Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.1996Alles Fleisch, es ist wie Gras
Der Mensch als Schreibübung Gottes: Peter Greenaways schwarzes Filmevangelium "Bettlektüre"
Die Zehn Gebote umfassen in der Bibel nur siebzehn Verse. Cecil B. DeMille hat trotzdem einen abendfüllenden Film daraus gemacht. Peter Greenaway ist mit seinem Film "Die Bettlektüre" (The Pillow Book) ein ähnlicher Coup gelungen. Das Kopfkissenbuch der Sei Shonagon ist eine Sammlung von Aufzeichnungen, deren Kennzeichen ihre Kürze ist. Die Autorin, eine Hofdame der japanischen Kaiserin Sadako, hielt um das Jahr 1000 Beobachtungen aus ihrem Alltag fest, formulierte Maximen eines der Selbstkultivierung geweihten Lebens im Müßiggang. Man darf das Lehrhafte freilich nicht überschätzen. Was als Regel daherkommt, fixiert oft nur einen sinnlichen Eindruck, einen schönen Anblick oder einen abstoßenden Geruch. Es liegt nahe, diese Poetik der Flüchtigkeit als Vertreterin jener Freiheit zu verstehen, die im reglementierten Hofleben unmöglich war. Den Abläufen der Etikette entspringt plötzlich ein kostbarer Augenblick. Die Dichterin bewahrt den Moment, ja erzeugt ihn erst, indem sie ihn mit Worten markiert, von denen keines zufällig ist. Scheinbar ist ihr Schreiben formlos. Es kommt ohne Arabesken und ohne Signale der Selbstreflexion aus. Aber im Absehen von allem Überflüssigen triumphiert die aristokratische Kunst über das vulgäre Leben.
Man kann nachvollziehen, was Greenaway an dieser Kunstübung fasziniert hat. Das Kopfkissenbuch wirkt wie eine Loseblattsammlung. Es bildet nicht die kosmische Hierarchie oder die Rangfolge der Hofämter ab. Ordnung schafft allein die Subjektivität der Autorin. Greenaway hat die Souveränität des Künstlers gefeiert, der gerade dann den Erscheinungen sein Gesetz aufprägt, wenn er sie am genauesten abzeichnet. Die Klassifikationen der Wissenschaft verbergen die Subjektivität des menschlichen Zugriffs auf die Welt; der Künstler holt sie ans Licht, indem er die Wissenschaft parodiert. So gefällt sich Greenaway darin, die Willkür lexikalischer Ordnungen aufzudecken. Im Mantel des Universalgelehrten, dessen Welthunger unersättlich scheint, steckt ein Nominalist, dem nur die eigene Freiheit gewiß ist.
Ein Lieblingsspielzeug Greenaways hat schon Sei Shonagon vergnügt: die Liste. Sie zählt beispielsweise auf, was süße Erinnerungen weckt, worauf man mit Ungeduld wartet, was im Haus vorhanden sein muß und was einen schlampigen Eindruck macht. Leider hat Greenaway eine Regel nicht bedacht: Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe. Greenaways Listen sind offen. Die Beliebigkeit jeder Auswahl soll demonstriert werden, daher könnte der Autor jederzeit noch ein Element anfügen. Daß "Drowning by Numbers" in hundert Sequenzen zerlegt ist, soll nicht die Überlegenheit des Dezimalsystems beweisen; es könnten auch 121 oder 144 sein. Sei Shonagons Listen sind abgeschlossen. Greenaway verspricht, daß er immer noch weitere Wunderdinge herbeischaffen kann. Sei Shonagon ist die Ruhe selbst. Sie weiß, was im Haus vorhanden sein muß, und muß es nicht verlassen. Die Punkte auf ihren Listen erscheinen nicht nacheinander und löschen einander nicht aus. Sie stehen nebeneinander; jeder hat seinen eigenen Wert.
