In der sagenhaften Republik Utopia, Adresse: Ballhausplatz in Wien, herrscht Unruhe. Die Arbeiter gehen auf die Straße, das Geld ist nichts mehr wert, Spekulanten treiben mit ihrer Habsucht die Inflation. In den Wirtshäusern kennen die Menschen schon die Lösung: Hinaus mit den Juden.
Bonusmaterial
Mit BookletFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2024Satire auf den Hass
Vorwegnahme des Unvorstellbaren: Vor einhundert Jahren persifliert ein österreichischer Stummfilm die Vertreibung der Juden.
Wäre es nicht wegen des brisanten Stoffs, man würde sich an den letzten Film des österreichischen Regisseurs Hans Karl Breslauer wahrscheinlich nicht mehr erinnern. 1924 verfilmte er "Die Stadt ohne Juden", den zwei Jahre zuvor erschienenen Roman des Journalisten und Schriftstellers Hugo Bettauer. In prophetisch scheinender Vorwegnahme der Menschheitsverbrechen nach 1933 macht sich das als "Roman von übermorgen" untertitelte Buch über den damaligen Antisemitismus lustig, indem es von den Folgen einer Vertreibung der Juden aus Wien erzählt.
Breslauer scheint den viel gelesenen Roman in erster Linie mit Blick auf den Erfolg an der Kinokasse adaptiert zu haben. Mancher erinnerungswürdigen Szene zum Trotz lässt der expressionistische Stummfilm keine hochfliegenden ästhetischen Ambitionen erkennen. Gegenüber der Romanvorlage hat Breslauer sein Drehbuch an einigen Stellen inhaltlich entschärft. So ist der Ort der Handlung nicht mehr Wien, sondern die "Republik Utopia". Zudem rückt er eine Liebesgeschichte ins Zentrum, die bei Bettauer keine ebenso große Rolle spielt: Als Jude muss Leo Strakosch von seiner nichtjüdischen Verlobten Abschied nehmen, doch getarnt durch einen großen Schnurrbart und einen französischen Pass kehrt er wieder zu ihr nach "Utopia" zurück, wo er gegen das Ausweisungsdekret kämpft.
Und das letztlich mit Erfolg, denn den Menschen leuchtet bald ein, dass die Vertreibung ihrer Mitbürger ihre von Inflation und Arbeitslosigkeit geplagte Lage nur weiter verschlechtert hat. Am Tag der entscheidenden Abstimmung im Parlament sichert Strakosch die hauchdünne Mehrheit, indem er den von Hans Moser gespielten "Rat Bernart", einen antisemitischen Abgeordneten und notorischem Trunkenbold, mit ein paar Gläsern Wein ein Schlafmittel unterjubelt. Als dieser beim Erwachen davon erfährt, erleidet er einen Nervenzusammenbruch und sieht sich in einer kleinen Zelle in einer Irrenanstalt bald von überall aufleuchtenden Davidsternen bedroht.
Sosehr der Film viele entlarvende Satiren auf den damaligen Antisemitismus enthält, ist ihm kaum eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit Menschenhass und Demagogie anzumerken. Zwar zeigt er die Eiferer in den Wirtshäusern und die Schikanen gegen Juden in den Gassen. Doch meist trägt der Judenhass im Film ein gemäßigtes, ziviles Antlitz, etwa wenn sich der Bundeskanzler nach einer durchaus bedenkenschwer und aufrichtig wirkenden Abwägung von Volkswillen und Menschlichkeit dazu entscheidet, die Ausweisung der Juden zu unterstützen. Indem Film und Roman eine ohne Beraubung, Gewalt und Pogrome ablaufenden Vertreibung imaginieren - die Juden dürfen auch ihr Vermögen mitnehmen, jenes jedenfalls, das sie der Steuerbehörde bekannt gegeben haben, wie der Bundeskanzler im Film zynisch-süffisant ausführt -, zeigen sie, wie sehr die Verbrechen, die sie so prophetisch vorwegzunehmen scheinen, zu jener Zeit offenbar noch jede Vorstellung überstiegen.
