Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2008Wo nur die Wasserschildkröten überleben
Zwischen grausamer Naturidylle und trüben Alltagsniederungen: Entdeckungen auf der ungarischen Filmwoche in Budapest
BUDAPEST, im März
Gegen die Titanic-Ausstellung im Millennium-Park kam das Ungarische Filmfestival nicht an. Was ist der Untergang eines Luxusdampfers gegen den Tod des Liebespaares in Kornél Mundruczós gewiss bildmächtigem neuen Werk "Delta", das auf der traditionellen nationalen Filmschau den Hauptpreis erhielt: eine gleichnishafte Geschichte, wie sie das magyarische Kino liebt, angesiedelt in einem paradiesischen Flussdelta, wo sich ein Geschwisterpaar vor den trägdumpfen, im Herzen allesamt bösen Menschen in ein von ihm selbst errichtetes Holzhaus über dem Wasser zurückzieht. Ohne Arg, die Warnungen ignorierend, laden die einander herzlich zugetanen Geschwister die Dorfleute zum Grillfest am Ufer und werden von der Meute im Wasser ertränkt.
Die Kamera ermüdet keinen Augenblick, die idyllische Natur auszumalen: die Fischschwärme, unberührte Flora und Fauna, Blätter im Sonnenlicht. Am Ende sieht man das Lieblingstier des jungen Mädchens, eine kleine Wasserschildkröte, mit aufreizender Langsamkeit davonschwimmen. Ihr kann die hässliche Menschenwelt, wo den Glücklichen keine Stunde schlägt, nichts anhaben. Dieser schlichten, subtil in die Länge gezogenen, filmisch nie langweiligen Geschichte fehlt zwar ein unmittelbarer Bezug zur Gegenwart. Sogar der Drehort könnte sich, da es im heutigen Ungarn kein Flussdelta gibt, außerhalb der Landesgrenzen befinden. Und doch überragt der zutiefst pessimistische, von viel Musik umspülte Film die neunzehn anderen nominierten Arbeiten durch die Intensität seiner Bilder um Längen.
Wer sich mehr für die Alltagsniederungen des neuen EU-Mitgliedlandes interessierte, fand in Elemér Ragályis Justiz- und Romadrama "Ohne Erbarmen" (Nincs kegyelem) plastisches Anschauungsmaterial: Ein junger Rom, Gelegenheitsarbeiter in einer heruntergekommenen Siedlung, wird das Raubmordes an einem Nachbarn angeklagt. Der Bursche hat schon manchen kleinen Diebstahl auf dem Kerbholz, aber diese Tat leugnet er hartnäckig, bis man ihm, mit Tricks und falschen Versprechungen, das falsche Geständnis entlockt. Die Justiz hat sich den Fall vom Halse geschafft, bis sie ihn, nach langen Gefängnisjahren für das Opfer, noch einmal aufrollen muss. Der unschuldige Rom, endlich freigelassen, erhängt sich am erstbesten Baum.
Ragályi, der für seinen Film zu Recht den Regiepreis erhielt, hat die traurige Geschichte nicht erfunden, sondern Zeitungsberichten entnommen. Um Ungarns Roma, ihre Behandlung in der Öffentlichkeit und Lage, steht es mehrheitlich nicht gut. Sie sind die Parias auf der untersten sozialen Stufe. Ragályi, bald siebzig, gehörte schon vor 1989 zu den herausragenden Regisseuren, die den Finger auf die Wunden der Ungerechtigkeit und der Willkür der Oberen legten. Aber immer, so auch hier, war er, auch als Kameramann, feinfühlig genug, selbst den Schurken ein menschliches Gesicht zu geben. Der harte, fast aggressive Ton der Justizbeamten, die rauhen Gesellen in der Zelle oder die Misere in der Roma-Siedlung konfrontieren mit einem Ungarn, das zu der freundlichen Atmosphäre, die den Besucher in den innerstädtischen Bezirken der Hauptstadt umfängt, nur schwerlich passen will.