Diese Kostbarkeit jeder Mitteilung muß man sich aus den materiellen Bedingungen der Produktion erklären, gerade aus jenem Aspekt, der Greenaway an der japanischen Literatur am meisten interessiert. Das Kopfkissenbuch entstand, als die Kaiserin der Hofdame ein Bündel erlesensten Papiers schenkte. Die Knappheit zwingt zu äußerster Konzentration; sie ist die materielle Voraussetzung der formalen Vollendung. Peter Greenaways Ästhetik der Verausgabung beruht dagegen auf der Annahme der Unerschöpflichkeit des Materials. Auch er hat Freude an erlesenen Stoffen, doch berauscht er sich nicht am Mangel, sondern am Überfluß. Seine Schatztruhen der Spezialeffekte sind niemals leer, und ihr Inhalt ergießt sich über die Zuschauer wie das Rote Meer über die Soldaten des Pharaos. Die moderne Technik ermöglicht Greenaway eine endlose Multiplikation der Bilder, die nebeneinander, gegeneinander und ineinander laufen. Zwingend ist das Ergebnis nicht. Wäre Sei Shonagon die Erbin einer Papierfabrik gewesen, hätte sie das Kopfkissenbuch nie geschrieben.
Nun gehört der Exzeß seit je zu Greenaways Kunstmitteln. Er markiert das Äußerste der künstlerischen Produktion: Im Moment, da die Kunst die Welt verschlingt, zerläuft sie ins Grenzenlose. Im Bauch des Architekten rumorte der Widerstreit von klassischer Form und wuchernder Imagination. Der Koch und der Dieb standen für die bewußte und die unbewußte Seite der Produktivität, Komposition und Verdauung. Der neue Film setzt diese Metaphysik der Kunst fort durch den Gedanken der Identität des Künstlers mit dem Weltschöpfer. Aus Gottes Sicht ist die Vorstellung in der Tat plausibel, daß die Natur unerschöpflich ist und Form nur durch Übertreibung, nicht durch Aussparung zu erzeugen ist. Nur den Menschen liegt diese Idee fern, die ihr Dasein unter Knappheitsbedingungen fristen. Aus den antihumanistischen Prämissen von Greenaways Kunst, die Kritiker wie David Thomson seit je stört, zieht dieser Film die letzte Konsequenz. Auch in Greenaways Kopfkissenbuch ist der Schreibstoff das kostbarste Papier, das es gibt. Es handelt sich um Menschenhaut.
Eine junge Japanerin (Vivian Wu), die sich mit Sei Shonagon identifiziert, sucht einen Liebhaber, der ihren Körper beschreibt. Ihre Erlebnisse schreibt sie in ein Buch. Wenn sie die Kalligraphen dirigiert, ist sie diejenige, die den Text vorgibt. Es gibt keine Kunst, die man nicht selber schafft. Daher vollzieht die Diaristin einen Rollentausch. In der zweiten Hälfte des Films schreibt sie Gedichte auf männliche Körper. Einem homosexuellen Verleger (Yoshi Oida) schickt sie nackte Männer ins Haus, deren Leiber man lesen kann. Der letzte Bote verkündet dem Buchliebhaber den Tod. Er hatte seinem toten Geliebten (Ewan McGregor), der auch der Geliebte der Dichterin gewesen war, die Haut abgezogen und zu einem Buch binden lassen, seinem Kopfkissenbuch. Jeder Mensch glaubt, daß er einzigartig ist. Eine höhere Ansicht enthüllt diesen Glauben als Illusion. Für Gott und für den Künstler sind die Menschen nur der Beschreibstoff, der ihre Botschaften transportiert.
