Der ungeklärte Fall des Todes der Anneliese M. der 1976 in Deutschland und weltweit Schlagzeilen machte, war schon die Grundlage vieler Hollywoodverfilmungen. Die offizielle Verlautbarung der Behörden: Anneliese starb an den Folgen extremer Unterernährung. Der große Exorzismus, der auf Bitten der Eltern mehrfach durchgeführt worden sein soll gibt allerdings Rätsel auf. Noch heute schwören Ihre Eltern und die beim Exorzismus anwesenden Geistlichen, dass Anneliese wirklich von Dämonen besessen war. Eins steht fest: Dies war keine Geistesstörung und auch kein besonders schlimmer Fall des Tourette-Syndroms. Dieser Film könnte Licht in das Dunkel um die Umstände des Todes von Anneliese M. bringen. - Noch heute ist die Grabstätte von Anneliese eine Pilgerstätte, die symbolisch für den Kampf des Guten gegen das Böse steht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2022Die Einsame und ihre zarte Rebellion
Frances O'Connors Film "Emily" zeichnet ein Porträt der viktorianischen Dichterin Emily Brontë
Zwei Szenen machen diesen Film unvergesslich. In der einen zieht Emily Brontë bei einem Rollenspiel im Familienkreis eine venezianische Maske auf und beginnt, mit der Stimme ihrer toten Mutter zu sprechen. Ihre Schwestern Charlotte und Anne verfolgen ihren Auftritt erst verärgert, dann verstört. Anne, die jüngste, gerät in Panik. Plötzlich weht eine fremde Präsenz durch das Zimmer. "Mama, wir vermissen dich!", heult Anne. Ein Fenster fliegt auf, ein Windstoß löscht das Kerzenlicht. Schließlich setzt Emily die Maske ab.
In der zweiten Szene sitzt die Dichterin Emily vor einem leeren Blatt Papier. Sie hält inne, dann bläst sie ihre Kerze aus und öffnet das Fenster. Die Kamera folgt ihrem Blick in die Dunkelheit, über die Wipfel der Bäume in den schwarzen Himmel. Wie ein sanfter Strom dringen die Geräusche der Nacht ins Zimmer. In der tönenden Finsternis beginnt Emily zu schreiben.
Die beiden Szenen stehen spiegelbildlich für das, was uns der Film "Emily" über Emily Brontë sagen will. Sie vermag andere in ihren Bann zu ziehen, und sie steht selbst im Bann dessen, was sie sieht und empfindet. Emily ist eine Frau unter Einfluss, ein Medium, wie man im neunzehnten Jahrhundert gesagt hätte, das die Entzauberung der Welt im Gefolge der Industrialisierung durch allerlei Aberglauben und mystischen Firlefanz zu kompensieren versucht. Aber so weit will Frances O'Connor, die Regisseurin, nicht gehen.
Die Schwestern Brontë, Charlotte, Emily und Anne, waren Töchter eines anglikanischen Pfarrers in West Yorkshire Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Heute wäre von ihnen keine Rede mehr, hätten sie nicht drei Romane geschrieben, die zum Kanon der englischen Literatur gehören: "Agnes Grey" (Anne), "Jane Eyre" (Charlotte) und "Die Sturmhöhe" (Emily). Ihr Bruder Branwell, ein erfolgloser Maler, starb 1848 an den Folgen des Alkoholismus. Emily, erst dreißigjährig, folgte ihm noch im selben Jahr. Ein Jahr später erlag Anne ihrer Tuberkulose. Nur Charlotte erlebte noch das Wetterleuchten ihres literarischen Ruhms, dessen Strahlkraft allerdings dadurch gedämpft wurde, dass sie ebenso wie ihre Schwestern ihre Bücher unter Pseudonym veröffentlicht hatte.