Einst sorgten solche kritischen Filme für das hohe Ansehen, das Ungarns Kino auch im Westen genoss. Wohin dies jetzt strebt, ist auf Grund seiner Zersplitterung kaum auszumachen. Auch das Festival hinterließ einen desperaten Eindruck. Nur eines scheint sicher und überrascht kaum: Mit großem Unterhaltungskino wollen die wenigsten Regisseure in Konkurrenz treten. "Off Hollywood", ein ebenso vergnüglicher wie verstörender Versuch von Szabolcs Hajdu, bringt die Richtung schon im Titel auf den passenden Nenner. Der Film, im Grunde eine lange Etüde, lässt miterleben, wie einer jungen, hoffnungsvollen Regisseurin just an dem Tag, an dem ihr neues Werk Premiere feiert, das Privatleben wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Ähnlich wie Franka Potente in Tom Tykwers "Lola rennt" läuft nun die ungarische Hauptdarstellerin durch die Straßen am Westbahnhof - bezeichnenderweise ziellos im Kreis, bis sie genügend Fassung zurückgewonnen hat, dem eigenen und anderer Leute Unglück ins Auge zu blicken. Hoffnungsvoll stimmt diese Arbeit vor allem durch ihren modernen Stilwillen jenseits selbstverliebter Metaphernseligkeit.
Wer großes Dokumentarkino miterleben wollte, der kam bei Csaba Bereczkis ethnographisch bestechend genauem Musikfilm aus Siebenbürgen, "Eletek Eneke" (Gesang des Lebens), voll auf seine Kosten. Man könnte ihn das mittelosteuropäische Gegenstück zu Wim Wenders' noch immer populärem Musikfilm aus Kuba, "Buena Vista Social Club", nennen. Auch Bereczki erstellt ein Gruppenporträt, hier von Bauern und Handwerkern, deren zweiter, wahrer Beruf das Musizieren geworden ist. Arbeit und Familie, Liebe, Glück und Unglück liegen hinter ihnen, sie können davon sehr witzig erzählen, es blieben die Instrumente, auf denen sie die alten Csárdás-Klänge zum Leben erwecken, variieren und ihnen neue hinzufügen. Den Höhepunkt ihrer Auftritte, zwischen denen Biographien und Landschaft zu ihrem Recht kommen, bildet - wie für die Kubaner - eine Reise nach Paris. Auch für die Ungarn, Rumänen und Roma aus Transsilvanien gibt es erst an der Seine das lang entbehrte Fest fürs Leben.
HANS-JÖRG ROTHER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen grausamer Naturidylle und trüben Alltagsniederungen: Entdeckungen auf der ungarischen Filmwoche in Budapest
BUDAPEST, im März
Gegen die Titanic-Ausstellung im Millennium-Park kam das Ungarische Filmfestival nicht an. Was ist der Untergang eines Luxusdampfers gegen den Tod des Liebespaares in Kornél Mundruczós gewiss bildmächtigem neuen Werk "Delta", das auf der traditionellen nationalen Filmschau den Hauptpreis erhielt: eine gleichnishafte Geschichte, wie sie das magyarische Kino liebt, angesiedelt in einem paradiesischen Flussdelta, wo sich ein Geschwisterpaar vor den trägdumpfen, im Herzen allesamt bösen Menschen in ein von ihm selbst errichtetes Holzhaus über dem Wasser zurückzieht. Ohne Arg, die Warnungen ignorierend, laden die einander herzlich zugetanen Geschwister die Dorfleute zum Grillfest am Ufer und werden von der Meute im Wasser ertränkt.
Die Kamera ermüdet keinen Augenblick, die idyllische Natur auszumalen: die Fischschwärme, unberührte Flora und Fauna, Blätter im Sonnenlicht. Am Ende sieht man das Lieblingstier des jungen Mädchens, eine kleine Wasserschildkröte, mit aufreizender Langsamkeit davonschwimmen. Ihr kann die hässliche Menschenwelt, wo den Glücklichen keine Stunde schlägt, nichts anhaben. Dieser schlichten, subtil in die Länge gezogenen, filmisch nie langweiligen Geschichte fehlt zwar ein unmittelbarer Bezug zur Gegenwart. Sogar der Drehort könnte sich, da es im heutigen Ungarn kein Flussdelta gibt, außerhalb der Landesgrenzen befinden. Und doch überragt der zutiefst pessimistische, von viel Musik umspülte Film die neunzehn anderen nominierten Arbeiten durch die Intensität seiner Bilder um Längen.
