Brooklyn, 1986. Nur auf den ersten Blick wirken die Berkmans wie eine intakte Familie. Vater und Patriarch Bernard (Jeff Daniels) war einst ein gefeierter Schriftsteller. Mittlerweile hat er aber zunehmend größere Schwierigkeiten, seine Romane veröffentlicht zu bekommen, was ihn mit seinem unerschütterlichen Ego jedoch nicht davon abhält, sich weiterhin allen anderen überlegen zu fühlen. Mutter Joan (Laura Linney) hat mit ihren literarischen Versuchen indes immer mehr Erfolg, ganz zu Bernards erklärtem Missfallen. Ihre Söhne, der 16-jährige Walt (Jesse Eisenberg) und der 12-jährige Frank (Owen Kline), bemerken von den wachsenden Spannungen nichts. Deshalb fallen sie aus allen Wolken, als ihnen ihre Eltern ihre Trennung bekannt geben und Bernard auszieht. Während er seine attraktive Studentin Lili (Anna Paquin) als Untermieterin aufnimmt und Joan eine Affäre mit dem Tennislehrer Ivan (William Baldwin) beginnt, müssen die Jungen auf sich allein gestellt mit der neuen Situation fertig werden. Eine schmerzhafte, aber auch lehrreiche Angelegenheit für alle Beteiligten - mit Ausnahme des Patriarchen, der absolut unverbesserlich ist. Oder etwa doch nicht?
Bonusmaterial
DVD-Ausstattung / Bonusmaterial: - Kapitel- / Szenenanwahl - Animiertes DVD-Menü - DVD-Menü mit SoundeffektenFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2023Requiem für einen Wal
Berühre mich nicht: Darren Aronofskys ergreifendes Filmdrama "The Whale" über einen modernen Leviathan.
Darren Aronofsky beugt sich wie ein Radiologe über Körper in Not. Immer aufs Neue wendet er sich in seinen Filmen der zugerichteten Physis zu, den gemarterten Drogenabhängigen in "Requiem for a Dream" (2000), den gequälten Ballerinen in "Black Swan" (2010) oder dem Schwangerschaftsbauch in "Mother!" (2017). In seinem neuesten Werk lenkt der New Yorker Regisseur den Blick auf einen krankhaft fettleibigen Mann irgendwo in Idaho. Das klaustrophobische Kammerspiel "The Whale" nach dem preisgekrönten Theaterstück von Samuel D. Hunter spielt nur in einem einzigen Raum, dem Wohnesslebenszimmer des Protagonisten - und Matthew Libatiques Kamera ist auf ihn fixiert wie der Walfänger auf seine Beute.
Tatsächlich ist der Film ein Requiem. Er begleitet Charlie während seiner letzten Lebenstage. Während sein Herz immer mehr versagt, sitzt er bei geschlossenen Fensterläden im Dämmerlicht die meiste Zeit auf seiner Couch. Und wenn er sich schwitzend und keuchend doch einmal aus seinem stoffbezogenen Gefängnis wuchtet, wirkt das in seiner Drastik so schockierend, dass amerikanische Filmkritiker darin einen Skandal ausmachten. Weil Aronofsky und sein herausragender, soeben oscarprämierter Hauptdarsteller Brendan Fraser sich der körpersensiblen Darstellung verweigern. Sie zeigen vielmehr und mit schauriger Faszination jede Falte dieses Körpers.
Das Drama um Frasers modernen Leviathan ist mitunter tatsächlich kaum auszuhalten. Doch würden wir in Aronofskys filmische Falle tappen, wenn auch wir bereit wären, nur dies zu betrachten: die sechshundert Pfund, die Charlie auf die Waage bringt - oder brächte, denn so etwas wie der Gang ins Bad ist für ihn kaum noch möglich. Aber "The Whale" ist ein psychologisch nuanciertes Drama über einen überaus reichhaltigen, komplexen und widersprüchlichen Charakter, der eben auch über die Maßen dick ist. Wie Brendan Fraser das über seinen imposanten Fatsuit hinaus in seiner Darstellung herausarbeitet, mit all seinen Sinnen, seiner Mimik, seiner Komik, das ist großes Schauspielerkino.
