Blind und taub geboren, ist die 14-jährige Marie Heurtin unfähig zu jeder Art von Kommunikation. Entgegen dem Rat eines Arztes, der sie für "dumm" hält, kann sich ihr Vater, ein einfacher Handwerker, nicht dazu durchringen, sie in eine Anstalt einzuliefern. Aus Verzweiflung wendet er sich an das Institut Larnay in der Nähe von Poitiers, wo sich Nonnen um taube junge Frauen kümmern.
Trotz der Skepsis der Mutter Oberin nimmt die junge Schwester Marguerite das "wilde kleine Tier" unter ihre Fittiche. Sie tut alles, was in ihrer Macht steht, um Marie der Dunkelheit zu entreißen. Und auch wenn zahlreiche Rückschläge und Enttäuschungen den Weg begleiten und sie manchmal in Versuchung ist, aufzugeben, hat sie schließlich doch Erfolg. Ihre feste Überzeugung, dem Kind helfen zu können, und die Liebe zur kleinen Marie leiten sie.
Trotz der Skepsis der Mutter Oberin nimmt die junge Schwester Marguerite das "wilde kleine Tier" unter ihre Fittiche. Sie tut alles, was in ihrer Macht steht, um Marie der Dunkelheit zu entreißen. Und auch wenn zahlreiche Rückschläge und Enttäuschungen den Weg begleiten und sie manchmal in Versuchung ist, aufzugeben, hat sie schließlich doch Erfolg. Ihre feste Überzeugung, dem Kind helfen zu können, und die Liebe zur kleinen Marie leiten sie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2014Schreib es in die Hand
Jean-Pierre Améris hat über das Leben der taubblinden Marie Heurtin einen beeindruckenden Film gedreht: "Die Sprache des Herzens"
Man muss diesen Film, dessen französisches Original wie die Hauptperson schlicht "Marie Heurtin" heißt, gegen seinen deutschen Verleihtitel in Schutz nehmen. Denn eine Sprache wird in dieser Erzählung aus einem katholischen Internat für gehörlose Mädchen zwar gelernt, aber die der Hände, der Gesten und bestenfalls der Mimik. Zu Herzen mag es freilich gehen, mitzuerleben, wie eine obendrein blinde Vierzehnjährige, die wie eine leibhaftige Schwester von Truffauts Film "Das wilde Kind" Ende des neunzehnten Jahrhunderts von ihren Eltern in der Abtei Larnay bei Poitiers abgeliefert wird, in höchstem Grade ungebärdig, anscheinend keiner Erziehung zugänglich, dank der hingebungsvollen Zuwendung einer Pflegeschwester allmählich lernt, sich mit Handzeichen zu verständigen, obwohl sie diese nicht sehen kann.
Der Fall ist verbürgt. Marie Heurtin gilt im Land ihrer Geburt als so etwas wie eine französische Helen Keller, auch wenn sie, im Gegensatz zu der berühmten Amerikanerin, keine Bücher über ihr Blindsein schrieb. Ob sie bei den Eltern überhaupt eine Erziehung erfahren hatte oder ob die Bauern sie erst wegsperrten und dann froh waren, ihr behindertes Kind bei den frommen Schwestern loszuwerden, bleibt offen. Wie eine Gefangene hat sie der Vater auf den Pferdekarren gefesselt, auf dem das Mädchen, heftig mit den Armen rudernd, zum Himmel starrt, den es nicht sehen kann. Kaum losgebunden, flüchtet Marie auf einen Baum. Schwester Marguerite muss ihr nachklettern und ahnt womöglich schon, als sie die Hand des widerspenstigen Zöglings ergreift, dass dieser Mensch ihre Lebensaufgabe werden wird. Aber auch Marie wird sich dieser Berührung, diesem Zeichen einer fremden Hand, nicht mehr entziehen können.
