Produktdetails
- Anzahl: 2 Blu-ray Discs
- Hersteller: Opus Arte
- Erscheinungstermin: 28. Oktober 2016
- FSK: ohne Alterseinschränkung gemäß §14 JuSchG
- EAN: 0809478071730
- Artikelnr.: 45988013
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2019Nickerchen erlaubt
Grandiose Spielzeiteröffnung des neuen Intendanten Aviel Cahn: Die Oper "Einstein on the Beach" in Genf
GENF, 13. September
In seiner "Erzählung vom CERN" berichtete Friedrich Dürrenmatt über seinen Besuch bei der Europäischen Organisation für Kernforschung bei Genf, im Speziellen des ersten Teilchenbeschleunigers mit Namen "Synchro-Zyklotron". Der Schriftsteller beschreibt eine Fahrt im Februar 1974 mit einem Physiker, der ihn und einen Freund zu einer Besichtigung der Forschungsanlage eingeladen und sie in seinem Auto dorthin begleitet hatte. Man hatte Zeit genug, um Überlegungen über den Ursprung der Kunst und der Forschung anzustellen. Dürrenmatt attestierte den modernen Wissenschaften die Potenz, Leben und Wirklichkeit zu verändern. Er war überzeugt davon, dass ihre Resultate von einem Künstler zwingend zu berücksichtigen seien, wolle er die Welt dramaturgisch in den Griff bekommen. Je näher das CERN und somit auch diese Geschichte an ihr Ende kommt, desto mehr und immer längere Nebensätze spiegeln syntaktisch das Rund des Beschleunigers wider.
Nicht zum CERN, sondern dessen rund 3400 Mitarbeitende in das Grand Théâtre de Genève zu locken ist Ziel des Intendanten Aviel Cahn, der das Haus in diesem Sommer übernommen hat und es "im 21. Jahrhundert situieren" will. Der gebürtige Zürcher will seinen Arbeitsplatz zum Treffpunkt der ansonsten segregierten Genfer Gesellschaft machen. Neben den Alteingesessenen pflegen bisher auch die Beamten der Vereinten Nationen und auch die Alternativen und Jungen ihre eigenen kulturellen Süppchen zu kochen.
Weshalb sollte dem gelernten Juristen nicht auch in "Calvingrad" gelingen, was ihm bereits während seiner zehnjährigen Intendanz an der Flämischen Oper in Antwerpen und Gent geglückt ist und wofür er in der letzten Spielzeit mit dem Opera Award belohnt wurde? Folgerichtig lässt er die neue Ära mit dem globalen "Superfeger" des amerikanischen Musiktheaters "Einstein on the Beach" beginnen, mit dem seine Urheber, der Komponist Philip Glass sowie der Regisseur Bob Wilson, die Grenzen zwischen "High und Low Culture" einzudampfen glaubten und das Stück zur Modellinszenierung der Minimal Music und des postdramatischen Theaters machten.
Es gibt keine sinnvoll gesprochenen Texte und auch keine Handlung. Da helfen selbst gesungene Worte nicht weiter, da nur zweistellige Zahlen (beispielsweise 1, 2, 3 / 1, 2, 3, 4 / 1, 2, 3, 4 / 1, 2, 3) und Solmisationssilben (do, re, mi, fa, so, la, si) aufgelistet werden. Anders als bei Dürrenmatt sind hier Raum und Zeit performativ zu erkunden und deshalb rein sinnlich zu erfahren.
Die Komposition gibt nur Atmosphärisches wieder, indem sie mit wiederkehrenden Tonzyklen langfädig operiert. Wenn nach indischem Vorbild ein rhythmischer Wechsel erfolgt, indem einzelne Noten dazugestellt oder weggenommen werden, können sich Momente einstellen, die schockieren. Um Ausrastern sensibler Gemüter zuvorzukommen, wurde dem Publikum im Namen des Komponisten nahegelegt, sich gelegentliche power naps oder Austritte von der vierstündigen, nonstop ablaufenden Show zu gönnen.
In Genf kam erstmals ein neues Team unter der Leitung von Daniele Finzi Pasca zum Zug. Nach ersten Tätigkeiten als Artist/Clown und Autor hat sich der Tessiner beim Entertainment-Unternehmen Cirque du Soleil als Inszenator großer Spektakel empfohlen und sich seitdem als Spezialist dieses Genre etwa bei den Abschluss- und Eröffnungszeremonien der Olympischen Spiele in Turin und Sotschi sowie beim Fête des Vignerons de Vevey mit knapp 400 000 Besuchern einen Namen gemacht. Für die Schweizer Erstaufführung scheint er sich stark an die Bildsprache der Abschlussszene aus Antonionis Filmklassiker "Blow-up" aus dem Jahre 1966 anzulehnen, wo der Held an einem Tennisplatz vorbeikommt und sich von einer Gruppe junger Leute verzaubern lässt, die pantomimisch und in Zeitlupe miteinander spielen.
