischen Auseinandersetzungen, wie sie in der Pubertät besonders häufig sind. Das Fehlen einer väterlichen Autorität betont Serebrennikov dann auch noch mit den weiteren Figuren: die symbolischen wie die konkreten Ordnungen sind weiblich besetzt (ein viriler Sportlehrer bildet da nur die pointierte Ausnahme).

Die kleinen Konferenzen, die in der Schule mehrfach zu dem Fall Benjamin abgehalten werden, zählen zu den besten Szenen des Films, weil sich darin noch deutlich erkennen lässt, wie eine Gesellschaft, die einmal stolz auf ihre ideologisch abgesicherte Aufgeklärtheit war, nun nicht mehr so recht weiß, wie ihr geschieht. Die Biologielehrerin, der auch Themen der Sexualaufklärung obliegen, vor allem aber die Frage, was denn eigentlich der Mensch ist, gerät in eine höchst ambivalente Opposition zu Benjamin. Sie ist attraktiv, selbstbewusst und modern. Eigentlich müssten sich alle jungen Menschen an ihr ein Beispiel nehmen. Aber Märtyrer wollen ja ein negatives Zeichen setzen. Sie sagen nein zum Leben, weil sie ja zu etwas Unerklärlichem sagen.

Die Fronten haben sich verschoben. In Russland schwimmt Benjamin (indem er nicht schwimmt) nicht gegen den Strom, sondern schneller als der Strom. Seine verdrängte (Homo-)Sexualität treibt ihn sicher an, aber auch prinzipiell ist seine Position sinnvoll: wenn schon, denn schon. Religion gibt es in allen Schattierungen, aber sie hat nun einmal ein Telos im Radikalen. Die wichtigste Konsequenz ist keine der Wahrheitsfragen, sondern der Haltung. Auch Aufklärung braucht ihre Blutzeugen, braucht Menschen, die sich ihr "Hier steh ich nun, ich kann nicht anders" nicht ausreden lassen. Die beklemmendste Konsequenz ist die, dass am Ende mit dem Originaltitel "Märtyrer" gar nicht mehr (nur) Benjamin gemeint ist.

BERT REBHANDL

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