Wie aus der Begegnung auf dem Baum eine Beziehung erwächst, wie aus dem "wilden Kind", das bei Tisch das Geschirr zerschlägt und mit seinem Geschrei die mittägliche Lesung heftig stört, eines Tages ein sogenannter gesitteter Mensch wird, der Messer und Gabel benutzt, allerdings lange Zeit auf Marguerite fixiert bleibt, das ist das Erlebnis dieses anrührenden und (trotz der musikalischen Daueruntermalung im Mahler-Stil) keinen Moment pathetischen Films. Maries Lernen findet natürlich nicht auf einer Schulbank statt. Erst einmal sieht man da zwei Frauen miteinander heftig ringen, Beine kämpfen mit Beinen, Arme mit Armen, Körper mit Körper, bis Marguerite die Situation unter Kontrolle hat. Der erste Lernschritt ist getan als Marie versteht, dass sie das fehlende Wort für das Taschenmesser, das ihr der Vater als ein Andenken überließ, durch eine Bewegung der Finger ersetzen kann. Alles Sprechen ist ein Be-Zeichnen, deutlicher sah man das nie.
Die intensive Wirkung von "Marie Heurtin" verdankt sich den vorzüglichen Darstellern, der aufmerksam mitgehenden Kamera und der geschickt die Spannung haltenden Dramaturgie, die das Tempo mal verzögert, mal beschleunigt und von jener Pedanterie, die sich beim Nachzeichnen überlieferter Lebensgeschichten leicht einstellen kann, frei bleibt. Wieder hat Améris, dessen Film "Die anonymen Romantiker" auch bei uns lief, die Hauptrolle mit einer Laiendarstellerin besetzt: Die taube Ariana Rivoire täuscht ihre Blindheit vorzüglich vor und macht vor allem aber die Entwicklung dieses Mädchens miterlebbar, seine Zivilisierung vom ungebärdigen Toben bis zum stolzen und zugleich innigen Gesichtsausdruck am Schluss, als Marie über den schlichten Friedhof der Abtei geht. Die Rolle der Marguerite vertraute Améris der erfahrenen Isabelle Carré an, deren Gesicht, dessen herbe Schönheit in der Schwesterntracht noch feiner aufleuchtet, wir aus Arbeiten von Resnais und Ozon kennen.
"Natur, Natur!", möchte man auch angesichts des Schauplatzes ausrufen: die Abtei inmitten eines weiträumigen Landschaftsparks, der für diese Geschichte wie eigens erschaffen scheint. Alles ist Modell, alles Zeichen, eine Rousseau-Welt. "Ich langweile mich nicht mehr, wie früher, schrieb Marie Heurtin später einmal glücklich mit Braille-Schrift in ihr Tagebuch. 1921 hat man sie, erst sechsunddreißig Jahre alt, auf dem Friedhof von Larnay begraben.
HANS-JÖRG ROTHER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jean-Pierre Améris hat über das Leben der taubblinden Marie Heurtin einen beeindruckenden Film gedreht: "Die Sprache des Herzens"
Man muss diesen Film, dessen französisches Original wie die Hauptperson schlicht "Marie Heurtin" heißt, gegen seinen deutschen Verleihtitel in Schutz nehmen. Denn eine Sprache wird in dieser Erzählung aus einem katholischen Internat für gehörlose Mädchen zwar gelernt, aber die der Hände, der Gesten und bestenfalls der Mimik. Zu Herzen mag es freilich gehen, mitzuerleben, wie eine obendrein blinde Vierzehnjährige, die wie eine leibhaftige Schwester von Truffauts Film "Das wilde Kind" Ende des neunzehnten Jahrhunderts von ihren Eltern in der Abtei Larnay bei Poitiers abgeliefert wird, in höchstem Grade ungebärdig, anscheinend keiner Erziehung zugänglich, dank der hingebungsvollen Zuwendung einer Pflegeschwester allmählich lernt, sich mit Handzeichen zu verständigen, obwohl sie diese nicht sehen kann.
