Warum die Kinder der Nachbardörfer Longueverne und Velans seit Menschengedenken bittere Feinde sind, weiß niemand mehr so genau. Werden Gefangene gemacht, ist es üblich, ihnen die Knöpfe abzuschneiden und die Hosenträger, was nicht nur schmachvoll ist, sondern auch Strafmaßnahmen zu Hause nach sich zieht. Also beschließen die Jungen, nackt in den Kampf zu ziehen, aber sie haben die Rechnung ohne die Brennnesseln gemacht. Da ist es schon besser, sich eine Knopfreserve anzulegen, um nach einer Niederlage den Verlust ersetzen zu können. Die kriegerischen Auseinandersetzungen nehmen mit der Einweisung der beiden Anführer ins Internat ein jähes Ende - bis zum nächsten Sommer, wenn ein neuer Krieg der Knöpfe ausbricht...
Bonusmaterial
WendecoverFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2023KNÖPFE
VON JOCHEN SCHMIDT
Im Literaturbetrieb wird im Moment debattiert, inwiefern die Menschen in der DDR Gewalterfahrungen gemacht haben, die nie aufgearbeitet wurden, was Exzesse in den Neunzigern und heutiges Wahlverhalten erklären soll, sodass es höchste Zeit für ein "DDR-Achtundsechzig" wäre. Das ist eine interessante Frage für Soziologen und Historiker. Literatur ist in meinen Augen nicht der richtige Adressat, wenn Belege für Gesellschaftsanalyse gesucht werden.
Neulich sah ich mit meinen Kindern "Der Krieg der Knöpfe", einen französischen Kinderfilmklassiker von 1961. Er behandelt die über Generationen bestehende Feindschaft zwischen den Kindern der benachbarten Dörfer Longeverne und Velrans, Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Kinder der beiden Lager marschieren singend und mit Holzschwertern in die Schlacht (wie es wenig früher in Deutschland Kinder bei Geländespielen der HJ taten). Einem "Kriegsgefangenen" werden Hosenträger und Schnürsenkel durchtrennt und alle Knöpfe abgeschnitten. "Wir sperren ihn in eine Höhle, dann müssen wir alle reinfurzen, dann ist er wie in einer Gaskammer", sagt der Kleinste (tatsächlich auch im Original).
Der Geschundene trottet weinend nach Hause, die Hose rutscht ihm in die Kniekehlen. Man legt einen Kriegsschatz von Knöpfen an, die das einzige (!) Mädchen, das mitmachen darf (und sonst das Hauptquartier ausfegt), den Kämpfern annähen muss. Wenn die Jungen abends nach Hause kommen, werden sie von ihren Vätern verprügelt, besonders schlimm der Anführer. In einer Szene wird der Jüngste aber auch von zwei fremden Eltern, die das lustig finden, mit Schnaps abgefüllt. An einem Morgen kommt der Anführer mit blutender Nase und Veilchen in die Schule, weil sein Vater besonders schlimm zugeschlagen hat. Nachdem er ein paar Tage im Wald untergetaucht ist, kommt er ins Internat, das wie ein Gefängnis für Kinder wirkt.
Soll ich aus diesem Film schließen, dass in der französischen Gesellschaft noch zu Beginn der Sechzigerjahre Gewalt gegen Kinder normal war und die Kinder ihrerseits mit Gewalt gegeneinander reagiert haben, bis sie in Besserungsanstalten gesteckt wurden? Dass zudem die traditionellen Geschlechterrollen schon unter Kindern festgelegt waren? Und dass alle Erwachsenen Alkoholiker waren?
Dabei ist der Film als Komödie gemeint und will von einem im Verschwinden begriffenen, nostalgisch besetzten ländlichen Frankreich erzählen. Ich gucke mit meinen Kindern in Zukunft aber trotzdem lieber wieder die DEFA-Serie "Spuk unterm Riesenrad", davon habe ich hier neulich schon erzählt. Drei Enkel helfen ihrem Opa, der eine Geisterbahn betreibt, drei Geisterbahnfiguren werden lebendig: ein Versuch, Märchenwelt und Sozialismus zu verbinden, aus der DDR von 1979.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
VON JOCHEN SCHMIDT
Im Literaturbetrieb wird im Moment debattiert, inwiefern die Menschen in der DDR Gewalterfahrungen gemacht haben, die nie aufgearbeitet wurden, was Exzesse in den Neunzigern und heutiges Wahlverhalten erklären soll, sodass es höchste Zeit für ein "DDR-Achtundsechzig" wäre. Das ist eine interessante Frage für Soziologen und Historiker. Literatur ist in meinen Augen nicht der richtige Adressat, wenn Belege für Gesellschaftsanalyse gesucht werden.
Neulich sah ich mit meinen Kindern "Der Krieg der Knöpfe", einen französischen Kinderfilmklassiker von 1961. Er behandelt die über Generationen bestehende Feindschaft zwischen den Kindern der benachbarten Dörfer Longeverne und Velrans, Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Kinder der beiden Lager marschieren singend und mit Holzschwertern in die Schlacht (wie es wenig früher in Deutschland Kinder bei Geländespielen der HJ taten). Einem "Kriegsgefangenen" werden Hosenträger und Schnürsenkel durchtrennt und alle Knöpfe abgeschnitten. "Wir sperren ihn in eine Höhle, dann müssen wir alle reinfurzen, dann ist er wie in einer Gaskammer", sagt der Kleinste (tatsächlich auch im Original).
Der Geschundene trottet weinend nach Hause, die Hose rutscht ihm in die Kniekehlen. Man legt einen Kriegsschatz von Knöpfen an, die das einzige (!) Mädchen, das mitmachen darf (und sonst das Hauptquartier ausfegt), den Kämpfern annähen muss. Wenn die Jungen abends nach Hause kommen, werden sie von ihren Vätern verprügelt, besonders schlimm der Anführer. In einer Szene wird der Jüngste aber auch von zwei fremden Eltern, die das lustig finden, mit Schnaps abgefüllt. An einem Morgen kommt der Anführer mit blutender Nase und Veilchen in die Schule, weil sein Vater besonders schlimm zugeschlagen hat. Nachdem er ein paar Tage im Wald untergetaucht ist, kommt er ins Internat, das wie ein Gefängnis für Kinder wirkt.
Soll ich aus diesem Film schließen, dass in der französischen Gesellschaft noch zu Beginn der Sechzigerjahre Gewalt gegen Kinder normal war und die Kinder ihrerseits mit Gewalt gegeneinander reagiert haben, bis sie in Besserungsanstalten gesteckt wurden? Dass zudem die traditionellen Geschlechterrollen schon unter Kindern festgelegt waren? Und dass alle Erwachsenen Alkoholiker waren?
Dabei ist der Film als Komödie gemeint und will von einem im Verschwinden begriffenen, nostalgisch besetzten ländlichen Frankreich erzählen. Ich gucke mit meinen Kindern in Zukunft aber trotzdem lieber wieder die DEFA-Serie "Spuk unterm Riesenrad", davon habe ich hier neulich schon erzählt. Drei Enkel helfen ihrem Opa, der eine Geisterbahn betreibt, drei Geisterbahnfiguren werden lebendig: ein Versuch, Märchenwelt und Sozialismus zu verbinden, aus der DDR von 1979.
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