New York Mitte des 19. Jahrhunderts: Zwei Männer betreten den Paradise Square. Hinter ihnen eine wogende Menge, rhythmisches Aufstampfen von Füßen, Waffen wirbeln durch die Luft, die Atmosphäre ist hasserfüllt. Priest Vallon (Liam Nesson), Anführer der irischen "Dead Rabbits", und William Cutting, Bandenchef der "Natives", wollen nur das Eine, den Tod des anderen. 16 Jahre später: Priest Vallons Sohn Amsterdam (Leonardo DiCaprio) kehrt zurück in das Elendsviertel Five Points. Er hat nur noch einen Gedanken im Kopf, sich an dem Mann rächen, der seinen Vater getötet hat: William Cutting, genannt "Bill the Butcher". Amsterdam weiß, dass er zunächst das Vertrauen von Bill erlangen muss. Ein gefährliches Unterfangen, dass sich zuspitzt als er der verführerischen Taschendiebin Jenny Everdeane (Cameron Diaz) begegnet. Amsterdams Geschichte wird zum Kampf ums Überleben, in einer Zeit, die zur Zerreißprobe der USA wurde - der härtesten, die das Land bis dahin erlebt hatte...
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DVD-Ausstattung / Bonusmaterial: - Kinotrailer - Trailer von anderen Filmen - Kapitel- / Szenenanwahl - Animiertes DVD-Menü - DVD-Menü mit SoundeffektenFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2003Blutiger Anfang
Über Martin Scorsese, seinen Kampf gegen alle Widerstände - und über seinen Film "Gangs of New York" / Von Peter Körte
So sieht also ein Mann aus, der das eine oder andere Gefecht verloren, aber die große Schlacht am Ende gewonnen hat. Er berät sich mit seiner Assistentin, was man zu Mittag essen soll, er kommt mit federndem Schritt auf einen zu, die Hand ausgestreckt, und er beginnt in rasendem Tempo zu reden, er lacht zwischendurch laut und herzhaft. Von Schlachten und Kämpfen erzählt er nicht, er erinnert sich lieber an seine Kindheit im Little Italy von New York, und irgendwann wird einem klar, daß das eine mit dem anderen eine Menge zu tun hat.
So sieht der Mann aus, der "Gangs of New York" gedreht hat, und er kommt von einem Schlachtfeld, auf dem es, wenn man den Berichten der letzten Monate glaubt, kaum weniger gewalttätig zuging als in den Bandenkriegen des Films. Der 60jährige Martin Scorsese, der nach Filmen wie "Taxi Driver" (1976), "Wie ein wilder Stier" (1981) oder "GoodFellas" (1990) als einer der größten lebenden Regisseure gilt, sitzt entspannt und gut aufgelegt in der Suite eines Berliner Hotels, so entspannt, wie er es vielleicht damals war, als er 1970 das Haus von Freunden auf Long Island hütete und dort ein Buch aus dem Regal zog, Herbert Asburys "The Gangs of New York", 1928 erstmals erschienen, halb Report und halb Legende. Eine schillernde Chronik der Bandenkriege des 19. Jahrhunderts, ein Buch, das Borges wie Burroughs schätzten. Es erzählt von der katastrophischen Geburt der modernen amerikanischen Gesellschaft aus Chaos und Stammeskämpfen, von einem New York mitten im Bürgerkrieg. Der überzeugte New Yorker Scorsese las das Buch in einer Nacht und wußte sofort: Daraus muß ein Film werden.
Mehr als 30 Jahre später ist dieser Film da, er hat 100, vielleicht auch 120 Millionen Dollar gekostet, 22 000 Arbeitsstunden allein der Statisten, lange Monate in den römischen Cinecittà-Studios, endlose Monate im Schneideraum. Scorsese und sein großer Star Leonardo DiCaprio haben große Teile ihrer Gage in den Film gesteckt. Wie eine dunkle Wolke hing diese Vorgeschichte über dem Film, als er kurz vor Weihnachten 2002 dann endlich, mit mehr als einem Jahr Verspätung, in amerikanische Kinos kam, mäßig begeistert von der Presse empfangen, die all den Klatsch und die Gerüchte zuvor unermüdlich kolportiert hatte. Und im Kampf zwischen Bill the Butcher und Amsterdam Vallon, den beiden Hauptfiguren des Films, meint man noch das Echo von Scorseses Duellen mit seinem Produzenten Harvey Weinstein zu hören, die um die endgültige Fassung von "Gangs of New York" beinahe so erbittert gestritten hatten wie die Warlords um die Herrschaft in Lower Manhattan vor 140 Jahren.
Doch es ist nicht einfach die alte Story vom Künstler und vom Geldsack, vom Konflikt zwischen Kunst und Kommerz, zwischen dem Visionär und dem Mann mit den Scherenhänden, der die Vision verstümmelt. Es war ein offener Kampf, Mann gegen Mann, und Martin Scorsese, der schon immer ein Fighter war, hat von Anfang an gewußt, mit wem er sich einließ. Als erstes erklärte er seinem Freund Jay Cocks, der in zwei Jahrzehnten mehr als ein Dutzend Drehbuchfassungen für "Gangs of New York" geschrieben hatte, die Zusammenarbeit sei beendet. Harvey Weinstein wollte es so.
