Danzig 1927. Der äußerst frühreife und hellwache Oskar ist gerade erst drei Jahre alt geworden. Und doch ist ihm bereits klar: Das kleinbürgerliche Leben der Erwachsenen kann und will er so nicht akzeptieren. Er hört einfach auf zu wachsen. Leidenschaftlich protestiert der anarchische Zwerg fortan auf seiner Blechtrommel gegen fanatische Nazis und deren feige Mitläufer. Immer wieder erhebt er seine Stimme gegen die muffigen Spießer der Weimarer Republik und deren derbe Erotik. So schrill, bis Glas springt. Erst als nach dem Krieg eine menschlichere Zeit beginnt, beschließt Oskar wieder am Leben teilzunehmen und wächst weiter.
Bonusmaterial
- Die Blechtrommel Erinnerungen von Volker Schlöndorff - Alle Filme der Edition im ÜberblickFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2010Danzig sehen und sterben
Zirkus Schlöndorff: Auch von der "Blechtrommel" gibt es jetzt einen Director's Cut
Volker Schlöndorff: Die Blechtrommel - Director's Cut.
Arthaus; 156 Minuten. Deutsch. Extras: Features, Interviews, Storyboard, Fotogalerie.
Seit es die DVD gibt, ist es mit der Endgültigkeit der Filmgeschichte vorbei. Alles, was in den letzten Jahrzehnten gedreht wurde und nicht gänzlich vergessen ist, bekommt jetzt seine zweite historische Chance - den Director's Cut. Ein Stroheim müsste heute nicht mehr klagen, die Filmindustrie schände die Leiche seines toten Kindes. Das Kinokind, erschaffen vom Regisseur, abgetrieben von Produzenten und Verleihern, darf in den Tiefen der schillernden Scheibe wiederauferstehen, rein und vollständig wie am ersten Tag. Der Zuschauer aber hat immer öfter die Wahl zwischen zwei Ausgeburten eines Films. Die eine ist die Version, in der er einst das Licht der Leinwand erblickt hat. Die andere zeigt, wie der Film eigentlich hätte aussehen sollen, wenn nicht . . . Dieses Wenn ist entscheidend: Es setzt den Director's Cut von Anfang an in den Konjunktiv. Was wir sehen, ist nicht der Film, der Geschichte gemacht hat, sondern sein nachgereichter Klon, sein Gespenst.
Volker Schlöndorffs "Blechtrommel" nach dem Roman von Günter Grass kam Anfang Mai 1979 in einer Schnittfassung von hundertvierzig Minuten in die deutschen Kinos. Zwei Wochen später gewann der Film in dieser Version in Cannes die Goldene Palme, im Jahr darauf bekam er in Hollywood den Oscar als bester ausländischer Spielfilm. Eine andere Version als die, in der das Publikum von 1979 die "Blechtrommel" sah, hat es nie gegeben. Es gab nur ungeschnittenes Negativmaterial des Films, das in den Kellern eines Berliner Kopierwerks lagerte.
Als Schlöndorff die Rollen vor zwei Jahren wiedersah, entschloss er sich, jene Szenen, die bereits im Rohschnitt entfallen waren, wieder in die Geschichte einzufügen. Der verlorene Ton wurde, zum Teil von den ursprünglichen, jetzt dreißig Jahre älteren Schauspielern, neu eingespielt; nur David Bennents Stimme musste digital auf die Tonhöhe seines damals kindlichen Organs abgesenkt werden, und Katharina Thalbach ließ sich von ihrer Tochter Anna vertreten. Etwa zwanzig Minuten, wenn man den schnelleren Bildlauf der DVD einkalkuliert, hat "Die Blechtrommel" so hinzugewonnen.
Aber hat der Film sie wirklich gewonnen? Oder hängen ihm die reanimierten Bilder wie ein Klotz am Bein? Gleich die erste neue Sequenz ist ein Argument gegen Schlöndorffs Rekonstruktion. Im Wohnzimmer von Gretchen Scheffler tagträumt der kleine Oskar von den Orgien Rasputins. Dazu hält David Bennent mit starrem Blick in die Kamera einen Monolog, in dem er von Oskars Bildungsweg zwischen Goethes "Wahlverwandtschaften" und den Abenteuern des russischen Mönchs erzählt. Im Gegenschnitt sieht man den Drehbuchautor Jean-Claude Carrière mit Bart und Kutte zwischen nackten Komparsinnen herumtanzen. Die Szene ist visuell misslungen und dramaturgisch überflüssig. Deshalb hat Schlöndorff sie vor dreißig Jahren entfernt. Dass er sie jetzt vor dem endgültigen Vergessen retten wollte, ist verständlich, aber falsch.
