Eine Kältewelle hat die Stadt Cincinnati fest im Griff. Der engagierte Bibliotheksmitarbeiter Stuart (Emilio Estevez) und seine Kollegin Myra (Jena Malone) kümmern sich um die unzähligen Obdachlosen, die Tag für Tag Zuflucht in der warmen Bibliothek suchen. Sie schätzen die Möglichkeit, sich hier auszutauschen, das Internet zu nutzen oder einfach zu lesen. Als die Minusgrade lebensbedrohlich werden und sich keine andere Unterkunft bietet, beschließt eine Gruppe von Obdachlosen um Jackson (Michael Kenneth Williams), am Abend in der Bibliothek Zuflucht zu suchen. Die ungewöhnlichen Übernachtungsgäste rufen schnell ein einschüchterndes Polizeiaufgebot unter Leitung des erfahrenen Verhandlungsführers Bill Ramstead (Alec Baldwin) auf den Plan. Unter dem Einfluss des ehrgeizigen Staatsanwalts Josh Davis (Christian Slater) und der News-Reporterin Rebecca Parks (Gabrielle Union) spitzt sich die Situation weiter zu. Inmitten der verfahrenen Lage wird Stuart plötzlich selbst zum Vermittler und muss eine wegweisende Entscheidung treffen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2019Der Samariter aus der Stadtbibliothek
Gegen die soziale Kälte: In "Ein ganz gewöhnlicher Held" seziert Emilio Estevez amerikanische Krisen
Wozu braucht es heute noch Bibliotheken? Alles Wissen ist, rein theoretisch, doch nur einen Klick entfernt. Warum also sollte es noch diese öffentliche Institution geben, die Bücher bewahrt? Weil es nicht nur um die Bücher, sondern auch um die Menschen geht, die hierherkommen. Diesen Gedanken stellt Emilio Estevez seinem Film "Ein ganz gewöhnlicher Held" voran. Und da er als Regisseur ungern plump mit Zitattafeln arbeitet, hat er einen rund sechzig Jahre alten Werbeclip ausgegraben. Über den schwarz-weißen Bildern erklärt eine sonore Sprecherstimme den Zuschauern, dass jene unter ihnen, die Bücher, Wissen und Lernen lieben und obendrein Menschen mögen, sich doch überlegen sollten, den Beruf des Bibliothekars zu ergreifen. Denn ein Bibliothekar stelle sein Leben in den Dienst der Bücher und der Öffentlichkeit.
Diesem humanistischen Ideal vergangener Dekaden folgt Stuart Goodson (gespielt von Estevez selbst). Er arbeitet in der öffentlichen Bibliothek in Cincinnati. Draußen wehen arktische Winde, drinnen suchen die Obdachlosen Schutz vor der Kälte. Als eines Nachts ein Mann vor den Türen der geschlossenen Bibliothek erfriert, beschließen die Obdachlosen, die Räume am Abend kurzerhand zur Notunterkunft zu deklarieren. Alle städtischen Einrichtungen sind längst überfüllt, und hier ist es immerhin warm. "Sagte Jesus nicht, führe jene ohne Obdach ins Haus?", fragt einer, der nach dem Armeedienst aus dem amerikanischen Sozialsystem gefallen ist und nun in die Kälte müsste, den Bibliothekar Goodson. "Ja, aber Jesus sagte nicht, okkupiere das Haus", antwortet er. Goodson wird den Männern trotzdem helfen. Mehr als ein kleiner Akt der Nächstenliebe, denn die Situation spitzt sich schnell zu.