Der Fall ist verbürgt. Marie Heurtin gilt im Land ihrer Geburt als so etwas wie eine französische Helen Keller, auch wenn sie, im Gegensatz zu der berühmten Amerikanerin, keine Bücher über ihr Blindsein schrieb. Ob sie bei den Eltern überhaupt eine Erziehung erfahren hatte oder ob die Bauern sie erst wegsperrten und dann froh waren, ihr behindertes Kind bei den frommen Schwestern loszuwerden, bleibt offen. Wie eine Gefangene hat sie der Vater auf den Pferdekarren gefesselt, auf dem das Mädchen, heftig mit den Armen rudernd, zum Himmel starrt, den es nicht sehen kann. Kaum losgebunden, flüchtet Marie auf einen Baum. Schwester Marguerite muss ihr nachklettern und ahnt womöglich schon, als sie die Hand des widerspenstigen Zöglings ergreift, dass dieser Mensch ihre Lebensaufgabe werden wird. Aber auch Marie wird sich dieser Berührung, diesem Zeichen einer fremden Hand, nicht mehr entziehen können.
Wie aus der Begegnung auf dem Baum eine Beziehung erwächst, wie aus dem "wilden Kind", das bei Tisch das Geschirr zerschlägt und mit seinem Geschrei die mittägliche Lesung heftig stört, eines Tages ein sogenannter gesitteter Mensch wird, der Messer und Gabel benutzt, allerdings lange Zeit auf Marguerite fixiert bleibt, das ist das Erlebnis dieses anrührenden und (trotz der musikalischen Daueruntermalung im Mahler-Stil) keinen Moment pathetischen Films. Maries Lernen findet natürlich nicht auf einer Schulbank statt. Erst einmal sieht man da zwei Frauen miteinander heftig ringen, Beine kämpfen mit Beinen, Arme mit Armen, Körper mit Körper, bis Marguerite die Situation unter Kontrolle hat. Der erste Lernschritt ist getan als Marie versteht, dass sie das fehlende Wort für das Taschenmesser, das ihr der Vater als ein Andenken überließ, durch eine Bewegung der Finger ersetzen kann. Alles Sprechen ist ein Be-Zeichnen, deutlicher sah man das nie.
Die intensive Wirkung von "Marie Heurtin" verdankt sich den vorzüglichen Darstellern, der aufmerksam mitgehenden Kamera und der geschickt die Spannung haltenden Dramaturgie, die das Tempo mal verzögert, mal beschleunigt und von jener Pedanterie, die sich beim Nachzeichnen überlieferter Lebensgeschichten leicht einstellen kann, frei bleibt. Wieder hat Améris, dessen Film "Die anonymen Romantiker" auch bei uns lief, die Hauptrolle mit einer Laiendarstellerin besetzt: Die taube Ariana Rivoire täuscht ihre Blindheit vorzüglich vor und macht vor allem aber die Entwicklung dieses Mädchens miterlebbar, seine Zivilisierung vom ungebärdigen Toben bis zum stolzen und zugleich innigen Gesichtsausdruck am Schluss, als Marie über den schlichten Friedhof der Abtei geht. Die Rolle der Marguerite vertraute Améris der erfahrenen Isabelle Carré an, deren Gesicht, dessen herbe Schönheit in der Schwesterntracht noch feiner aufleuchtet, wir aus Arbeiten von Resnais und Ozon kennen.
"Natur, Natur!", möchte man auch angesichts des Schauplatzes ausrufen: die Abtei inmitten eines weiträumigen Landschaftsparks, der für diese Geschichte wie eigens erschaffen scheint. Alles ist Modell, alles Zeichen, eine Rousseau-Welt. "Ich langweile mich nicht mehr, wie früher, schrieb Marie Heurtin später einmal glücklich mit Braille-Schrift in ihr Tagebuch. 1921 hat man sie, erst sechsunddreißig Jahre alt, auf dem Friedhof von Larnay begraben.
HANS-JÖRG ROTHER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main