Charlie haust wie ein Einsiedler in seiner Wohnung. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich mit Online-Literaturkursen, wobei er die Kamera ausschaltet, um sich vor den Blicken seiner Schüler zu schützen - und umgekehrt. Zumindest eine Freundin ist ihm im analogen Leben geblieben, die resolute Krankenschwester Liz (Hong Chau), die sich kümmert, Essen vorbeibringt und Charlies Herztöne abhört. Das traurige Fundament ihrer Beziehung wird erst im Laufe des Films offenbar.
Eher zufällig stolpert Thomas (Ty Simpkins) in die Wohnung. Der junge Missionar einer sektenähnlichen Gruppe will dann gleich Charlies Seele mit Gottes Hilfe retten, obwohl er selbst in sein eigenes Unglück unheilbar verstrickt ist. Schließlich bricht Ellie (Sadie Sink) wie ein Wirbelsturm über Charlies Reich herein. Sie, die entfremdete Tochter, die ohne Kontakt zum Vater bei der Mutter aufgewachsen ist und gerade von der Highschool zu fliegen droht, verlangt nach Instanthilfe bei ihren Schulaufsätzen. Aus ihrer Verachtung für Charlie macht sie gleichwohl keinen Hehl.
Er hätte sich all die Jahre für sie interessieren können, wirft sie ihm vor, während Charlie, an seinem Junkfood fast erstickend, der zornigen jungen Frau entgegenhält: "Wer will schon, dass ich an seinem Leben teilhabe?" Dieser Charlie verfügt nicht nur über tragikomischen Humor und Anmut, sondern auch über eine Empathie, die selbst jene noch einschließt, die ihm gegenüber Ekel empfinden wie der Pizzalieferant, der einen heimlichen Blick auf ihn erheischt.
Brendan Fraser steht zweifellos im Zentrum des Films - und wie er zugleich Angst, Wut, Ohnmacht und Selbstverachtung in seine Mimik packt, während er mithilfe eines Greifers den Schlüssel vom Boden aufzuheben versucht oder hysterisch kichert, als er entdeckt, dass Elli ihren Zorn in Form eines Haikus ausdrückt, ist faszinierend. Und doch ist "The Whale" kein Einpersonenstück, sondern eine Ensembleleistung. Und der Star von Mainstream-Filmen wie "Die Mumie" oder "George - Der aus dem Dschungel kam" kann nur inmitten von Sadie Sinks verletzter Renitenz, Ty Simpkins' existenzieller Verlorenheit oder Hong Chaus verzweifeltem Pragmatismus die Tiefe seiner Figur entwickeln.
Nicht zuletzt führen alle hier einen ähnlichen Kampf, nur dass den anderen ihre Bedürftigkeit nicht direkt auf den Leib geschrieben ist wie Charlie. Doch auch sie werden gequält von Trauer und Verlassenheitsängsten und sehnen sich nach Zuwendung und Anerkennung. Wie der Walfänger Ahab in Melvilles Roman "Moby Dick", auf den alles hier zuläuft, verlieren auch sie immer wieder ihr Ziel aus den Augen, weil sie sich zu sehr auf die Oberfläche konzentrieren, statt zu erkennen, was darunterliegt. Und so wie die great american novel "Moby Dick" von sehr viel mehr handelt als nur von Walfang, puzzelt "The Whale" mit seinen thematischen Versatzstücken über Familie, Religion und einem versagenden Bildungssystem zuletzt das Porträt der abgehängten amerikanischen Provinz der Gegenwart zusammen.
Dieses Kunststück gelingt dem Film an nur einem einzigen Schauplatz. Die reale Welt wird hier über den permanent laufenden Fernseher eingespielt. Aber auch die literarische Referenz findet Eingang, wenn es in der Wohnung so dunkel ist wie in einer Schiffskajüte und die Kamera wankt, als befänden wir uns an Deck, während draußen ein sintflutartiger Regen niedergeht wie auf dem Ozean.
