Paris, 1844, am Vorabend der industriellen Revolution: der 26-jährige Karl Marx (August Diehl) lebt mit seiner Frau Jenny (Vicky Krieps) im französischen Exil. Als Marx dort dem jungen Friedrich Engels (Stefan Konarske) vorgestellt wird, hat der notorisch bankrotte Familienvater für den gestriegelten Bourgeois und Sohn eines Fabrikbesitzers nur Verachtung übrig. Doch der Dandy Engels hat gerade über die Verelendung des englischen Proletariats geschrieben, er liebt Mary Burns, eine Baumwollspinnerin und Rebellin der englischen Arbeiterbewegung. Engels weiß, wovon er spricht. Er ist das letzte Puzzlestück, das Marx zu einer rückhaltlosen Beschreibung der Krise noch fehlt. Marx und Engels haben denselben Humor und ein gemeinsames Ziel. Sie respektieren und inspirieren sich als Kampfgefährten - und sie können sich hervorragend miteinander betrinken. Zusammen mit Jenny Marx erarbeiten sie Schriften, die die Revolution entzünden sollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2017Den Marxismus aus dem Zylinder gezogen
Martin Scorsese lässt einen Jesuitenpater im 17. Jahrhundert gegen die Anfechtungen des Glaubens und gegen grausame Japaner kämpfen. Raoul Peck schildert den Beginn einer wunderbaren und historisch folgenreichen Freundschaft im 19. Jahrhundert. Und die Amerikanerin Kelly Reichardt erzählt drei Geschichten mit vier Frauen im Montana von heute
Das größte Einzelproblem bei seinem Film "Die zehn Gebote", so hat Cecil B. DeMille rückblickend geschrieben, seien weder die Komparsenheere noch die Teilung des Roten Meeres gewesen, sondern die Stimme Gottes. Martin Scorsese, der als Kind aus Little Italy im und mit dem Katholizismus aufgewachsen ist, hat mit göttlichen Stimmen offensichtlich überhaupt kein Problem gehabt. In seinem neuen Film "Silence" spricht Jesus mit sonorer Stimme aus dem Off zu einem verzweifelten Priester und fordert ihn auf, sein, des Gottessohnes, Bildnis mit Füßen zu treten, wie es der japanische Inquisitor verlangt.
Dieser Pater Rodrigues, gespielt von Spider-Man Andrew Garfield, ist die Hauptfigur in einem Film, der Scorsese über drei Jahrzehnte umgetrieben hat. "Silence" beruht auf einem Roman von Shusaku Endo aus dem Jahr 1966 und erzählt davon, wie die japanische Obrigkeit im 17. Jahrhundert gegen das Christentum vorging, indem sie alle Europäer aus dem Land jagte und die japanischen Christen folterte und umbrachte, die nicht abschwören wollten. Es ist also ein Film über den Glauben und dessen Anfechtungen, aber auch über den Zusammenprall der Kulturen und Religionen. Rodrigues und ein weiterer portugiesischer Jesuitenpater reisen heimlich nach Japan, weil sie es für ein übles Gerücht halten, dass ihr Lehrer Pater Ferreira (Liam Neeson) dort vom Glauben abgefallen sei und als japanischer Gelehrter mit Frau und Kind lebe. Sie müssen sich verstecken, sie erleben Furcht und Schrecken der japanischen Christen, die ihren Glauben nicht ausüben dürfen. Schon in der Auftaktsequenz lässt Scorsese ziemlich drastisch sehen, was den Widerständigen droht. Gekreuzigte werden mit kochend heißem Wasser aus Thermalquellen begossen und gesotten; später sieht man dann Kreuze so im Meer stehen, dass die Gekreuzigten mit der aufkommenden Flut ertrinken. Der Einfallsreichtum der Folterer ist groß und seine Wirkung umso nachhaltiger, weil Scorsese das Martyrium eher klassisch ruhig zeigt und nicht mit jener Dynamik und Unruhe in Kameraarbeit und Montage, die seinen Filmen so oft ihren besonderen Rhythmus verliehen haben.
Dass das Blut der Märtyrer, wie der Pater den Kirchenvater Tertullian zitiert, der Samen der Kirche sei, war ja schon immer eine etwas fragwürdige Metapher. Hier nutzt der japanische Inquisitor subtilere Methoden, um den inhaftierten Pater dazu zu bringen, von seinem Glauben abzufallen. Er lässt die japanischen Bauern leiden und verwehrt dem Pater zunächst die Bestrafung. Je größer die Standhaftigkeit des Hirten, desto größer das Leiden seiner Schafe, sagt er ihm mit wissendem Lächeln, um dann mit dem Geistlichen darüber zu diskutieren, warum das Christentum einfach nicht zu einem Land wie Japan passe.