Ein ehrgeiziger Anwalt (Christian Slater, skrupellos wie lang nicht mehr) will den Vorfall nutzen, um sich für die Position des Bürgermeisterpostens zu qualifizieren, indem er mit harter Hand für Recht und Ordnung sorgt. Ein strenger Polizeiunterhändler (Alec Baldwin) versucht seinen Job zu machen und spielt ein doppeltes Spiel, denn er vermutet seinen drogenabhängigen Sohn unter den Obdachlosen in der Bibliothek. Eine zynische Journalistin (Gabrielle Union) wittert eine Geschichte, die ihr den landesweiten Durchbruch oder zumindest ein paar tausend Follower bei Twitter bringen könnte, und ist gewillt, sämtliche Fakten zu ignorieren. Die Mitarbeiter der Bibliothek müssen sich also entscheiden, auf welcher Seite der Gesellschaft sie stehen wollen, und stellen dabei die Frage, was für eine Gesellschaft das überhaupt ist, in der sie das tun müssen.
Estevez arbeitet den moralischen Konflikt durch den Gegensatz zwischen Goodson und seiner Mitarbeiterin Myra (Jena Malone) heraus. Myra ist hip, fährt aus Überzeugung mit dem Bus und kauft ihr Essen im Bioladen. Ihrem Vorgesetzten hält sie gern Vorträge darüber, dass er seinen CO2-Fußabdruck verringern muss. Goodson quittiert die mit: "Du bist so grün, wie es gerade Mode ist. Aber ein Mem auf Facebook zu posten macht dich noch lange nicht zur Aktivistin." Myra rollt mit den Augen und glaubt, sie sei aufgrund ihres ethischen Konsumverhaltens ein besserer Mensch. Als es aber ernst wird und die Polizei die Bibliothek umstellt, verlässt sie das Gebäude bei erster Gelegenheit. Goodson bleibt, weil er aus persönlicher Erfahrung weiß, wie schnell es gehen kann, dass man die Linie zwischen anerkannten Bürgern und Menschen, denen die Gesellschaft nicht mehr ins Gesicht schaut, überschreitet.
Estevez baut seine Charaktere langsam auf und gibt ihnen Raum. Dass er eine Geschichte auf viele Figuren verteilt erzählen kann, hat er mit "Bobby" bewiesen, der 2006 beim Filmfestival in Venedig für den Goldenen Löwen nominiert war und Estevez den Vergleich mit Robert Altman einbrachte. "Bobby" begleitet die Schicksale von 22 Menschen in einem Hotel an dem Tag, als Robert Kennedy erschossen wurde. Um ein so großes Ensemble zusammenzuhalten, braucht es ein brillantes Drehbuch. Neben Regie und Schauspiel übernimmt Estevez bei seinen Filmen auch das Schreiben. Er formuliert pointierte Dialoge und weiß, wann er den Schauspielern mehr Text gibt und wann er sich auf ihr Talent verlassen kann, den Konflikt in einer Person über Körpersprache und Mimik zu transportieren.
So lässt er Jeffrey Wright als Goodsons Vorgesetzten Anderson zunächst lange am Rande der Handlung agieren. Ähnlich wie bei seiner Rolle als Androide Bernard in der Serie "Westworld" beobachtet Wright mit ruhiger Miene und wachen Augen, wie die Lage sich entwickelt. Doch als es Zeit ist, zu handeln, hält er eine flammende Rede über das Recht auf Bildung und die Bibliothek als letzte Bastion der Demokratie. Dann knöpft er seine Fliege auf und reckt die Faust in die Überwachungskameras. Er spricht nicht viel Text, aber der wird, ohne in die Pathosfalle zu tappen, mit so viel Kraft vorgetragen, dass man sich plötzlich erinnert, dass Worte auch in politischen Situationen mal dazu da waren, Wahrheit auszusprechen; dass einmal Reden gehalten wurden, in denen es um programmatische Inhalte und Selbstverpflichtung der Politik auf sie ging. Und dass all das noch gar nicht so lang her ist, wie die Populisten weltweit gern glauben machen wollen.