Dasselbe gilt für ein Bild in der zweiten Hälfte des Films, in dem man eine Gruppe Nonnen, die von deutschen Bunkerbesatzungen am Strand der Normandie erschossen wurden, zum Himmel fahren sieht. Der Regisseur hatte bei der Einstellung, deren Entstehung im Bonus-Feature auf der DVD ausführlich beschrieben wird, offenbar an Buñuel gedacht. Am Schneidetisch kam die Ernüchterung. "Schlussendlich war die Szene nicht im Film", heißt es in Schlöndorffs 2008 erschienenen Erinnerungen "Licht, Schatten und Bewegung", "weil die Nonnen an ihren Schirmen nichts Magisches hatten, nur an ,Mary Poppins' erinnerten . . ." Das kann man nicht treffender sagen.
Andererseits gibt es zwei neue Szenen, durch die der Film eindeutig gewinnt. Die eine zeigt den Selbstmord des Gemüsehändlers Greff, der von David Bennents Vater Heinz gespielt wird. Nachdem die Behörden seiner pädophilen Lust auf die Schliche gekommen sind, erhängt sich der stramme Nazi Greff mit Hilfe eines Kartoffelsacks. Die Einstellung, in der Oskar ihn findet, ist als Halbtotale aufgenommen und in blaues Licht getaucht, als wollten sich Schlöndorff und sein Kameramann Igor Luther gleich doppelt von ihr distanzieren. Noch wichtiger ist eine Episode kurz vor Kriegsende, in der Alfred Matzerath von zwei Gestapo-Schergen besucht wird, die seinen Sohn in eine Euthanasie-Anstalt stecken wollen. Matzerath, auch er bis dahin ein treuer Gefolgsmann Hitlers, weigert sich. Als Oskars Stiefmutter Maria ihn überreden will, bekommt er einen Wutanfall. Mario Adorf, so erzählt Schlöndorff, hat nach den Dreharbeiten mit ihm um diese Szene gerungen. Warum sie im fertigen Film von 1979 dennoch fehlte, erfahren wir leider nicht.
Die letzte rekonstruierte Sequenz wirft schließlich ein ganz neues Licht auf das Ende der Geschichte. Nach der Eroberung Danzigs durch die Rote Armee kommt Herr Fajngold, ein Überlebender des Vernichtungslagers Treblinka, als neuer Eigentümer in den Laden der Matzeraths. Mit ihm ziehen seine tote Frau und seine ermordeten Kinder als Schatten durch die Straßen. In Oskars Elternhaus inspiziert Fajngold die Kellervorräte, lässt sich die Leiche des alten Matzerath zeigen und bietet seiner Witwe an, sie als Angestellte zu übernehmen; doch Maria lehnt ab.
In der Darstellung des polnischen Schauspielers Wojciech Pszoniak ist das ein Kabinettstück, das man nicht mehr missen möchte. Die Tatsache, dass Schlöndorff die Fajngold-Szenen damals letztlich doch für verzichtbar hielt, verrät unvermutet einiges über den Geist dieser Grass-Verfilmung. Das Pittoreske und das Martialische, die im Pferdekopf wimmelnden Aale und die breit inszenierte Eroberung des polnischen Postamts, waren ihm wichtiger als das bittere Aperçu der Enteignung. Vor allem aber wollte er auf keinen Moment aus Oskars Zirkusleben verzichten. Die Episoden, in denen der kleinwüchsige Trommler mit seiner geliebten Roswitha und ihrem Impresario Bebra durch das besetzte Frankreich zieht, wurden dem Film seinerzeit als Ausflug in den Surrealismus gutgeschrieben. Heute wirkt ihre Poesie altbacken. Das Zirzensische zieht nicht mehr, dafür hat das Zeitgeschichtliche an Schärfe gewonnen.