Allzu viel hat der Mann Gottes dem nicht entgegenzusetzen, was nicht nur, aber auch an Andrew Garfield liegt, der als arglos gläubiger, naiver Pazifist gerade noch in Mel Gibsons Film "Hacksaw Ridge" auf Okinawa im Zweiten Weltkrieg war. Das Drehbuch reduziert ihn völlig auf die Figur des hadernden Priesters, aber Garfield mit gepflegter Hippiemähne und Vollbart scheint nicht recht in der Lage zu sein, die psychischen und geistlichen Qualen eines Gläubigen im 17. Jahrhundert darzustellen, der mit seinem Glauben ringt, weil Gott zu all dem Grauen schweigt. Ihm fehlen diese nervöse Energie vieler Scorsese-Helden, diese Getriebenheit, die Nähe zum Wahn, ganz zu schweigen von den Nöten und eskapistischen Phantasien Jesus' in Scorseses "Die letzte Versuchung Christi". Nur einmal blitzt ein wenig davon auf, in einem Moment der Selbstüberhöhung, als der Pater ins Wasser schaut und ihm statt seines Spiegelbilds ein Porträt Christi entgegenblickt. Das irre Lachen, mit dem er darauf reagiert, ist schnell verhallt.
"Silence" ist ein sehr merkwürdiger Film. Obwohl Scorsese besessen war von dem Projekt, fehlt dem Film vor allem Leidenschaft. Obwohl er Fragen berührt, die mitten in unsere Gegenwart führen, wirkt das alles seltsam entrückt, so ätherisch wie die malerisch komponierten, oft nebelverhangenen oder regenüberglänzten Landschaftspanoramen. Was bedeutet denn, nur zum Beispiel, in einer Situation, in welcher der IS totalitäre Geltungsansprüche einer Religion blutig exekutiert, der Anspruch auf Wahrheit oder universale Geltung? Menschen für die Reinheit des Glaubens zu opfern kommt einem mit Recht atavistisch vor; und schon die Alternative, entweder einen Menschen oder ein Prinzip zu retten, hat etwas Inhumanes.
Das Schweigen Gottes, die Aporien der Theodizee, sie sind da noch das geringste Problem. Man wüsste allerdings schon gern, wie Papst Franziskus reagiert hat, der zusammen mit 300 Jesuitenpatern die Premiere von "Silence" in Rom erlebte. Ob er etwas Ähnliches gesagt hat wie Johannes Paul II. damals angeblich zu Mel Gibsons "Passion Christi": "Es ist so, wie es war"?
* * *.
Es ist keine schlechte Idee, einen Film über den jungen Marx mit einer Szene zu beginnen, in der Menschen in abgerissener Kleidung im Wald Holz sammeln, bis die berittene Obrigkeit auftaucht und sie jagt. So gewinnt ein früher Artikel Marx' aus der "Rheinischen Zeitung" von 1842, "Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz", soziale Anschaulichkeit. Leider folgen dann nicht mehr allzu viele überzeugende Ideen in Raoul Pecks internationaler Koproduktion "Der junge Karl Marx", die schon vor dem absehbaren großen Auftrieb zum 200. Geburtstag im Mai 2018 ins Kino kommt.
Dass der Mann, der "Das Kapital" schrieb und als Erster die destruktive Dynamik des Kapitalismus erkannte, der alle bisherige Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen definierte, dass dieser produktive und wirkungsmächtige Denker alles andere als ein brauchbarer Kinoheld ist, scheint Peck nie in den Sinn gekommen zu sein. Was umso erstaunlicher ist, als der Regisseur gerade noch auf der Berlinale die Dokumentation "I Am Not Your Negro" über den großen afroamerikanischen Schriftsteller James Baldwin gezeigt hat, die all das politische und ästhetische Gespür hat, das dem Marx-Film abgeht.