Nicht nur die drei Romane, auch das Leben der drei Brontë-Schwestern wurde mehrfach verfilmt. In Curtis Bernhardts "Devotion" von 1946 spielen Olivia de Havilland, Ida Lupino und Nancy Coleman die Hauptrollen, bei André Téchiné (1979) sind es Isabelle Adjani, Marie-France Pisier und Isabelle Huppert. In beiden Filmen steht der Geschwisterbund im Mittelpunkt. In "Emily" nicht. Hier ist die Hierarchie von Anfang an klar: Es gibt Emily, und es gibt alle anderen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Handlung mit Emilys Siechtum einsetzt.
Die echte Emily Brontë hat sich geweigert, ihre Lungenentzündung auszukurieren; sie wolle, sagte sie, der Natur ihren Lauf lassen. So auch hier. Aber schließlich sinkt die bleiche Kranke doch auf ein Sofa und wartet auf den Arzt. Ihre Schwester Charlotte beugt sich über sie und fragt mit bebender Stimme: "Wie hast du sie geschrieben? Wie hast du 'Die Sturmhöhe' geschrieben?" Es ist das Rätsel, das der Film zu lösen versucht. Zum Glück löst er es nicht.
Emma Mackey, die Darstellerin der Emily, ist durch die Netflix-Teenagerserie "Sex Education" bekannt geworden. Auch dort war sie die Außenseiterin, die ihre Verletzungen hinter frühreifer Härte verbarg. In "Emily" lag die Versuchung nahe, dieses Außenseitertum mit Stereotypen aus dem Fundus des Geniekults aufzurüsten: irrer Blick, wirre Haare, Verseschmieden im Bett. Aber Mackey und ihre Regisseurin, die selbst als Schauspielerin in Literaturverfilmungen aufgetreten ist (in "Mansfield Park" nach Jane Austen spielte sie die Fanny Price), widerstehen ihr.
Emilys Genie ist bei ihnen ein Produkt ihrer Sehnsucht nach der Kindheit: Sie will sich einfach nicht damit abfinden, dass die Zeit des Tagträumens und Geschichtenspinnens vorbei ist. Bei dieser zarten Rebellion gegen das Erwachsensein hat sie in dem unruhigen Taugenichts Branwell (Fionn Whitehead) einen verlässlicheren Verbündeten als in ihren schon halb im Frauendasein resignierten Schwestern, und erst als ihr Bruder sein Leben endgültig nicht mehr auf die Reihe kriegt und fortgeschickt wird, findet sie in dem Hauslehrer Weightman (Oliver Jackson-Cohen) eine neue verwandte Seele. Doch bei Weightman lernt sie, dass sie erwachsener ist, als sie geglaubt hat. Er wird ihr Liebhaber, und von da an richten sich ihre Gedichte nicht mehr an ein imaginäres Gegenüber: Sie haben ein Ziel.
Die Frage, woher die eigenbrötlerische Tochter des Landpfarrers Brontë die Inspiration für ihren 1847 publizierten Amour-fou-Familienroman nahm, hat Generationen von Anglisten beschäftigt. Der Film versucht sie zu beantworten, indem er Motive aus dem Buch auf die Vita der Verfasserin projiziert: eine Liebesaffäre mit tragischem Ausgang, ein Haus auf dem Hügel, die Trunk- und Opiumsucht des Bruders, das beredte Schweigen der Natur. Aber die Bilder des Films sind stärker als das, was er mit ihnen anstellen will, sie verweigern sich dem Deutungswillen der Regisseurin. Die kinematographische Entzauberung der Emily Brontë findet nicht statt, und das ist gut so; sie hätte den Film zu einer Fußnote der Brontë-Buchverfilmungen gemacht.
Was man stattdessen sieht, ist eine Geschichte weiblicher Zähmung und Selbstbehauptung im Viktorianischen Zeitalter. Der Gesichtsausdruck, mit dem Emily die Kutsche nach Brüssel besteigt, wo sie zur Hauslehrerin ausgebildet werden soll, ist ihre eine Seite; der Blick, mit dem sie aus dem Zimmer in die nächtlichen Baumwipfel schaut, die andere. Am Ende befreit sich Charlotte auf die gleiche Weise von ihren Blockaden, und so wird schließlich auch klar, wie Emily die "Sturmhöhe" schreiben konnte: indem sie ein Fenster nach draußen geöffnet hat.