Zuletzt schließt auch die zunächst unbekannte Autorschaft eines Melville-Aufsatzes die Erzählung noch einmal neu auf. Charlie kann den Text auswendig, der argumentiert, dass Melville mit seiner seitenlangen Beschreibung der Wale eigentlich nur von seiner eigenen Traurigkeit ablenken will. Zweifellos ist "The Whale" ein Drahtseilakt, der manche zu der Aussage veranlasste, Fraser habe den Oscar nicht wegen, sondern trotz des Films bekommen. Tatsächlich liefert Aronofsky eine ergreifende Reflexion über Schuld, Sexualität und Scham, ein Drama, das eine Selbstzerstörung ausbreitet, die keine Erlösung findet, unabhängig davon, wie sehr wir uns nach Mitgefühl sehnen. SANDRA KEGEL
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Berühre mich nicht: Darren Aronofskys ergreifendes Filmdrama "The Whale" über einen modernen Leviathan.
Darren Aronofsky beugt sich wie ein Radiologe über Körper in Not. Immer aufs Neue wendet er sich in seinen Filmen der zugerichteten Physis zu, den gemarterten Drogenabhängigen in "Requiem for a Dream" (2000), den gequälten Ballerinen in "Black Swan" (2010) oder dem Schwangerschaftsbauch in "Mother!" (2017). In seinem neuesten Werk lenkt der New Yorker Regisseur den Blick auf einen krankhaft fettleibigen Mann irgendwo in Idaho. Das klaustrophobische Kammerspiel "The Whale" nach dem preisgekrönten Theaterstück von Samuel D. Hunter spielt nur in einem einzigen Raum, dem Wohnesslebenszimmer des Protagonisten - und Matthew Libatiques Kamera ist auf ihn fixiert wie der Walfänger auf seine Beute.
Tatsächlich ist der Film ein Requiem. Er begleitet Charlie während seiner letzten Lebenstage. Während sein Herz immer mehr versagt, sitzt er bei geschlossenen Fensterläden im Dämmerlicht die meiste Zeit auf seiner Couch. Und wenn er sich schwitzend und keuchend doch einmal aus seinem stoffbezogenen Gefängnis wuchtet, wirkt das in seiner Drastik so schockierend, dass amerikanische Filmkritiker darin einen Skandal ausmachten. Weil Aronofsky und sein herausragender, soeben oscarprämierter Hauptdarsteller Brendan Fraser sich der körpersensiblen Darstellung verweigern. Sie zeigen vielmehr und mit schauriger Faszination jede Falte dieses Körpers.
Das Drama um Frasers modernen Leviathan ist mitunter tatsächlich kaum auszuhalten. Doch würden wir in Aronofskys filmische Falle tappen, wenn auch wir bereit wären, nur dies zu betrachten: die sechshundert Pfund, die Charlie auf die Waage bringt - oder brächte, denn so etwas wie der Gang ins Bad ist für ihn kaum noch möglich. Aber "The Whale" ist ein psychologisch nuanciertes Drama über einen überaus reichhaltigen, komplexen und widersprüchlichen Charakter, der eben auch über die Maßen dick ist. Wie Brendan Fraser das über seinen imposanten Fatsuit hinaus in seiner Darstellung herausarbeitet, mit all seinen Sinnen, seiner Mimik, seiner Komik, das ist großes Schauspielerkino.
Charlie haust wie ein Einsiedler in seiner Wohnung. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich mit Online-Literaturkursen, wobei er die Kamera ausschaltet, um sich vor den Blicken seiner Schüler zu schützen - und umgekehrt. Zumindest eine Freundin ist ihm im analogen Leben geblieben, die resolute Krankenschwester Liz (Hong Chau), die sich kümmert, Essen vorbeibringt und Charlies Herztöne abhört. Das traurige Fundament ihrer Beziehung wird erst im Laufe des Films offenbar.