Dieses schwarze Evangelium könnte man moralisch mißbilligen und dennoch ästhetisch bewundern. Leider geht dem Film aber jene Geschlossenheit der älteren Werke ab, die das Formlose und Ekelhafte erst zur Wirkung brachte. Das Thema der Kalligraphie hätte den Meister lehren sollen, jedem Bild seine Bedeutung zu geben. Schönschreiben ist in Japan eine Kunst, weil im Schriftzeichen noch das Bild erkannt wird. Die Geduld, die ein Zeichen eine Weile für die Sache stehen läßt und nicht sogleich durch ein anderes ersetzt, geht Greenaway ab. Er verwendet Kalligraphie und auch die eigene Bildsprache wie die westliche Lautschrift, in der das einzelne Zeichen keine eigene Würde und nur zufällig eine sinnliche Form hat. Dieser Abstraktion im Entwurf konstrastiert zu allem Überfluß ein drastischer Realismus im erotischen Detail. Die weise Hofdame Sei Shonagon wußte, wieso sie sich nur Wortbilder ihrer Geliebten unters Kopfkissen legte. Ihr Buch enthält auch eine Liste der Gegenstände, die verlieren, wenn man sie malt. Dazu gehören "die Gesichter von Männern und Frauen, deren Schönheit man in Romanen rühmt". PATRICK BAHNERS
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Der Mensch als Schreibübung Gottes: Peter Greenaways schwarzes Filmevangelium "Bettlektüre"
Die Zehn Gebote umfassen in der Bibel nur siebzehn Verse. Cecil B. DeMille hat trotzdem einen abendfüllenden Film daraus gemacht. Peter Greenaway ist mit seinem Film "Die Bettlektüre" (The Pillow Book) ein ähnlicher Coup gelungen. Das Kopfkissenbuch der Sei Shonagon ist eine Sammlung von Aufzeichnungen, deren Kennzeichen ihre Kürze ist. Die Autorin, eine Hofdame der japanischen Kaiserin Sadako, hielt um das Jahr 1000 Beobachtungen aus ihrem Alltag fest, formulierte Maximen eines der Selbstkultivierung geweihten Lebens im Müßiggang. Man darf das Lehrhafte freilich nicht überschätzen. Was als Regel daherkommt, fixiert oft nur einen sinnlichen Eindruck, einen schönen Anblick oder einen abstoßenden Geruch. Es liegt nahe, diese Poetik der Flüchtigkeit als Vertreterin jener Freiheit zu verstehen, die im reglementierten Hofleben unmöglich war. Den Abläufen der Etikette entspringt plötzlich ein kostbarer Augenblick. Die Dichterin bewahrt den Moment, ja erzeugt ihn erst, indem sie ihn mit Worten markiert, von denen keines zufällig ist. Scheinbar ist ihr Schreiben formlos. Es kommt ohne Arabesken und ohne Signale der Selbstreflexion aus. Aber im Absehen von allem Überflüssigen triumphiert die aristokratische Kunst über das vulgäre Leben.
Man kann nachvollziehen, was Greenaway an dieser Kunstübung fasziniert hat. Das Kopfkissenbuch wirkt wie eine Loseblattsammlung. Es bildet nicht die kosmische Hierarchie oder die Rangfolge der Hofämter ab. Ordnung schafft allein die Subjektivität der Autorin. Greenaway hat die Souveränität des Künstlers gefeiert, der gerade dann den Erscheinungen sein Gesetz aufprägt, wenn er sie am genauesten abzeichnet. Die Klassifikationen der Wissenschaft verbergen die Subjektivität des menschlichen Zugriffs auf die Welt; der Künstler holt sie ans Licht, indem er die Wissenschaft parodiert. So gefällt sich Greenaway darin, die Willkür lexikalischer Ordnungen aufzudecken. Im Mantel des Universalgelehrten, dessen Welthunger unersättlich scheint, steckt ein Nominalist, dem nur die eigene Freiheit gewiß ist.
Ein Lieblingsspielzeug Greenaways hat schon Sei Shonagon vergnügt: die Liste. Sie zählt beispielsweise auf, was süße Erinnerungen weckt, worauf man mit Ungeduld wartet, was im Haus vorhanden sein muß und was einen schlampigen Eindruck macht. Leider hat Greenaway eine Regel nicht bedacht: Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe. Greenaways Listen sind offen. Die Beliebigkeit jeder Auswahl soll demonstriert werden, daher könnte der Autor jederzeit noch ein Element anfügen. Daß "Drowning by Numbers" in hundert Sequenzen zerlegt ist, soll nicht die Überlegenheit des Dezimalsystems beweisen; es könnten auch 121 oder 144 sein. Sei Shonagons Listen sind abgeschlossen. Greenaway verspricht, daß er immer noch weitere Wunderdinge herbeischaffen kann. Sei Shonagon ist die Ruhe selbst. Sie weiß, was im Haus vorhanden sein muß, und muß es nicht verlassen. Die Punkte auf ihren Listen erscheinen nicht nacheinander und löschen einander nicht aus. Sie stehen nebeneinander; jeder hat seinen eigenen Wert.