Hat sich dafür die Wiedererweckung gelohnt? Vor dreißig Jahren, in einer anderen Zeit, war "Die Blechtrommel" ein anderer Film. Ihre Neufassung folgt einem Zeitgeschmack, der nicht zufällig seine Freude an Rekonstruktionen aller Art entdeckt hat. In abermals dreißig Jahren wird man vielleicht wieder froh darüber sein, dass der Director's Cut nicht das letzte Wort der Filmgeschichte gewesen ist. Die wirklichen Klassiker des Kinos gibt es sowieso nur in der Version ihrer Produzenten. Ein für allemal.
ANDREAS KILB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zirkus Schlöndorff: Auch von der "Blechtrommel" gibt es jetzt einen Director's Cut
Volker Schlöndorff: Die Blechtrommel - Director's Cut.
Arthaus; 156 Minuten. Deutsch. Extras: Features, Interviews, Storyboard, Fotogalerie.
Seit es die DVD gibt, ist es mit der Endgültigkeit der Filmgeschichte vorbei. Alles, was in den letzten Jahrzehnten gedreht wurde und nicht gänzlich vergessen ist, bekommt jetzt seine zweite historische Chance - den Director's Cut. Ein Stroheim müsste heute nicht mehr klagen, die Filmindustrie schände die Leiche seines toten Kindes. Das Kinokind, erschaffen vom Regisseur, abgetrieben von Produzenten und Verleihern, darf in den Tiefen der schillernden Scheibe wiederauferstehen, rein und vollständig wie am ersten Tag. Der Zuschauer aber hat immer öfter die Wahl zwischen zwei Ausgeburten eines Films. Die eine ist die Version, in der er einst das Licht der Leinwand erblickt hat. Die andere zeigt, wie der Film eigentlich hätte aussehen sollen, wenn nicht . . . Dieses Wenn ist entscheidend: Es setzt den Director's Cut von Anfang an in den Konjunktiv. Was wir sehen, ist nicht der Film, der Geschichte gemacht hat, sondern sein nachgereichter Klon, sein Gespenst.
Volker Schlöndorffs "Blechtrommel" nach dem Roman von Günter Grass kam Anfang Mai 1979 in einer Schnittfassung von hundertvierzig Minuten in die deutschen Kinos. Zwei Wochen später gewann der Film in dieser Version in Cannes die Goldene Palme, im Jahr darauf bekam er in Hollywood den Oscar als bester ausländischer Spielfilm. Eine andere Version als die, in der das Publikum von 1979 die "Blechtrommel" sah, hat es nie gegeben. Es gab nur ungeschnittenes Negativmaterial des Films, das in den Kellern eines Berliner Kopierwerks lagerte.
Als Schlöndorff die Rollen vor zwei Jahren wiedersah, entschloss er sich, jene Szenen, die bereits im Rohschnitt entfallen waren, wieder in die Geschichte einzufügen. Der verlorene Ton wurde, zum Teil von den ursprünglichen, jetzt dreißig Jahre älteren Schauspielern, neu eingespielt; nur David Bennents Stimme musste digital auf die Tonhöhe seines damals kindlichen Organs abgesenkt werden, und Katharina Thalbach ließ sich von ihrer Tochter Anna vertreten. Etwa zwanzig Minuten, wenn man den schnelleren Bildlauf der DVD einkalkuliert, hat "Die Blechtrommel" so hinzugewonnen.
Aber hat der Film sie wirklich gewonnen? Oder hängen ihm die reanimierten Bilder wie ein Klotz am Bein? Gleich die erste neue Sequenz ist ein Argument gegen Schlöndorffs Rekonstruktion. Im Wohnzimmer von Gretchen Scheffler tagträumt der kleine Oskar von den Orgien Rasputins. Dazu hält David Bennent mit starrem Blick in die Kamera einen Monolog, in dem er von Oskars Bildungsweg zwischen Goethes "Wahlverwandtschaften" und den Abenteuern des russischen Mönchs erzählt. Im Gegenschnitt sieht man den Drehbuchautor Jean-Claude Carrière mit Bart und Kutte zwischen nackten Komparsinnen herumtanzen. Die Szene ist visuell misslungen und dramaturgisch überflüssig. Deshalb hat Schlöndorff sie vor dreißig Jahren entfernt. Dass er sie jetzt vor dem endgültigen Vergessen retten wollte, ist verständlich, aber falsch.