Wer sich mehr für die Alltagsniederungen des neuen EU-Mitgliedlandes interessierte, fand in Elemér Ragályis Justiz- und Romadrama "Ohne Erbarmen" (Nincs kegyelem) plastisches Anschauungsmaterial: Ein junger Rom, Gelegenheitsarbeiter in einer heruntergekommenen Siedlung, wird das Raubmordes an einem Nachbarn angeklagt. Der Bursche hat schon manchen kleinen Diebstahl auf dem Kerbholz, aber diese Tat leugnet er hartnäckig, bis man ihm, mit Tricks und falschen Versprechungen, das falsche Geständnis entlockt. Die Justiz hat sich den Fall vom Halse geschafft, bis sie ihn, nach langen Gefängnisjahren für das Opfer, noch einmal aufrollen muss. Der unschuldige Rom, endlich freigelassen, erhängt sich am erstbesten Baum.
Ragályi, der für seinen Film zu Recht den Regiepreis erhielt, hat die traurige Geschichte nicht erfunden, sondern Zeitungsberichten entnommen. Um Ungarns Roma, ihre Behandlung in der Öffentlichkeit und Lage, steht es mehrheitlich nicht gut. Sie sind die Parias auf der untersten sozialen Stufe. Ragályi, bald siebzig, gehörte schon vor 1989 zu den herausragenden Regisseuren, die den Finger auf die Wunden der Ungerechtigkeit und der Willkür der Oberen legten. Aber immer, so auch hier, war er, auch als Kameramann, feinfühlig genug, selbst den Schurken ein menschliches Gesicht zu geben. Der harte, fast aggressive Ton der Justizbeamten, die rauhen Gesellen in der Zelle oder die Misere in der Roma-Siedlung konfrontieren mit einem Ungarn, das zu der freundlichen Atmosphäre, die den Besucher in den innerstädtischen Bezirken der Hauptstadt umfängt, nur schwerlich passen will.
Einst sorgten solche kritischen Filme für das hohe Ansehen, das Ungarns Kino auch im Westen genoss. Wohin dies jetzt strebt, ist auf Grund seiner Zersplitterung kaum auszumachen. Auch das Festival hinterließ einen desperaten Eindruck. Nur eines scheint sicher und überrascht kaum: Mit großem Unterhaltungskino wollen die wenigsten Regisseure in Konkurrenz treten. "Off Hollywood", ein ebenso vergnüglicher wie verstörender Versuch von Szabolcs Hajdu, bringt die Richtung schon im Titel auf den passenden Nenner. Der Film, im Grunde eine lange Etüde, lässt miterleben, wie einer jungen, hoffnungsvollen Regisseurin just an dem Tag, an dem ihr neues Werk Premiere feiert, das Privatleben wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Ähnlich wie Franka Potente in Tom Tykwers "Lola rennt" läuft nun die ungarische Hauptdarstellerin durch die Straßen am Westbahnhof - bezeichnenderweise ziellos im Kreis, bis sie genügend Fassung zurückgewonnen hat, dem eigenen und anderer Leute Unglück ins Auge zu blicken. Hoffnungsvoll stimmt diese Arbeit vor allem durch ihren modernen Stilwillen jenseits selbstverliebter Metaphernseligkeit.
Wer großes Dokumentarkino miterleben wollte, der kam bei Csaba Bereczkis ethnographisch bestechend genauem Musikfilm aus Siebenbürgen, "Eletek Eneke" (Gesang des Lebens), voll auf seine Kosten. Man könnte ihn das mittelosteuropäische Gegenstück zu Wim Wenders' noch immer populärem Musikfilm aus Kuba, "Buena Vista Social Club", nennen. Auch Bereczki erstellt ein Gruppenporträt, hier von Bauern und Handwerkern, deren zweiter, wahrer Beruf das Musizieren geworden ist. Arbeit und Familie, Liebe, Glück und Unglück liegen hinter ihnen, sie können davon sehr witzig erzählen, es blieben die Instrumente, auf denen sie die alten Csárdás-Klänge zum Leben erwecken, variieren und ihnen neue hinzufügen. Den Höhepunkt ihrer Auftritte, zwischen denen Biographien und Landschaft zu ihrem Recht kommen, bildet - wie für die Kubaner - eine Reise nach Paris. Auch für die Ungarn, Rumänen und Roma aus Transsilvanien gibt es erst an der Seine das lang entbehrte Fest fürs Leben.
HANS-JÖRG ROTHER
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