Marx, den August Diehl als flamboyanten und arroganten Mann mit Zylinder und ständigen Geldnöten spielt, springt mal ins Bett mit Ehefrau Jenny, schreibt dann schnell die "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" fertig, sympathisiert kurz mit Proudhons "Philosophie des Elends", um ihn dann mit seinem "Elend der Philosophie" wegzufegen, ohne dass jemandem, der das nicht gelesen hat, klarwürde, warum. Als Marx Friedrich Engels (Stefan Konarske) trifft, sieht das zunächst nicht nach dem Beginn einer wunderbaren Freundschaft aus. Engels ist eher der lockere Typ, Fabrikantensohn und Bonvivant, der mit einer vom Vater gefeuerten Arbeiterin und deren Schwester zur Ménage à trois zusammenfindet. Aber Marx-Engels raufen sich schließlich zusammen und entwickeln nach durchzechter Nacht mal eben philosophische Brandsätze und schließlich das "Kommunistische Manifest".
Die berühmten Thesen und Zitate, die zwischendurch vorgetragen werden, wirken in dem dekorativen Historienfilmsetting bald auch wie besonders schöne Stücke aus der Requisitenkammer, die zu Zylinder, Gehrock und alten Möbeln passen. Man sieht sich das Ganze mit einer Mischung aus Erstaunen und Amüsement an. Voller Erstaunen darüber, wie leicht dieses biedere Kostümfilmformat einer Theorie den Zahn zieht, die "zur materiellen Gewalt wird, sobald sie die Massen ergreift"; und mit Amüsement, das auch schon mal in Verärgerung umkippen kann, weil in dieser Diktion selbst bahnbrechende Einsichten in Marx' kraftvoller Prosa tendenziell trivial klingen. Wenn Marx Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt hat, dann stellt dieser Film Marx ins Museum statt in die Debatten der Gegenwart, wo man sich längst schon wieder auf ihn bezieht.
PETER KÖRTE.
* * *.
Kelly Reichardt nimmt immer wieder erzählerische Texte als Ausgangspunkt für ihre Filme. Häufig hat sie mit Jon Raymond zusammengearbeitet, einem im deutschsprachigen Raum noch nicht ausreichend gewürdigten Autor. Im Falle von "Certain Women" stammen die Vorlagen von Maile Meloy aus Helena, Montana, nicht weit entfernt also von Portland, Oregon, wo einige der früheren Filme von Reichardt spielten. Die "paar Frauen", deren Wege sich hier lose kreuzen, haben nicht viel mehr gemeinsam, als dass sie eben in diesem ländlichen Amerika daheim sind, das nicht zuletzt durch das Kino so stark mit männlichen Stereotypen assoziiert wird: Cowboyhüte, schwere Autos, Holzfällerhemden. Livingston, Montana, ist die Stadt, in der die "Certain Women" leben, wobei man sich dazu auch das ganze Einzugsgebiet dazudenken muss, das eine radikal motorisierte Kultur erschließt. So reicht der Film an einer Stelle sogar bis Belfry, das ist dann schon ein paar Autostunden entfernt und wäre ein toller Roadtrip, wenn man ihn nicht als Tagespendlerin machen müsste. Eine Anwältin namens Laura (Laura Dern) hat es mit einem aufsässigen Klienten zu tun (der britische Schauspieler Jared Harris, bekannt aus "Mad Men", spielt diesen Fuller), sie hat Mühe, ihr Privatleben zu behaupten in einer Welt, in der jeder jeden kennt und auch eine Geiselnahme eher routiniert abgearbeitet wird. Gina (Michelle Williams) will mit ihrem Mann ein Präriehaus bauen, wofür sie sich eine bestimmte Sorte Steine in den Kopf gesetzt hat, die sie einem alten Mann abschwatzen will. Die stärkste der drei Geschichten ist wohl die von Jamie (Lily Gladstone), die als Pferdehüterin arbeitet und sich eines Tages spontan in eine Klasse setzt, in der Beth (Kristen Stewart) eine Gruppe von Lehrern in Schulrecht unterweist. Als Akademikerin ist Beth in dieser Welt fremd; dass sie diese Aufgabe übernommen hat, erscheint ihr wie ein Rückfall in etwas, woraus sie sich eigentlich befreien wollte.
Die unmögliche Liebesgeschichte zwischen diesen beiden Frauen verleiht "Certain Women" einen starken Kern. Die Reihe der exzellenten Schauspieler verweist auf den Status, den Kelly Reichardt sich im Lauf der Jahre erarbeitet hat. Sie weiß über die Traditionen des amerikanischen Kinos besser Bescheid als viele erfolgreichere Kollegen, und das wird ihr gedankt, indem immer wieder Stars bei ihr auftauchen, die eigentlich aus einer anderen Liga stammen. In diesem Fall ist das Kristen Stewart, die ihre Karriere offensichtlich sorgfältig kuratiert.