Eher zufällig stolpert Thomas (Ty Simpkins) in die Wohnung. Der junge Missionar einer sektenähnlichen Gruppe will dann gleich Charlies Seele mit Gottes Hilfe retten, obwohl er selbst in sein eigenes Unglück unheilbar verstrickt ist. Schließlich bricht Ellie (Sadie Sink) wie ein Wirbelsturm über Charlies Reich herein. Sie, die entfremdete Tochter, die ohne Kontakt zum Vater bei der Mutter aufgewachsen ist und gerade von der Highschool zu fliegen droht, verlangt nach Instanthilfe bei ihren Schulaufsätzen. Aus ihrer Verachtung für Charlie macht sie gleichwohl keinen Hehl.
Er hätte sich all die Jahre für sie interessieren können, wirft sie ihm vor, während Charlie, an seinem Junkfood fast erstickend, der zornigen jungen Frau entgegenhält: "Wer will schon, dass ich an seinem Leben teilhabe?" Dieser Charlie verfügt nicht nur über tragikomischen Humor und Anmut, sondern auch über eine Empathie, die selbst jene noch einschließt, die ihm gegenüber Ekel empfinden wie der Pizzalieferant, der einen heimlichen Blick auf ihn erheischt.
Brendan Fraser steht zweifellos im Zentrum des Films - und wie er zugleich Angst, Wut, Ohnmacht und Selbstverachtung in seine Mimik packt, während er mithilfe eines Greifers den Schlüssel vom Boden aufzuheben versucht oder hysterisch kichert, als er entdeckt, dass Elli ihren Zorn in Form eines Haikus ausdrückt, ist faszinierend. Und doch ist "The Whale" kein Einpersonenstück, sondern eine Ensembleleistung. Und der Star von Mainstream-Filmen wie "Die Mumie" oder "George - Der aus dem Dschungel kam" kann nur inmitten von Sadie Sinks verletzter Renitenz, Ty Simpkins' existenzieller Verlorenheit oder Hong Chaus verzweifeltem Pragmatismus die Tiefe seiner Figur entwickeln.
Nicht zuletzt führen alle hier einen ähnlichen Kampf, nur dass den anderen ihre Bedürftigkeit nicht direkt auf den Leib geschrieben ist wie Charlie. Doch auch sie werden gequält von Trauer und Verlassenheitsängsten und sehnen sich nach Zuwendung und Anerkennung. Wie der Walfänger Ahab in Melvilles Roman "Moby Dick", auf den alles hier zuläuft, verlieren auch sie immer wieder ihr Ziel aus den Augen, weil sie sich zu sehr auf die Oberfläche konzentrieren, statt zu erkennen, was darunterliegt. Und so wie die great american novel "Moby Dick" von sehr viel mehr handelt als nur von Walfang, puzzelt "The Whale" mit seinen thematischen Versatzstücken über Familie, Religion und einem versagenden Bildungssystem zuletzt das Porträt der abgehängten amerikanischen Provinz der Gegenwart zusammen.
Dieses Kunststück gelingt dem Film an nur einem einzigen Schauplatz. Die reale Welt wird hier über den permanent laufenden Fernseher eingespielt. Aber auch die literarische Referenz findet Eingang, wenn es in der Wohnung so dunkel ist wie in einer Schiffskajüte und die Kamera wankt, als befänden wir uns an Deck, während draußen ein sintflutartiger Regen niedergeht wie auf dem Ozean.
Zuletzt schließt auch die zunächst unbekannte Autorschaft eines Melville-Aufsatzes die Erzählung noch einmal neu auf. Charlie kann den Text auswendig, der argumentiert, dass Melville mit seiner seitenlangen Beschreibung der Wale eigentlich nur von seiner eigenen Traurigkeit ablenken will. Zweifellos ist "The Whale" ein Drahtseilakt, der manche zu der Aussage veranlasste, Fraser habe den Oscar nicht wegen, sondern trotz des Films bekommen. Tatsächlich liefert Aronofsky eine ergreifende Reflexion über Schuld, Sexualität und Scham, ein Drama, das eine Selbstzerstörung ausbreitet, die keine Erlösung findet, unabhängig davon, wie sehr wir uns nach Mitgefühl sehnen. SANDRA KEGEL
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