"Ein ganz gewöhnlicher Held" verwebt über seine Figuren alle sozialen Probleme, die derzeit in Amerika brodeln, streift Klimawandel, Fake-News-Debatten, Bildungs- und Drogenkrise. Sein Ton orientiert sich dabei an John Hughes, mit dem Estevez vor mehr als 30 Jahren in "Der Frühstücksclub" zusammenarbeitete. Wie Hughes wechselt Estevez zwischen Ernst und Komik, lässt Männer auf Tischen tanzen und kurz darauf in der Intimität, die nachts unter Fremden aufkommt, ihre Geschichten erzählen. Und wenn man sich gerade fragt, wie er es schaffen will, die völlig verfahrene Situation aufzulösen, verblüfft er mit einer Idee, die den Atem verschlägt - vor Staunen und Lachen. Filme können, wie Bibliotheken, das aufbewahren, was man darüber weiß, wie die Gesellschaft im Interesse derer, die in ihr leben müssen, sein soll und wie nicht.
MARIA WIESNER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gegen die soziale Kälte: In "Ein ganz gewöhnlicher Held" seziert Emilio Estevez amerikanische Krisen
Wozu braucht es heute noch Bibliotheken? Alles Wissen ist, rein theoretisch, doch nur einen Klick entfernt. Warum also sollte es noch diese öffentliche Institution geben, die Bücher bewahrt? Weil es nicht nur um die Bücher, sondern auch um die Menschen geht, die hierherkommen. Diesen Gedanken stellt Emilio Estevez seinem Film "Ein ganz gewöhnlicher Held" voran. Und da er als Regisseur ungern plump mit Zitattafeln arbeitet, hat er einen rund sechzig Jahre alten Werbeclip ausgegraben. Über den schwarz-weißen Bildern erklärt eine sonore Sprecherstimme den Zuschauern, dass jene unter ihnen, die Bücher, Wissen und Lernen lieben und obendrein Menschen mögen, sich doch überlegen sollten, den Beruf des Bibliothekars zu ergreifen. Denn ein Bibliothekar stelle sein Leben in den Dienst der Bücher und der Öffentlichkeit.
Diesem humanistischen Ideal vergangener Dekaden folgt Stuart Goodson (gespielt von Estevez selbst). Er arbeitet in der öffentlichen Bibliothek in Cincinnati. Draußen wehen arktische Winde, drinnen suchen die Obdachlosen Schutz vor der Kälte. Als eines Nachts ein Mann vor den Türen der geschlossenen Bibliothek erfriert, beschließen die Obdachlosen, die Räume am Abend kurzerhand zur Notunterkunft zu deklarieren. Alle städtischen Einrichtungen sind längst überfüllt, und hier ist es immerhin warm. "Sagte Jesus nicht, führe jene ohne Obdach ins Haus?", fragt einer, der nach dem Armeedienst aus dem amerikanischen Sozialsystem gefallen ist und nun in die Kälte müsste, den Bibliothekar Goodson. "Ja, aber Jesus sagte nicht, okkupiere das Haus", antwortet er. Goodson wird den Männern trotzdem helfen. Mehr als ein kleiner Akt der Nächstenliebe, denn die Situation spitzt sich schnell zu.
Ein ehrgeiziger Anwalt (Christian Slater, skrupellos wie lang nicht mehr) will den Vorfall nutzen, um sich für die Position des Bürgermeisterpostens zu qualifizieren, indem er mit harter Hand für Recht und Ordnung sorgt. Ein strenger Polizeiunterhändler (Alec Baldwin) versucht seinen Job zu machen und spielt ein doppeltes Spiel, denn er vermutet seinen drogenabhängigen Sohn unter den Obdachlosen in der Bibliothek. Eine zynische Journalistin (Gabrielle Union) wittert eine Geschichte, die ihr den landesweiten Durchbruch oder zumindest ein paar tausend Follower bei Twitter bringen könnte, und ist gewillt, sämtliche Fakten zu ignorieren. Die Mitarbeiter der Bibliothek müssen sich also entscheiden, auf welcher Seite der Gesellschaft sie stehen wollen, und stellen dabei die Frage, was für eine Gesellschaft das überhaupt ist, in der sie das tun müssen.
