Experimentum Mundi gehört wohl zu den wichtigsten Werken zeitgenössicher Musik in den letzten Jahrzehnten. Diese ausergewöhnliche Aufführung von Experimentum Mundi wurde im Auditorium Parco della Musica, im May 2013, dirigiert von Giorgio Battistelli, aufgenommen.
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Giorgio Battistellis Oper "Experimentum Mundi"
Das Ei hat nicht nur eine vollendete Form, es produziert auch einen zauberhaften Klang, wenn man die Schale mit zartem Knirschen vor dem Mikrofon zerdrückt und den Dotter aus etwa ein Meter Höhe in das Mehlbett plumpsen lässt. Dann wird der Teig eine Dreiviertelstunde lang gerührt, gerollt, geschnitten, und fertig sind die frischen Eiernudeln. Marcello di Palma, der Pasticciere aus dem Städtchen Albano bei Rom, hat das Ritual schon Hunderte Male zelebriert.
Er ist einer von dreiundzwanzig Mitwirkenden in Giorgio Battistellis Musiktheaterstück "Experimentum Mundi". Sie stammen alle aus Albano bei Rom, und was sie auf der Theaterbühne zeigen, ist ihr Handwerk, nichts weiter. Der 1953 in Albano geborene Battistelli hatte sie überredet, ihre Arbeit auf der Bühne auszuüben, mit all den charakteristischen Geräuschen und Gesten. In der so entstandenen "Opera di musica immaginistica" verbindet sich musikalische Erfindung mit den Bildern aus dem Arbeitsalltag zu einem Gesamtkunstwerk, das sich allen herkömmlichen Begriffen von Musiktheater entzieht. 1981 wurde das Stück in Rom erstmals aufgeführt, es ist seither mit seinen Akteuren rund um den Globus gereist.
Der Filmaufzeichnung von Giancarlo Matcovitch merkt man kaum an, dass das "Experimentum Mundi" schon drei Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Es wirkt frisch wie am ersten Tag, auch wenn aus den kräftigen Handwerkern inzwischen grauhaarige Charakterköpfe geworden sind. Noch immer zelebriert der Pastabäcker seine Eier-Performance, klopft der Steinmetz seine Steine, hämmert der Schmied das Eisen. Auf einigen Posten ist schon die nächste Generation aktiv. Zu besichtigen sind die Traditionsreste einer großen Handwerkskunst, die vor Jahrhunderten die Basis für unsere Zivilisation legte, vom frühromanischen Baumeister über den mittelalterlichen Werkzeugmacher bis zum Schuhmacher und Poeten Hans Sachs. Ihre Fähigkeiten ermöglichten einst eine neue Welterfahrung. Heute, im digitalen Zeitalter, werden sie von der Furie des Verschwindens eingeholt. Vielleicht ist das, neben dem hohen Authentizitätsgrad, ein Grund für die Faszination, die das Handwerkerkollektiv aus Albano bis heute überall auslöst. Und zweifellos regt sich auch ein bisschen unsere Italien-Sehnsucht angesichts der präzisen, sprechenden Gesten, mit denen sich hier menschliche Kreativität artikuliert, und beim hellen Stimmklang der vier Frauen, die vom Rand der Szene her ihre Beschwörungen in die Arbeitsgeräusche hineinrufen.
Doch ist "Experimentum Mundi" mehr als eine hyperrealistische Darstellung mediterraner Lebenswelten. Es sei ihm um die damals vieldiskutierte Frage asymmetrischer Rhythmen gegangen, erklärt Battistelli in einem informativen Zusatztrack dieser DVD, die auch als Blu-ray Disc erhältlich ist. Durch die Überlagerung physiologisch gesteuerter Rhythmen habe er seine Absicht besser verwirklichen können als durch abstrakte Kalkulationen am Schreibtisch.
Diese Körperlichkeit der Klangerzeugung verleiht dem Werk eine gehörige Durchschlagskraft, zumal Battistelli als Dirigent seine Truppe mit vitaler Gestik anfeuert. Ein Schlagzeuger (übrigens der einzige professionelle Musiker dieses Ensembles) sorgt für die konzertante Verfeinerung der Handwerksgeräusche. Die rhythmische Polyphonie ist einer genauen Dramaturgie unterworfen. Es gibt Momente musikalischer Hochspannung, etwa, wenn auf dem Höhepunkt einer langen Steigerung, getragen vom Generalbass der mächtigen Hammerschläge zweier Küfer, überhöht durch die irrlichternden Rufe des Frauenquartetts, der Klangstrom plötzlich abreißt und das sirrende Geräusch der Scherenschleifer in die Stille hineinschneidet. In der vorliegenden Live-Aufnahme wird dies vom Publikum mit Zwischenapplaus quittiert.
Dazu kommt: Gesprochene Zitate aus Diderots Encyclopédie rücken die realistischen Vorgänge auf ästhetische Distanz. Es handelt sich nur um aneinandergereihte Substantive: die Namen der Werkzeuge, ihre Funktionen. Zu den magischen Beschwörungsformeln der Frauen und den rhythmischen Ritualen der Handwerker bildet diese Ordnung der Dinge einen schillernden Kontrapunkt. Es ist die rationalistische Pointe in einem genial erfundenen Werk, das irgendwo zwischen sozialer Plastik und Geräuschkomposition, zwischen Volkskultur und experimentellem Musiktheater seinen Platz gefunden hat und seinesgleichen bis heute nicht findet.
MAX NYFFELER
Giorgio Battistelli: Experimentum Mundi. Film von Giancarlo
Matcovitch.
EuroArts 2059944/48
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