Eine Kopie des jahrzehntelang verschollenen Films wurde zuerst 1991 in einem Amsterdamer Filmmuseum wiedergefunden. Nachdem 2015 auf einem Pariser Flohmarkt weitere wichtige Sequenzen auftauchten, die in jener Fassung nicht enthalten waren - darunter etwa der Schluss, an dem der Bürgermeister mit Strakosch den ersten heimkehrenden Juden in Empfang nimmt, wozu der Schlusstitel erscheint: "Gott schuf uns aus demselben Lehm" -, wurde der Film vom Filmarchiv Austria restauriert. Diese auf DVD erhältliche Fassung ist jener auf Youtube abrufbaren nicht nur wegen ihrer größeren Vollständigkeit, sondern auch wegen der neuen Musik von Olga Neuwirth vorzuziehen. Sie macht den Film ungleich intensiver erlebbar, weil sie den Bildern ein Wissen um den Holocaust unterlegt. Als etwa der Bundeskanzler tosenden Applaus im Parlament erntet, als er die Ausweisung der Juden verkündet, und draußen die Massen wie in den Fotografien vom Heldenplatz 1938 auflaufen, ruft sie ein kaum auszuhaltendes Grauen auf; das bierselige antisemitische Eifern im Wirtshaus unterlegt sie mit hohler Volkstümlichkeit und lässt dabei auch die Melodie der noch im Vollrausch mitgrölbaren FPÖ-Hymne "Immer wieder Österreich" erklingen. Ein Moment, an dem man auf einmal merkt: Man lebt wieder in einer Zeit, in der ein wachsender Teil der Menschen darüber phantasiert, wie viel besser es ihnen ginge, wenn sie Mitbürger entrechten und ausweisen könnten.
Zwischenfälle mit Nationalsozialisten blieben nicht aus, als der Film im Juli 1924 in den Kinos anlief. Gegen Bettauer lief in der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt bereits eine Hetzkampagne - nicht nur wegen des Romans, sondern auch wegen seiner sexualreformerischen Publizistik. Am 10. März 1925 wurde er vom Nationalsozialisten Otto Rothstock mit fünf Schüssen in seinen Arbeitsräumen ermordet. In einem einseitigen Gerichtsverfahren wurde der Täter für unzurechnungsfähig erklärt und 1927 ohne Auflagen aus der Psychiatrie entlassen. MIGUEL DE LA RIVA
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vorwegnahme des Unvorstellbaren: Vor einhundert Jahren persifliert ein österreichischer Stummfilm die Vertreibung der Juden.
Wäre es nicht wegen des brisanten Stoffs, man würde sich an den letzten Film des österreichischen Regisseurs Hans Karl Breslauer wahrscheinlich nicht mehr erinnern. 1924 verfilmte er "Die Stadt ohne Juden", den zwei Jahre zuvor erschienenen Roman des Journalisten und Schriftstellers Hugo Bettauer. In prophetisch scheinender Vorwegnahme der Menschheitsverbrechen nach 1933 macht sich das als "Roman von übermorgen" untertitelte Buch über den damaligen Antisemitismus lustig, indem es von den Folgen einer Vertreibung der Juden aus Wien erzählt.
Breslauer scheint den viel gelesenen Roman in erster Linie mit Blick auf den Erfolg an der Kinokasse adaptiert zu haben. Mancher erinnerungswürdigen Szene zum Trotz lässt der expressionistische Stummfilm keine hochfliegenden ästhetischen Ambitionen erkennen. Gegenüber der Romanvorlage hat Breslauer sein Drehbuch an einigen Stellen inhaltlich entschärft. So ist der Ort der Handlung nicht mehr Wien, sondern die "Republik Utopia". Zudem rückt er eine Liebesgeschichte ins Zentrum, die bei Bettauer keine ebenso große Rolle spielt: Als Jude muss Leo Strakosch von seiner nichtjüdischen Verlobten Abschied nehmen, doch getarnt durch einen großen Schnurrbart und einen französischen Pass kehrt er wieder zu ihr nach "Utopia" zurück, wo er gegen das Ausweisungsdekret kämpft.