Erneut geht Kelly Reichardt in "Certain Women" von geläufigen Motiven der amerikanischen Mythologie aus und betrachtet sie aus einer weiblichen Perspektive neu: Sie versucht, zugleich klassisch und modern zu erzählen, und findet auf diese Weise zu einem immer wieder originären Blick auf ihr Land.
BERT REBHANDL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Scorsese lässt einen Jesuitenpater im 17. Jahrhundert gegen die Anfechtungen des Glaubens und gegen grausame Japaner kämpfen. Raoul Peck schildert den Beginn einer wunderbaren und historisch folgenreichen Freundschaft im 19. Jahrhundert. Und die Amerikanerin Kelly Reichardt erzählt drei Geschichten mit vier Frauen im Montana von heute
Das größte Einzelproblem bei seinem Film "Die zehn Gebote", so hat Cecil B. DeMille rückblickend geschrieben, seien weder die Komparsenheere noch die Teilung des Roten Meeres gewesen, sondern die Stimme Gottes. Martin Scorsese, der als Kind aus Little Italy im und mit dem Katholizismus aufgewachsen ist, hat mit göttlichen Stimmen offensichtlich überhaupt kein Problem gehabt. In seinem neuen Film "Silence" spricht Jesus mit sonorer Stimme aus dem Off zu einem verzweifelten Priester und fordert ihn auf, sein, des Gottessohnes, Bildnis mit Füßen zu treten, wie es der japanische Inquisitor verlangt.
Dieser Pater Rodrigues, gespielt von Spider-Man Andrew Garfield, ist die Hauptfigur in einem Film, der Scorsese über drei Jahrzehnte umgetrieben hat. "Silence" beruht auf einem Roman von Shusaku Endo aus dem Jahr 1966 und erzählt davon, wie die japanische Obrigkeit im 17. Jahrhundert gegen das Christentum vorging, indem sie alle Europäer aus dem Land jagte und die japanischen Christen folterte und umbrachte, die nicht abschwören wollten. Es ist also ein Film über den Glauben und dessen Anfechtungen, aber auch über den Zusammenprall der Kulturen und Religionen. Rodrigues und ein weiterer portugiesischer Jesuitenpater reisen heimlich nach Japan, weil sie es für ein übles Gerücht halten, dass ihr Lehrer Pater Ferreira (Liam Neeson) dort vom Glauben abgefallen sei und als japanischer Gelehrter mit Frau und Kind lebe. Sie müssen sich verstecken, sie erleben Furcht und Schrecken der japanischen Christen, die ihren Glauben nicht ausüben dürfen. Schon in der Auftaktsequenz lässt Scorsese ziemlich drastisch sehen, was den Widerständigen droht. Gekreuzigte werden mit kochend heißem Wasser aus Thermalquellen begossen und gesotten; später sieht man dann Kreuze so im Meer stehen, dass die Gekreuzigten mit der aufkommenden Flut ertrinken. Der Einfallsreichtum der Folterer ist groß und seine Wirkung umso nachhaltiger, weil Scorsese das Martyrium eher klassisch ruhig zeigt und nicht mit jener Dynamik und Unruhe in Kameraarbeit und Montage, die seinen Filmen so oft ihren besonderen Rhythmus verliehen haben.
Dass das Blut der Märtyrer, wie der Pater den Kirchenvater Tertullian zitiert, der Samen der Kirche sei, war ja schon immer eine etwas fragwürdige Metapher. Hier nutzt der japanische Inquisitor subtilere Methoden, um den inhaftierten Pater dazu zu bringen, von seinem Glauben abzufallen. Er lässt die japanischen Bauern leiden und verwehrt dem Pater zunächst die Bestrafung. Je größer die Standhaftigkeit des Hirten, desto größer das Leiden seiner Schafe, sagt er ihm mit wissendem Lächeln, um dann mit dem Geistlichen darüber zu diskutieren, warum das Christentum einfach nicht zu einem Land wie Japan passe.