In Zwischenspielen trägt die Schauspielerin Beatriz Sayad als Harlekin Dadaistisches über den Feminismus oder Radiofeatures vor, einmal virtuos von der Geigerin Madoka Sakitsu begleitet. Die erste von neun Szenen beginnt in Einsteins Arbeitszimmer, das von einem übergroßen Büchergestell dominiert wird. Es wächst unmerklich in die Höhe, bis einer der Papierflieger, die von einer Tänzerin heruntergeworfen werden, sich in eine Drohne verwandelt, selbständig zu fliegen beginnt und dabei Loopings zustande bringt, um wohl Naturgesetzen spielerisch ein Schnippchen zu schlagen. Offensichtlich gehören Flugobjekte zum Grundvokabular dieser Szenographie (Bühne: Hugo Gargiulo). Nach Rädern und Fahrrädern fliegt sogar eine an Seilen hängende Meerjungfrau, später auch ein tibetischer Mönch durch die Lüfte.
Sie werden gegen eine andere Schönheit eingetauscht, die sich in ein Loch stürzt, aus dem ein überdimensioniertes Glas voll mit Wasser hervorkommt, in dem sie sich für längere Zeit um die eigene Achse dreht. Davor und danach kommt ein Schimmel zu Besuch, um schließlich von Stierkämpfern abgelöst zu werden, welche eine Sopranistin in einem Lied ohne Worte begleitet. Des Sinnzusammenhangs enthoben, bleibt den Zuschauern nichts anderes übrig, als sich dem Sog der Traumbilder zu ergeben oder, wie Glass es ja empfohlen hat, selbst wegzutauchen oder sich mit anderen kommunikativ an der Bar oder auf der Treppe zu treffen.
Rigoros zusammengehalten wird die Inszenierung durch das präzise Zusammenspiel unter dem Dirigat des noch jungen Titus Engel, auch er ein Zürcher. Seine Fähigkeit Phrasierungen unter Einschluss der "gekippten" Töne körperlich darzustellen, hilft Musikern und Publikum zugleich. Mit der Besetzung des Chors und des Kammerorchesters mit Studenten der benachbarten Genfer Musikhochschule hat der Intendant bereits einen weiteren Teil seines Versprechens wahr gemacht, seine Institution zu öffnen. Der nächste Schritt kommt am Samstag am "Tag der offenen Türe" im CERN, an dem ein Ausschnitt des Stücks sozusagen "vor Ort" gegeben wird.
PETER RÉVAI
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Grandiose Spielzeiteröffnung des neuen Intendanten Aviel Cahn: Die Oper "Einstein on the Beach" in Genf
GENF, 13. September
In seiner "Erzählung vom CERN" berichtete Friedrich Dürrenmatt über seinen Besuch bei der Europäischen Organisation für Kernforschung bei Genf, im Speziellen des ersten Teilchenbeschleunigers mit Namen "Synchro-Zyklotron". Der Schriftsteller beschreibt eine Fahrt im Februar 1974 mit einem Physiker, der ihn und einen Freund zu einer Besichtigung der Forschungsanlage eingeladen und sie in seinem Auto dorthin begleitet hatte. Man hatte Zeit genug, um Überlegungen über den Ursprung der Kunst und der Forschung anzustellen. Dürrenmatt attestierte den modernen Wissenschaften die Potenz, Leben und Wirklichkeit zu verändern. Er war überzeugt davon, dass ihre Resultate von einem Künstler zwingend zu berücksichtigen seien, wolle er die Welt dramaturgisch in den Griff bekommen. Je näher das CERN und somit auch diese Geschichte an ihr Ende kommt, desto mehr und immer längere Nebensätze spiegeln syntaktisch das Rund des Beschleunigers wider.
Nicht zum CERN, sondern dessen rund 3400 Mitarbeitende in das Grand Théâtre de Genève zu locken ist Ziel des Intendanten Aviel Cahn, der das Haus in diesem Sommer übernommen hat und es "im 21. Jahrhundert situieren" will. Der gebürtige Zürcher will seinen Arbeitsplatz zum Treffpunkt der ansonsten segregierten Genfer Gesellschaft machen. Neben den Alteingesessenen pflegen bisher auch die Beamten der Vereinten Nationen und auch die Alternativen und Jungen ihre eigenen kulturellen Süppchen zu kochen.
Weshalb sollte dem gelernten Juristen nicht auch in "Calvingrad" gelingen, was ihm bereits während seiner zehnjährigen Intendanz an der Flämischen Oper in Antwerpen und Gent geglückt ist und wofür er in der letzten Spielzeit mit dem Opera Award belohnt wurde? Folgerichtig lässt er die neue Ära mit dem globalen "Superfeger" des amerikanischen Musiktheaters "Einstein on the Beach" beginnen, mit dem seine Urheber, der Komponist Philip Glass sowie der Regisseur Bob Wilson, die Grenzen zwischen "High und Low Culture" einzudampfen glaubten und das Stück zur Modellinszenierung der Minimal Music und des postdramatischen Theaters machten.