Dasselbe gilt für ein Bild in der zweiten Hälfte des Films, in dem man eine Gruppe Nonnen, die von deutschen Bunkerbesatzungen am Strand der Normandie erschossen wurden, zum Himmel fahren sieht. Der Regisseur hatte bei der Einstellung, deren Entstehung im Bonus-Feature auf der DVD ausführlich beschrieben wird, offenbar an Buñuel gedacht. Am Schneidetisch kam die Ernüchterung. "Schlussendlich war die Szene nicht im Film", heißt es in Schlöndorffs 2008 erschienenen Erinnerungen "Licht, Schatten und Bewegung", "weil die Nonnen an ihren Schirmen nichts Magisches hatten, nur an ,Mary Poppins' erinnerten . . ." Das kann man nicht treffender sagen.
Andererseits gibt es zwei neue Szenen, durch die der Film eindeutig gewinnt. Die eine zeigt den Selbstmord des Gemüsehändlers Greff, der von David Bennents Vater Heinz gespielt wird. Nachdem die Behörden seiner pädophilen Lust auf die Schliche gekommen sind, erhängt sich der stramme Nazi Greff mit Hilfe eines Kartoffelsacks. Die Einstellung, in der Oskar ihn findet, ist als Halbtotale aufgenommen und in blaues Licht getaucht, als wollten sich Schlöndorff und sein Kameramann Igor Luther gleich doppelt von ihr distanzieren. Noch wichtiger ist eine Episode kurz vor Kriegsende, in der Alfred Matzerath von zwei Gestapo-Schergen besucht wird, die seinen Sohn in eine Euthanasie-Anstalt stecken wollen. Matzerath, auch er bis dahin ein treuer Gefolgsmann Hitlers, weigert sich. Als Oskars Stiefmutter Maria ihn überreden will, bekommt er einen Wutanfall. Mario Adorf, so erzählt Schlöndorff, hat nach den Dreharbeiten mit ihm um diese Szene gerungen. Warum sie im fertigen Film von 1979 dennoch fehlte, erfahren wir leider nicht.
Die letzte rekonstruierte Sequenz wirft schließlich ein ganz neues Licht auf das Ende der Geschichte. Nach der Eroberung Danzigs durch die Rote Armee kommt Herr Fajngold, ein Überlebender des Vernichtungslagers Treblinka, als neuer Eigentümer in den Laden der Matzeraths. Mit ihm ziehen seine tote Frau und seine ermordeten Kinder als Schatten durch die Straßen. In Oskars Elternhaus inspiziert Fajngold die Kellervorräte, lässt sich die Leiche des alten Matzerath zeigen und bietet seiner Witwe an, sie als Angestellte zu übernehmen; doch Maria lehnt ab.
In der Darstellung des polnischen Schauspielers Wojciech Pszoniak ist das ein Kabinettstück, das man nicht mehr missen möchte. Die Tatsache, dass Schlöndorff die Fajngold-Szenen damals letztlich doch für verzichtbar hielt, verrät unvermutet einiges über den Geist dieser Grass-Verfilmung. Das Pittoreske und das Martialische, die im Pferdekopf wimmelnden Aale und die breit inszenierte Eroberung des polnischen Postamts, waren ihm wichtiger als das bittere Aperçu der Enteignung. Vor allem aber wollte er auf keinen Moment aus Oskars Zirkusleben verzichten. Die Episoden, in denen der kleinwüchsige Trommler mit seiner geliebten Roswitha und ihrem Impresario Bebra durch das besetzte Frankreich zieht, wurden dem Film seinerzeit als Ausflug in den Surrealismus gutgeschrieben. Heute wirkt ihre Poesie altbacken. Das Zirzensische zieht nicht mehr, dafür hat das Zeitgeschichtliche an Schärfe gewonnen.
Hat sich dafür die Wiedererweckung gelohnt? Vor dreißig Jahren, in einer anderen Zeit, war "Die Blechtrommel" ein anderer Film. Ihre Neufassung folgt einem Zeitgeschmack, der nicht zufällig seine Freude an Rekonstruktionen aller Art entdeckt hat. In abermals dreißig Jahren wird man vielleicht wieder froh darüber sein, dass der Director's Cut nicht das letzte Wort der Filmgeschichte gewesen ist. Die wirklichen Klassiker des Kinos gibt es sowieso nur in der Version ihrer Produzenten. Ein für allemal.
ANDREAS KILB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main