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Produktdetails
  • Hersteller: Orson Welles
  • FSK: ohne Alterseinschränkung gemäß §14 JuSchG
  • EAN: 4013659004035
  • Artikelnr.: 32724677
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023

Von wegen Idylle

Orson Welles lässt 1946 Edward G. Robinson als Nazijäger in einer amerikanischen Kleinstadt ermitteln.

Soll man einen Verbrecher laufen lassen, um einen noch größeren Verbrecher zu fangen? Edward G. Robinson hat als amerikanischer Ermittler vor der Kriegsverbrecherkommission der Alliierten eine klare Antwort auf die Frage: "Lassen Sie die Zellentür offen, ich übernehme die Verantwortung, diese Obszönität muss zerstört werden." Beim letzten Halbsatz ist er so wütend, dass seine Pfeife Schaden nimmt, als er sie auf den Tisch knallt. Was genau ihn so aufgebracht hat, wird man gegen Ende von "Der Fremde" in aller Deutlichkeit sehen. Der Film kam 1946 in die Kinos, dass der Wutgrund mit Kriegsverbrechen zu tun hat, war klar. Wie genau diese Verbrechen der Nazis aussahen, war jedoch längst nicht jedem Zuschauer in Amerika bewusst. Robinsons Wut ist hier wohl nicht nur gespielt, der Sohn jüdischer Emigranten aus Rumänien war seit den Dreißigerjahren ein Gegner des Faschismus gewesen.

Seine Rede als Agent zeigt im Film immerhin Wirkung. Und so geht ein dünner Mann mit Hut schon bald in Südamerika von Bord eines Atlantikdampfers, erzählt den Einreisebehörden, er sei "aus gesundheitlichen Gründen" hier, und sucht als Erstes einen Passbildfotografen auf, den er nach dem Verbleib eines Nazis fragt. Der Fotograf gibt ihm eine Postkarte der Kleinstadt Harper in Connecticut, wohin die Reise nun weitergeht.

Natürlich ist Robinson ihm immer dicht auf den Fersen. Doch in Harper verliert er die Spur, kann nur nachvollziehen, dass der Mann einen Lehrer der örtlichen Hochschule treffen wollte. Einen Fremden, der erst vor wenigen Monaten hierhergezogen ist. Dieser, gespielt vom Regisseur Orson Welles persönlich, hat sich des Informanten sofort entledigt und die Leiche im Wald verscharrt. Kaltblütig, während seine Studenten wenige Hundert Meter entfernt eine Schnitzeljagd veranstalteten. Bis zu diesem Mord sind keine fünfzehn Minuten vergangen, von nun an spielt die Handlung komplett in der Kleinstadt, wird zu einem Katz-und-Maus-Spiel zwischen Robinson und Welles.

Für Welles war "Der Fremde" ein Film voller Kompromisse. Er hatte einen Vertrag unterschrieben, der ihm große künstlerische Freiheiten für zukünftige Projekte in Aussicht stellte, wenn er sich für dieses viele Eingriffe gefallen lassen würde. Der Filmeditor Ernest Nims hatte das Recht, jedwedes Material zu entfernen, das ihm für das Vorantreiben der Handlung überflüssig erschien.

Da Beschränkungen bei guten Künstlern die Kreativität fördern, suchte Welles Wege, um an Nims vorbeizuarbeiten. Er drehte also in langen Einstellungen ohne viele Schnitte, sodass man sie schlecht unterbrechen und etwas entfernen konnte. Das führt zu wunderbaren Szenen, etwa wenn Robinson im örtlichen Drugstore mit dessen Besitzer (Billy House) ins Gespräch kommt: Man sieht ihn erst durch das Fenster draußen am Geschäft vorbeigehen, dann hineinkommen - beim Gespräch mit dem Ladenbesitzer fängt die Kamera beide Männer gleichzeitig durch einen Spiegel hinter House ein. Robinson sucht Aspirin, macht sich einen Kaffee, setzt sich für eine Partie Dame zu House an die Kasse - all das ohne Schnitt.

Immer wieder sucht Robinson im Laufe seiner Ermittlungen den Laden auf, holt sich Kaffee, plaudert mit den Besuchern, erfährt vom Leben in der Kleinstadt - ob David Lynch hier die Inspiration für seinen Agenten Cooper fand, der in einer anderen amerikanischen Kleinstadt in der Serie "Twin Peaks" auch immer wieder auf Kaffee und Kuchen in einem Diner vorbeischaut? Welles hat auf jeden Fall ein scharfes Auge für die Abgründe bewiesen, die hinter der Kleinstadtidylle lauern - was später Stephen King in seinen Romanen mit den Mitteln des Horrorgenres sezieren wird und David Lynch in seinen surrealistischen Filmen thematisiert, findet sich bereits in "Der Fremde" wieder: die Biederkeit der Bürger und ihre Neigung, Verbrechen nicht sehen zu wollen, selbst wenn sie direkt vor ihrer Nase stattfinden.

In einer der eindrücklichsten Szenen des Films zeigt Robinson Loretta Young, die die frisch angetraute Ehefrau des "Lehrers" gibt, Aufnahmen aus den Konzentrationslagern, die ihr Mann entworfen hat. Der Schock auch für den Zuschauer ist umso größer, als sich Welles hier der Originalaufnahmen des Dokumentarfilms "Nazi Concentration Camps" bedient, den er 1945 als Wochenschau gesehen und den Lesern seiner Kolumne in der "New York Post" ans Herz gelegt hatte ("Der Gedanke an den Tod ist nie schön, aber die Wochenschauen bezeugen die Tatsache einer ganz anderen Art des Todes, einer ganz anderen Ebene des Verfalls."). Nun stellt der Film sicher, dass jeder die erschreckenden Zeugnisse des Holocausts sehen kann und niemand sich, wie einige Figuren in "Der Fremde", damit herausreden darf, von nichts gewusst zu haben. MARIA WIESNER

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