Selten schafft es ein Film, seine Heldin zu ergründen, ohne ihr Geheimnis anzutasten. Dass das in "Emily" gelingt, ist nicht zuletzt Emma Mackey zu verdanken, die aus dem Drama einer einsamen Seele das Panorama einer vereinsamten Epoche macht. Mit "Sex Education" wurde Mackey zum Star. Mit diesem Film wird sie zur Schauspielerin. ANDREAS KILB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frances O'Connors Film "Emily" zeichnet ein Porträt der viktorianischen Dichterin Emily Brontë
Zwei Szenen machen diesen Film unvergesslich. In der einen zieht Emily Brontë bei einem Rollenspiel im Familienkreis eine venezianische Maske auf und beginnt, mit der Stimme ihrer toten Mutter zu sprechen. Ihre Schwestern Charlotte und Anne verfolgen ihren Auftritt erst verärgert, dann verstört. Anne, die jüngste, gerät in Panik. Plötzlich weht eine fremde Präsenz durch das Zimmer. "Mama, wir vermissen dich!", heult Anne. Ein Fenster fliegt auf, ein Windstoß löscht das Kerzenlicht. Schließlich setzt Emily die Maske ab.
In der zweiten Szene sitzt die Dichterin Emily vor einem leeren Blatt Papier. Sie hält inne, dann bläst sie ihre Kerze aus und öffnet das Fenster. Die Kamera folgt ihrem Blick in die Dunkelheit, über die Wipfel der Bäume in den schwarzen Himmel. Wie ein sanfter Strom dringen die Geräusche der Nacht ins Zimmer. In der tönenden Finsternis beginnt Emily zu schreiben.
Die beiden Szenen stehen spiegelbildlich für das, was uns der Film "Emily" über Emily Brontë sagen will. Sie vermag andere in ihren Bann zu ziehen, und sie steht selbst im Bann dessen, was sie sieht und empfindet. Emily ist eine Frau unter Einfluss, ein Medium, wie man im neunzehnten Jahrhundert gesagt hätte, das die Entzauberung der Welt im Gefolge der Industrialisierung durch allerlei Aberglauben und mystischen Firlefanz zu kompensieren versucht. Aber so weit will Frances O'Connor, die Regisseurin, nicht gehen.
Die Schwestern Brontë, Charlotte, Emily und Anne, waren Töchter eines anglikanischen Pfarrers in West Yorkshire Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Heute wäre von ihnen keine Rede mehr, hätten sie nicht drei Romane geschrieben, die zum Kanon der englischen Literatur gehören: "Agnes Grey" (Anne), "Jane Eyre" (Charlotte) und "Die Sturmhöhe" (Emily). Ihr Bruder Branwell, ein erfolgloser Maler, starb 1848 an den Folgen des Alkoholismus. Emily, erst dreißigjährig, folgte ihm noch im selben Jahr. Ein Jahr später erlag Anne ihrer Tuberkulose. Nur Charlotte erlebte noch das Wetterleuchten ihres literarischen Ruhms, dessen Strahlkraft allerdings dadurch gedämpft wurde, dass sie ebenso wie ihre Schwestern ihre Bücher unter Pseudonym veröffentlicht hatte.
Nicht nur die drei Romane, auch das Leben der drei Brontë-Schwestern wurde mehrfach verfilmt. In Curtis Bernhardts "Devotion" von 1946 spielen Olivia de Havilland, Ida Lupino und Nancy Coleman die Hauptrollen, bei André Téchiné (1979) sind es Isabelle Adjani, Marie-France Pisier und Isabelle Huppert. In beiden Filmen steht der Geschwisterbund im Mittelpunkt. In "Emily" nicht. Hier ist die Hierarchie von Anfang an klar: Es gibt Emily, und es gibt alle anderen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Handlung mit Emilys Siechtum einsetzt.
