München zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts: Der Schriftsteller Gustav Aschenbach befindet sich auf der Höhe seines Ruhms. Geadelt vom Kaiser, ist er der Repräsentant der neoklassischen Literaturbewegung und Verfechter rigoroser spießbürgerlicher Moralvorstellungen. Allerdings treibt ihn eine
große innere Unruhe in die Ferne. Sein Weg führt ihn auf eine Urlaubsreise in Venedig, während der er…mehrMünchen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts: Der Schriftsteller Gustav Aschenbach befindet sich auf der Höhe seines Ruhms. Geadelt vom Kaiser, ist er der Repräsentant der neoklassischen Literaturbewegung und Verfechter rigoroser spießbürgerlicher Moralvorstellungen. Allerdings treibt ihn eine große innere Unruhe in die Ferne. Sein Weg führt ihn auf eine Urlaubsreise in Venedig, während der er sich in einen polnischen Knaben namens Tadzio verliebt. Jedoch will er seine homosexuelle Neigung lange nicht wahrhaben: Sein Hingezogensein zu Tadzio verbrämt er als ästhetisches Interesse eines Künstlers an seinem Objekt. Dennoch brodelt es hinter seiner großbürgerlichen Fassade immer weiter. Als die Pest in Venedig ausbricht, bleibt Aschenbach wider alle Vernunft in der Stadt, wo er Tadzio immer enthemmter nachstellt und sich schließlich als verliebter alter Narr der Lächerlichkeit preisgibt. Am Ende stirbt er, augenscheinlich an der Pest, im Grunde geht er aber an seinen inneren Widersprüchen zugrunde. So verläuft die Handlung in der Novelle „Tod in Venedig“, einer der bekanntesten Schriften des Nobelpreisträgers Thomas Mann. Die intensiven Schilderungen der Abgründe und der Gefährdungen menschlicher Identität sind von zeitloser Aktualität, die Novelle regte andere Künstler immer wieder zu Auseinandersetzungen mit dem Werk an. Die berühmteste, geradezu kongeniale Bearbeitung des Stoffes stammt vom italienischen Filmemacher Luchino Visconti. Dabei macht die Übertragung eines literarischen Texts in die Ausdrucksmöglichkeiten des Films gewisse Überarbeitungen des Inhalts nötig: So reduziert Visconti beispielsweise die bei Mann sehr intensiv geführte Auseinandersetzung mit der platonischen Philosophie auf vereinzelte Rückblenden. Auch die vom Autor so meisterhaft ins Wort gebrachte hintergründige Ironie entzieht sich einer adäquaten filmischen Umsetzung. Andererseits gelingt es Visconti mit einem wirklichen Geniestreich, einen tieferen Zusammenhang der Novelle mit dem Gesamtwerk Manns herzustellen, indem er nämlich in seinen Film Motive aus dem Roman „Dr. Faustus“ mit einbezieht. So wird Aschenbach bei ihm zu einem erfolglosen Komponisten, und auch die aus dem Roman bekannte Figur der Prostituierten Esmeralda tritt im Film auf. Damit zeigt Visconti, dass sein Deutungsansatz der Novelle über das Werk hinausgeht und er das ganze Schaffen Manns im Blick hat. Das ist ein voll berechtigter Gedanke, wenn man bedenkt, dass Thomas Mann viel von sich selbst in die Figur Aschenbach hineingepackt hat. Er wollte also offensichtlich, dass eine Auseinandersetzung mit Aschenbach immer zugleich eine Konfrontation mit seiner eigenen Künstlerpersönlichkeit provoziert. Hinsichtlich der filmischen Umsetzung ist weiterhin anzumerken, dass Visconti, unzweifelhaft einer der größten Meister der bewegten Bilder, die Stärken seines Mediums voll auszuspielen vermag: So verstärkt die visuelle Dominanz von mattem Grau die auch in den Schilderungen Manns greifbare Atmosphäre des morbiden und dekadenten Venedigs. Die personelle Besetzung ist vorbildlich: Aschenbach wird eindrucksvoll gespielt von Dirk Bogarde, den jungen Tadzio verkörpert Björn Andresen, wie wenn ihn Thomas Mann vor Augen gehabt hätte. Auch die in der Novelle anzutreffenden „Todesboten“, also Personen, die auf den Tod des Protagonisten vorausdeuten, werden von Visconti sehr eindrücklich in Szene gesetzt. Besonders effektvoll ist die Einbeziehung musikalischer Elemente. Dabei greift der Regisseur gerne zu Mahler-Stücken, was ja auch kein Zufall ist, weil Mann selbst seiner Figur Aschenbach Züge dieses Komponisten mitgab. Fazit: Man darf keine detaillierte Umsetzung der Novelle erwarten, vielmehr schafft Visconti ein Kunstwerk ganz eigener Art und mit ganz eigenem Anspruch. Dennoch ist der Vergleich zwischen Text und Film zu empfehlen, da er den Blick für die Eigenheiten der beiden großartigen Künstler schärft. Auf jeden Fall ist der Film ein Leckerbissen für jeden cineastischen Feinschmecker.