Und das letztlich mit Erfolg, denn den Menschen leuchtet bald ein, dass die Vertreibung ihrer Mitbürger ihre von Inflation und Arbeitslosigkeit geplagte Lage nur weiter verschlechtert hat. Am Tag der entscheidenden Abstimmung im Parlament sichert Strakosch die hauchdünne Mehrheit, indem er den von Hans Moser gespielten "Rat Bernart", einen antisemitischen Abgeordneten und notorischem Trunkenbold, mit ein paar Gläsern Wein ein Schlafmittel unterjubelt. Als dieser beim Erwachen davon erfährt, erleidet er einen Nervenzusammenbruch und sieht sich in einer kleinen Zelle in einer Irrenanstalt bald von überall aufleuchtenden Davidsternen bedroht.
Sosehr der Film viele entlarvende Satiren auf den damaligen Antisemitismus enthält, ist ihm kaum eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit Menschenhass und Demagogie anzumerken. Zwar zeigt er die Eiferer in den Wirtshäusern und die Schikanen gegen Juden in den Gassen. Doch meist trägt der Judenhass im Film ein gemäßigtes, ziviles Antlitz, etwa wenn sich der Bundeskanzler nach einer durchaus bedenkenschwer und aufrichtig wirkenden Abwägung von Volkswillen und Menschlichkeit dazu entscheidet, die Ausweisung der Juden zu unterstützen. Indem Film und Roman eine ohne Beraubung, Gewalt und Pogrome ablaufenden Vertreibung imaginieren - die Juden dürfen auch ihr Vermögen mitnehmen, jenes jedenfalls, das sie der Steuerbehörde bekannt gegeben haben, wie der Bundeskanzler im Film zynisch-süffisant ausführt -, zeigen sie, wie sehr die Verbrechen, die sie so prophetisch vorwegzunehmen scheinen, zu jener Zeit offenbar noch jede Vorstellung überstiegen.
Eine Kopie des jahrzehntelang verschollenen Films wurde zuerst 1991 in einem Amsterdamer Filmmuseum wiedergefunden. Nachdem 2015 auf einem Pariser Flohmarkt weitere wichtige Sequenzen auftauchten, die in jener Fassung nicht enthalten waren - darunter etwa der Schluss, an dem der Bürgermeister mit Strakosch den ersten heimkehrenden Juden in Empfang nimmt, wozu der Schlusstitel erscheint: "Gott schuf uns aus demselben Lehm" -, wurde der Film vom Filmarchiv Austria restauriert. Diese auf DVD erhältliche Fassung ist jener auf Youtube abrufbaren nicht nur wegen ihrer größeren Vollständigkeit, sondern auch wegen der neuen Musik von Olga Neuwirth vorzuziehen. Sie macht den Film ungleich intensiver erlebbar, weil sie den Bildern ein Wissen um den Holocaust unterlegt. Als etwa der Bundeskanzler tosenden Applaus im Parlament erntet, als er die Ausweisung der Juden verkündet, und draußen die Massen wie in den Fotografien vom Heldenplatz 1938 auflaufen, ruft sie ein kaum auszuhaltendes Grauen auf; das bierselige antisemitische Eifern im Wirtshaus unterlegt sie mit hohler Volkstümlichkeit und lässt dabei auch die Melodie der noch im Vollrausch mitgrölbaren FPÖ-Hymne "Immer wieder Österreich" erklingen. Ein Moment, an dem man auf einmal merkt: Man lebt wieder in einer Zeit, in der ein wachsender Teil der Menschen darüber phantasiert, wie viel besser es ihnen ginge, wenn sie Mitbürger entrechten und ausweisen könnten.
Zwischenfälle mit Nationalsozialisten blieben nicht aus, als der Film im Juli 1924 in den Kinos anlief. Gegen Bettauer lief in der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt bereits eine Hetzkampagne - nicht nur wegen des Romans, sondern auch wegen seiner sexualreformerischen Publizistik. Am 10. März 1925 wurde er vom Nationalsozialisten Otto Rothstock mit fünf Schüssen in seinen Arbeitsräumen ermordet. In einem einseitigen Gerichtsverfahren wurde der Täter für unzurechnungsfähig erklärt und 1927 ohne Auflagen aus der Psychiatrie entlassen. MIGUEL DE LA RIVA
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