Allzu viel hat der Mann Gottes dem nicht entgegenzusetzen, was nicht nur, aber auch an Andrew Garfield liegt, der als arglos gläubiger, naiver Pazifist gerade noch in Mel Gibsons Film "Hacksaw Ridge" auf Okinawa im Zweiten Weltkrieg war. Das Drehbuch reduziert ihn völlig auf die Figur des hadernden Priesters, aber Garfield mit gepflegter Hippiemähne und Vollbart scheint nicht recht in der Lage zu sein, die psychischen und geistlichen Qualen eines Gläubigen im 17. Jahrhundert darzustellen, der mit seinem Glauben ringt, weil Gott zu all dem Grauen schweigt. Ihm fehlen diese nervöse Energie vieler Scorsese-Helden, diese Getriebenheit, die Nähe zum Wahn, ganz zu schweigen von den Nöten und eskapistischen Phantasien Jesus' in Scorseses "Die letzte Versuchung Christi". Nur einmal blitzt ein wenig davon auf, in einem Moment der Selbstüberhöhung, als der Pater ins Wasser schaut und ihm statt seines Spiegelbilds ein Porträt Christi entgegenblickt. Das irre Lachen, mit dem er darauf reagiert, ist schnell verhallt.
"Silence" ist ein sehr merkwürdiger Film. Obwohl Scorsese besessen war von dem Projekt, fehlt dem Film vor allem Leidenschaft. Obwohl er Fragen berührt, die mitten in unsere Gegenwart führen, wirkt das alles seltsam entrückt, so ätherisch wie die malerisch komponierten, oft nebelverhangenen oder regenüberglänzten Landschaftspanoramen. Was bedeutet denn, nur zum Beispiel, in einer Situation, in welcher der IS totalitäre Geltungsansprüche einer Religion blutig exekutiert, der Anspruch auf Wahrheit oder universale Geltung? Menschen für die Reinheit des Glaubens zu opfern kommt einem mit Recht atavistisch vor; und schon die Alternative, entweder einen Menschen oder ein Prinzip zu retten, hat etwas Inhumanes.
Das Schweigen Gottes, die Aporien der Theodizee, sie sind da noch das geringste Problem. Man wüsste allerdings schon gern, wie Papst Franziskus reagiert hat, der zusammen mit 300 Jesuitenpatern die Premiere von "Silence" in Rom erlebte. Ob er etwas Ähnliches gesagt hat wie Johannes Paul II. damals angeblich zu Mel Gibsons "Passion Christi": "Es ist so, wie es war"?
* * *.
Es ist keine schlechte Idee, einen Film über den jungen Marx mit einer Szene zu beginnen, in der Menschen in abgerissener Kleidung im Wald Holz sammeln, bis die berittene Obrigkeit auftaucht und sie jagt. So gewinnt ein früher Artikel Marx' aus der "Rheinischen Zeitung" von 1842, "Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz", soziale Anschaulichkeit. Leider folgen dann nicht mehr allzu viele überzeugende Ideen in Raoul Pecks internationaler Koproduktion "Der junge Karl Marx", die schon vor dem absehbaren großen Auftrieb zum 200. Geburtstag im Mai 2018 ins Kino kommt.
Dass der Mann, der "Das Kapital" schrieb und als Erster die destruktive Dynamik des Kapitalismus erkannte, der alle bisherige Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen definierte, dass dieser produktive und wirkungsmächtige Denker alles andere als ein brauchbarer Kinoheld ist, scheint Peck nie in den Sinn gekommen zu sein. Was umso erstaunlicher ist, als der Regisseur gerade noch auf der Berlinale die Dokumentation "I Am Not Your Negro" über den großen afroamerikanischen Schriftsteller James Baldwin gezeigt hat, die all das politische und ästhetische Gespür hat, das dem Marx-Film abgeht.
Marx, den August Diehl als flamboyanten und arroganten Mann mit Zylinder und ständigen Geldnöten spielt, springt mal ins Bett mit Ehefrau Jenny, schreibt dann schnell die "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" fertig, sympathisiert kurz mit Proudhons "Philosophie des Elends", um ihn dann mit seinem "Elend der Philosophie" wegzufegen, ohne dass jemandem, der das nicht gelesen hat, klarwürde, warum. Als Marx Friedrich Engels (Stefan Konarske) trifft, sieht das zunächst nicht nach dem Beginn einer wunderbaren Freundschaft aus. Engels ist eher der lockere Typ, Fabrikantensohn und Bonvivant, der mit einer vom Vater gefeuerten Arbeiterin und deren Schwester zur Ménage à trois zusammenfindet. Aber Marx-Engels raufen sich schließlich zusammen und entwickeln nach durchzechter Nacht mal eben philosophische Brandsätze und schließlich das "Kommunistische Manifest".