Die echte Emily Brontë hat sich geweigert, ihre Lungenentzündung auszukurieren; sie wolle, sagte sie, der Natur ihren Lauf lassen. So auch hier. Aber schließlich sinkt die bleiche Kranke doch auf ein Sofa und wartet auf den Arzt. Ihre Schwester Charlotte beugt sich über sie und fragt mit bebender Stimme: "Wie hast du sie geschrieben? Wie hast du 'Die Sturmhöhe' geschrieben?" Es ist das Rätsel, das der Film zu lösen versucht. Zum Glück löst er es nicht.
Emma Mackey, die Darstellerin der Emily, ist durch die Netflix-Teenagerserie "Sex Education" bekannt geworden. Auch dort war sie die Außenseiterin, die ihre Verletzungen hinter frühreifer Härte verbarg. In "Emily" lag die Versuchung nahe, dieses Außenseitertum mit Stereotypen aus dem Fundus des Geniekults aufzurüsten: irrer Blick, wirre Haare, Verseschmieden im Bett. Aber Mackey und ihre Regisseurin, die selbst als Schauspielerin in Literaturverfilmungen aufgetreten ist (in "Mansfield Park" nach Jane Austen spielte sie die Fanny Price), widerstehen ihr.
Emilys Genie ist bei ihnen ein Produkt ihrer Sehnsucht nach der Kindheit: Sie will sich einfach nicht damit abfinden, dass die Zeit des Tagträumens und Geschichtenspinnens vorbei ist. Bei dieser zarten Rebellion gegen das Erwachsensein hat sie in dem unruhigen Taugenichts Branwell (Fionn Whitehead) einen verlässlicheren Verbündeten als in ihren schon halb im Frauendasein resignierten Schwestern, und erst als ihr Bruder sein Leben endgültig nicht mehr auf die Reihe kriegt und fortgeschickt wird, findet sie in dem Hauslehrer Weightman (Oliver Jackson-Cohen) eine neue verwandte Seele. Doch bei Weightman lernt sie, dass sie erwachsener ist, als sie geglaubt hat. Er wird ihr Liebhaber, und von da an richten sich ihre Gedichte nicht mehr an ein imaginäres Gegenüber: Sie haben ein Ziel.
Die Frage, woher die eigenbrötlerische Tochter des Landpfarrers Brontë die Inspiration für ihren 1847 publizierten Amour-fou-Familienroman nahm, hat Generationen von Anglisten beschäftigt. Der Film versucht sie zu beantworten, indem er Motive aus dem Buch auf die Vita der Verfasserin projiziert: eine Liebesaffäre mit tragischem Ausgang, ein Haus auf dem Hügel, die Trunk- und Opiumsucht des Bruders, das beredte Schweigen der Natur. Aber die Bilder des Films sind stärker als das, was er mit ihnen anstellen will, sie verweigern sich dem Deutungswillen der Regisseurin. Die kinematographische Entzauberung der Emily Brontë findet nicht statt, und das ist gut so; sie hätte den Film zu einer Fußnote der Brontë-Buchverfilmungen gemacht.
Was man stattdessen sieht, ist eine Geschichte weiblicher Zähmung und Selbstbehauptung im Viktorianischen Zeitalter. Der Gesichtsausdruck, mit dem Emily die Kutsche nach Brüssel besteigt, wo sie zur Hauslehrerin ausgebildet werden soll, ist ihre eine Seite; der Blick, mit dem sie aus dem Zimmer in die nächtlichen Baumwipfel schaut, die andere. Am Ende befreit sich Charlotte auf die gleiche Weise von ihren Blockaden, und so wird schließlich auch klar, wie Emily die "Sturmhöhe" schreiben konnte: indem sie ein Fenster nach draußen geöffnet hat.
Selten schafft es ein Film, seine Heldin zu ergründen, ohne ihr Geheimnis anzutasten. Dass das in "Emily" gelingt, ist nicht zuletzt Emma Mackey zu verdanken, die aus dem Drama einer einsamen Seele das Panorama einer vereinsamten Epoche macht. Mit "Sex Education" wurde Mackey zum Star. Mit diesem Film wird sie zur Schauspielerin. ANDREAS KILB
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