Estevez arbeitet den moralischen Konflikt durch den Gegensatz zwischen Goodson und seiner Mitarbeiterin Myra (Jena Malone) heraus. Myra ist hip, fährt aus Überzeugung mit dem Bus und kauft ihr Essen im Bioladen. Ihrem Vorgesetzten hält sie gern Vorträge darüber, dass er seinen CO2-Fußabdruck verringern muss. Goodson quittiert die mit: "Du bist so grün, wie es gerade Mode ist. Aber ein Mem auf Facebook zu posten macht dich noch lange nicht zur Aktivistin." Myra rollt mit den Augen und glaubt, sie sei aufgrund ihres ethischen Konsumverhaltens ein besserer Mensch. Als es aber ernst wird und die Polizei die Bibliothek umstellt, verlässt sie das Gebäude bei erster Gelegenheit. Goodson bleibt, weil er aus persönlicher Erfahrung weiß, wie schnell es gehen kann, dass man die Linie zwischen anerkannten Bürgern und Menschen, denen die Gesellschaft nicht mehr ins Gesicht schaut, überschreitet.
Estevez baut seine Charaktere langsam auf und gibt ihnen Raum. Dass er eine Geschichte auf viele Figuren verteilt erzählen kann, hat er mit "Bobby" bewiesen, der 2006 beim Filmfestival in Venedig für den Goldenen Löwen nominiert war und Estevez den Vergleich mit Robert Altman einbrachte. "Bobby" begleitet die Schicksale von 22 Menschen in einem Hotel an dem Tag, als Robert Kennedy erschossen wurde. Um ein so großes Ensemble zusammenzuhalten, braucht es ein brillantes Drehbuch. Neben Regie und Schauspiel übernimmt Estevez bei seinen Filmen auch das Schreiben. Er formuliert pointierte Dialoge und weiß, wann er den Schauspielern mehr Text gibt und wann er sich auf ihr Talent verlassen kann, den Konflikt in einer Person über Körpersprache und Mimik zu transportieren.
So lässt er Jeffrey Wright als Goodsons Vorgesetzten Anderson zunächst lange am Rande der Handlung agieren. Ähnlich wie bei seiner Rolle als Androide Bernard in der Serie "Westworld" beobachtet Wright mit ruhiger Miene und wachen Augen, wie die Lage sich entwickelt. Doch als es Zeit ist, zu handeln, hält er eine flammende Rede über das Recht auf Bildung und die Bibliothek als letzte Bastion der Demokratie. Dann knöpft er seine Fliege auf und reckt die Faust in die Überwachungskameras. Er spricht nicht viel Text, aber der wird, ohne in die Pathosfalle zu tappen, mit so viel Kraft vorgetragen, dass man sich plötzlich erinnert, dass Worte auch in politischen Situationen mal dazu da waren, Wahrheit auszusprechen; dass einmal Reden gehalten wurden, in denen es um programmatische Inhalte und Selbstverpflichtung der Politik auf sie ging. Und dass all das noch gar nicht so lang her ist, wie die Populisten weltweit gern glauben machen wollen.
"Ein ganz gewöhnlicher Held" verwebt über seine Figuren alle sozialen Probleme, die derzeit in Amerika brodeln, streift Klimawandel, Fake-News-Debatten, Bildungs- und Drogenkrise. Sein Ton orientiert sich dabei an John Hughes, mit dem Estevez vor mehr als 30 Jahren in "Der Frühstücksclub" zusammenarbeitete. Wie Hughes wechselt Estevez zwischen Ernst und Komik, lässt Männer auf Tischen tanzen und kurz darauf in der Intimität, die nachts unter Fremden aufkommt, ihre Geschichten erzählen. Und wenn man sich gerade fragt, wie er es schaffen will, die völlig verfahrene Situation aufzulösen, verblüfft er mit einer Idee, die den Atem verschlägt - vor Staunen und Lachen. Filme können, wie Bibliotheken, das aufbewahren, was man darüber weiß, wie die Gesellschaft im Interesse derer, die in ihr leben müssen, sein soll und wie nicht.
MARIA WIESNER
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