Diese Kostbarkeit jeder Mitteilung muß man sich aus den materiellen Bedingungen der Produktion erklären, gerade aus jenem Aspekt, der Greenaway an der japanischen Literatur am meisten interessiert. Das Kopfkissenbuch entstand, als die Kaiserin der Hofdame ein Bündel erlesensten Papiers schenkte. Die Knappheit zwingt zu äußerster Konzentration; sie ist die materielle Voraussetzung der formalen Vollendung. Peter Greenaways Ästhetik der Verausgabung beruht dagegen auf der Annahme der Unerschöpflichkeit des Materials. Auch er hat Freude an erlesenen Stoffen, doch berauscht er sich nicht am Mangel, sondern am Überfluß. Seine Schatztruhen der Spezialeffekte sind niemals leer, und ihr Inhalt ergießt sich über die Zuschauer wie das Rote Meer über die Soldaten des Pharaos. Die moderne Technik ermöglicht Greenaway eine endlose Multiplikation der Bilder, die nebeneinander, gegeneinander und ineinander laufen. Zwingend ist das Ergebnis nicht. Wäre Sei Shonagon die Erbin einer Papierfabrik gewesen, hätte sie das Kopfkissenbuch nie geschrieben.
Nun gehört der Exzeß seit je zu Greenaways Kunstmitteln. Er markiert das Äußerste der künstlerischen Produktion: Im Moment, da die Kunst die Welt verschlingt, zerläuft sie ins Grenzenlose. Im Bauch des Architekten rumorte der Widerstreit von klassischer Form und wuchernder Imagination. Der Koch und der Dieb standen für die bewußte und die unbewußte Seite der Produktivität, Komposition und Verdauung. Der neue Film setzt diese Metaphysik der Kunst fort durch den Gedanken der Identität des Künstlers mit dem Weltschöpfer. Aus Gottes Sicht ist die Vorstellung in der Tat plausibel, daß die Natur unerschöpflich ist und Form nur durch Übertreibung, nicht durch Aussparung zu erzeugen ist. Nur den Menschen liegt diese Idee fern, die ihr Dasein unter Knappheitsbedingungen fristen. Aus den antihumanistischen Prämissen von Greenaways Kunst, die Kritiker wie David Thomson seit je stört, zieht dieser Film die letzte Konsequenz. Auch in Greenaways Kopfkissenbuch ist der Schreibstoff das kostbarste Papier, das es gibt. Es handelt sich um Menschenhaut.
Eine junge Japanerin (Vivian Wu), die sich mit Sei Shonagon identifiziert, sucht einen Liebhaber, der ihren Körper beschreibt. Ihre Erlebnisse schreibt sie in ein Buch. Wenn sie die Kalligraphen dirigiert, ist sie diejenige, die den Text vorgibt. Es gibt keine Kunst, die man nicht selber schafft. Daher vollzieht die Diaristin einen Rollentausch. In der zweiten Hälfte des Films schreibt sie Gedichte auf männliche Körper. Einem homosexuellen Verleger (Yoshi Oida) schickt sie nackte Männer ins Haus, deren Leiber man lesen kann. Der letzte Bote verkündet dem Buchliebhaber den Tod. Er hatte seinem toten Geliebten (Ewan McGregor), der auch der Geliebte der Dichterin gewesen war, die Haut abgezogen und zu einem Buch binden lassen, seinem Kopfkissenbuch. Jeder Mensch glaubt, daß er einzigartig ist. Eine höhere Ansicht enthüllt diesen Glauben als Illusion. Für Gott und für den Künstler sind die Menschen nur der Beschreibstoff, der ihre Botschaften transportiert.
Dieses schwarze Evangelium könnte man moralisch mißbilligen und dennoch ästhetisch bewundern. Leider geht dem Film aber jene Geschlossenheit der älteren Werke ab, die das Formlose und Ekelhafte erst zur Wirkung brachte. Das Thema der Kalligraphie hätte den Meister lehren sollen, jedem Bild seine Bedeutung zu geben. Schönschreiben ist in Japan eine Kunst, weil im Schriftzeichen noch das Bild erkannt wird. Die Geduld, die ein Zeichen eine Weile für die Sache stehen läßt und nicht sogleich durch ein anderes ersetzt, geht Greenaway ab. Er verwendet Kalligraphie und auch die eigene Bildsprache wie die westliche Lautschrift, in der das einzelne Zeichen keine eigene Würde und nur zufällig eine sinnliche Form hat. Dieser Abstraktion im Entwurf konstrastiert zu allem Überfluß ein drastischer Realismus im erotischen Detail. Die weise Hofdame Sei Shonagon wußte, wieso sie sich nur Wortbilder ihrer Geliebten unters Kopfkissen legte. Ihr Buch enthält auch eine Liste der Gegenstände, die verlieren, wenn man sie malt. Dazu gehören "die Gesichter von Männern und Frauen, deren Schönheit man in Romanen rühmt". PATRICK BAHNERS
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