Die berühmten Thesen und Zitate, die zwischendurch vorgetragen werden, wirken in dem dekorativen Historienfilmsetting bald auch wie besonders schöne Stücke aus der Requisitenkammer, die zu Zylinder, Gehrock und alten Möbeln passen. Man sieht sich das Ganze mit einer Mischung aus Erstaunen und Amüsement an. Voller Erstaunen darüber, wie leicht dieses biedere Kostümfilmformat einer Theorie den Zahn zieht, die "zur materiellen Gewalt wird, sobald sie die Massen ergreift"; und mit Amüsement, das auch schon mal in Verärgerung umkippen kann, weil in dieser Diktion selbst bahnbrechende Einsichten in Marx' kraftvoller Prosa tendenziell trivial klingen. Wenn Marx Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt hat, dann stellt dieser Film Marx ins Museum statt in die Debatten der Gegenwart, wo man sich längst schon wieder auf ihn bezieht.
PETER KÖRTE.
* * *.
Kelly Reichardt nimmt immer wieder erzählerische Texte als Ausgangspunkt für ihre Filme. Häufig hat sie mit Jon Raymond zusammengearbeitet, einem im deutschsprachigen Raum noch nicht ausreichend gewürdigten Autor. Im Falle von "Certain Women" stammen die Vorlagen von Maile Meloy aus Helena, Montana, nicht weit entfernt also von Portland, Oregon, wo einige der früheren Filme von Reichardt spielten. Die "paar Frauen", deren Wege sich hier lose kreuzen, haben nicht viel mehr gemeinsam, als dass sie eben in diesem ländlichen Amerika daheim sind, das nicht zuletzt durch das Kino so stark mit männlichen Stereotypen assoziiert wird: Cowboyhüte, schwere Autos, Holzfällerhemden. Livingston, Montana, ist die Stadt, in der die "Certain Women" leben, wobei man sich dazu auch das ganze Einzugsgebiet dazudenken muss, das eine radikal motorisierte Kultur erschließt. So reicht der Film an einer Stelle sogar bis Belfry, das ist dann schon ein paar Autostunden entfernt und wäre ein toller Roadtrip, wenn man ihn nicht als Tagespendlerin machen müsste. Eine Anwältin namens Laura (Laura Dern) hat es mit einem aufsässigen Klienten zu tun (der britische Schauspieler Jared Harris, bekannt aus "Mad Men", spielt diesen Fuller), sie hat Mühe, ihr Privatleben zu behaupten in einer Welt, in der jeder jeden kennt und auch eine Geiselnahme eher routiniert abgearbeitet wird. Gina (Michelle Williams) will mit ihrem Mann ein Präriehaus bauen, wofür sie sich eine bestimmte Sorte Steine in den Kopf gesetzt hat, die sie einem alten Mann abschwatzen will. Die stärkste der drei Geschichten ist wohl die von Jamie (Lily Gladstone), die als Pferdehüterin arbeitet und sich eines Tages spontan in eine Klasse setzt, in der Beth (Kristen Stewart) eine Gruppe von Lehrern in Schulrecht unterweist. Als Akademikerin ist Beth in dieser Welt fremd; dass sie diese Aufgabe übernommen hat, erscheint ihr wie ein Rückfall in etwas, woraus sie sich eigentlich befreien wollte.
Die unmögliche Liebesgeschichte zwischen diesen beiden Frauen verleiht "Certain Women" einen starken Kern. Die Reihe der exzellenten Schauspieler verweist auf den Status, den Kelly Reichardt sich im Lauf der Jahre erarbeitet hat. Sie weiß über die Traditionen des amerikanischen Kinos besser Bescheid als viele erfolgreichere Kollegen, und das wird ihr gedankt, indem immer wieder Stars bei ihr auftauchen, die eigentlich aus einer anderen Liga stammen. In diesem Fall ist das Kristen Stewart, die ihre Karriere offensichtlich sorgfältig kuratiert.
Erneut geht Kelly Reichardt in "Certain Women" von geläufigen Motiven der amerikanischen Mythologie aus und betrachtet sie aus einer weiblichen Perspektive neu: Sie versucht, zugleich klassisch und modern zu erzählen, und findet auf diese Weise zu einem immer wieder originären Blick auf ihr Land.
BERT REBHANDL
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