Es gibt keine sinnvoll gesprochenen Texte und auch keine Handlung. Da helfen selbst gesungene Worte nicht weiter, da nur zweistellige Zahlen (beispielsweise 1, 2, 3 / 1, 2, 3, 4 / 1, 2, 3, 4 / 1, 2, 3) und Solmisationssilben (do, re, mi, fa, so, la, si) aufgelistet werden. Anders als bei Dürrenmatt sind hier Raum und Zeit performativ zu erkunden und deshalb rein sinnlich zu erfahren.
Die Komposition gibt nur Atmosphärisches wieder, indem sie mit wiederkehrenden Tonzyklen langfädig operiert. Wenn nach indischem Vorbild ein rhythmischer Wechsel erfolgt, indem einzelne Noten dazugestellt oder weggenommen werden, können sich Momente einstellen, die schockieren. Um Ausrastern sensibler Gemüter zuvorzukommen, wurde dem Publikum im Namen des Komponisten nahegelegt, sich gelegentliche power naps oder Austritte von der vierstündigen, nonstop ablaufenden Show zu gönnen.
In Genf kam erstmals ein neues Team unter der Leitung von Daniele Finzi Pasca zum Zug. Nach ersten Tätigkeiten als Artist/Clown und Autor hat sich der Tessiner beim Entertainment-Unternehmen Cirque du Soleil als Inszenator großer Spektakel empfohlen und sich seitdem als Spezialist dieses Genre etwa bei den Abschluss- und Eröffnungszeremonien der Olympischen Spiele in Turin und Sotschi sowie beim Fête des Vignerons de Vevey mit knapp 400 000 Besuchern einen Namen gemacht. Für die Schweizer Erstaufführung scheint er sich stark an die Bildsprache der Abschlussszene aus Antonionis Filmklassiker "Blow-up" aus dem Jahre 1966 anzulehnen, wo der Held an einem Tennisplatz vorbeikommt und sich von einer Gruppe junger Leute verzaubern lässt, die pantomimisch und in Zeitlupe miteinander spielen.
In Zwischenspielen trägt die Schauspielerin Beatriz Sayad als Harlekin Dadaistisches über den Feminismus oder Radiofeatures vor, einmal virtuos von der Geigerin Madoka Sakitsu begleitet. Die erste von neun Szenen beginnt in Einsteins Arbeitszimmer, das von einem übergroßen Büchergestell dominiert wird. Es wächst unmerklich in die Höhe, bis einer der Papierflieger, die von einer Tänzerin heruntergeworfen werden, sich in eine Drohne verwandelt, selbständig zu fliegen beginnt und dabei Loopings zustande bringt, um wohl Naturgesetzen spielerisch ein Schnippchen zu schlagen. Offensichtlich gehören Flugobjekte zum Grundvokabular dieser Szenographie (Bühne: Hugo Gargiulo). Nach Rädern und Fahrrädern fliegt sogar eine an Seilen hängende Meerjungfrau, später auch ein tibetischer Mönch durch die Lüfte.
Sie werden gegen eine andere Schönheit eingetauscht, die sich in ein Loch stürzt, aus dem ein überdimensioniertes Glas voll mit Wasser hervorkommt, in dem sie sich für längere Zeit um die eigene Achse dreht. Davor und danach kommt ein Schimmel zu Besuch, um schließlich von Stierkämpfern abgelöst zu werden, welche eine Sopranistin in einem Lied ohne Worte begleitet. Des Sinnzusammenhangs enthoben, bleibt den Zuschauern nichts anderes übrig, als sich dem Sog der Traumbilder zu ergeben oder, wie Glass es ja empfohlen hat, selbst wegzutauchen oder sich mit anderen kommunikativ an der Bar oder auf der Treppe zu treffen.
Rigoros zusammengehalten wird die Inszenierung durch das präzise Zusammenspiel unter dem Dirigat des noch jungen Titus Engel, auch er ein Zürcher. Seine Fähigkeit Phrasierungen unter Einschluss der "gekippten" Töne körperlich darzustellen, hilft Musikern und Publikum zugleich. Mit der Besetzung des Chors und des Kammerorchesters mit Studenten der benachbarten Genfer Musikhochschule hat der Intendant bereits einen weiteren Teil seines Versprechens wahr gemacht, seine Institution zu öffnen. Der nächste Schritt kommt am Samstag am "Tag der offenen Türe" im CERN, an dem ein Ausschnitt des Stücks sozusagen "vor Ort" gegeben wird.
PETER RÉVAI
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main