Zwei andere Autoren schrieben weiter. Und Weinstein, der bullige, Zigarren rauchende Produzent, ist nicht einfach nur ein brutaler Mogul mit Hang zu berüchtigten Temperamentsausbrüchen. Weinsteins Firma Miramax, die inzwischen zum Disney-Konzern gehört, war die amerikanische Bastion des unabhängigen Kinos der neunziger Jahre. Weinstein hat Quentin Tarantino groß gemacht, Welterfolge wie "Shakespeare in Love" oder "Der englische Patient" produziert und Oscars in Serie kassiert. Er ist ein Mann, der das Kino so obsessiv liebt, daß er glaubt, sich in alles einmischen zu müssen. Ein Maniac, dem man sogar glaubt, wenn er sagt, er habe noch nie so viel gelernt wie von Scorsese, der ihm während der Dreharbeiten jeden Samstag einen Film zu sehen empfahl, der die Arbeit an "Gangs" beeinflußt hatte.
Weinstein war derjenige, der Feuer fing bei dem Projekt, der Scorsese den Film ermöglichte und ihn dann 16 Wochen lang in Rom bei den Dreharbeiten belagerte. Als die Gerüchte über massive Konflikte immer lauter wurden, veröffentlichten Weinstein und Scorsese eine Erklärung, in der von einer "großartigen Arbeitsbeziehung" und sogar von "fun" die Rede war. Daß es eher eine "schreckliche Erfahrung" gewesen sein muß, mit dieser Einschätzung wollte sich später nur Jay Cocks namentlich zitieren lassen. Scorsese erklärte lediglich diplomatisch, Weinsteins Druck sei "heftig, sehr heftig" gewesen. Wie der Film ausgesehen hätte ohne Weinsteins Druck, darüber braucht man nicht lange zu spekulieren. Im Gespräch sagt Scorsese, was man sehe, sei sein "director's cut", und es werde auf Video und DVD keine längere Version geben, weil er keine wesentliche Szene weggeworfen habe. Vor allem jene nicht, in der Bill the Butcher beim Kartenspiel einem anderen Spieler ein Messer durch die Hand rammt und sagt: "Bitte mach dieses Geräusch nicht noch mal, Harvey."
Scorsese hat den Kampf gewonnen, und Weinstein hat ihn nicht verloren, weil "Gangs" durch Weinsteins Geschäftstüchtigkeit längst in alle Welt verkauft wurde, weil er in Amerika bereits jetzt so viel eingespielt hat, daß ein Break-even in Sicht ist. Daß viele in Hollywood Harvey Weinstein mit Vergnügen hätten stürzen sehen, war Scorseses Risiko. Scorsese ist auch keiner, der sich als Opfer fühlte. Er ist ein Survivor, ein Überlebender; sonst würde er im Gespräch kaum sagen: "Ich komme aus einer traditionellen sizilianischen Familie, in der galt: Das Leben ist hart, es ist ein Kampf, und es gibt nichts als Leiden." Und vielleicht war dieser Kampf auch unausweichlich, weil es die Energie und die Sturheit von zwei Besessenen brauchte, damit aus einer Idee ein Film wie "Gangs" werden konnte. Ein Film, von dem Scorsese heute sagt, er hätte ihn damals, in den siebziger Jahren, als er "Taxi Driver" drehte, nicht machen können, "weil ich mich durch dieses Projekt gar nicht hätte ausdrücken können".
Der Kampf ums Überleben, der in den Straßen stattfindet, in den "Mean Streets" des alten New York, hat sich am Set fortgesetzt, in Büros und Schneideräumen und Tonstudios, und er ist zugleich die explosive Kraft, die "Gangs of New York" treibt. Wie in der Entstehungsgeschichte des Films führt auch auf der Leinwand der Aufprall der Interessen nicht zu den beabsichtigten Resultaten - wie in Hegels "List der Vernunft" entsteht die moderne Gesellschaft über die Köpfe der Kämpfenden hinweg.
Von ganz unten steigt "Gangs" auf. Am Anfang ist nur ein schabendes Geräusch, Rasiermesser auf Haut, und Blut tropft auf die Klinge. Aus den Eingeweiden von New York steigen die irischen "Dead Rabbits" empor, primitiv, aber bis an die Zähne bewaffnet, sie bewegen sich durch einen riesigen höhlenartigen Raum, der aussieht wie ein gewaltiges Bühnenbild. Sie treten in den Schnee von Five Points, zur Schlacht der katholischen irischen Einwanderer gegen die protestantischen "Nativists", die Nachfahren der ersten Immigranten. Im gnadenlosen Getümmel färbt der Schnee sich blutig, und auf einmal blickt man in eine Totale, die aussieht, als sei ein Brueghel-Gemälde in wilde Bewegung geraten. Bill the Butcher (Daniel Day-Lewis) tötet den Anführer der Iren (Liam Neeson), dessen Schwert zugleich ein Kruzifix ist. Der Sohn des Getöteten schaut zu.
Dann springt die Geschichte aus dem Jahr 1846 ins Jahr 1863. Aus dem Kind ist Leonardo DiCaprio geworden, der zurückkehrt, um sich zu rächen, und aus Bill the Butcher, in dessen Glasauge das Bild eines Adlers die Iris ersetzt, der inoffizielle Herrscher über die Five-Points-Region im unteren Manhattan, von der heute nichts mehr übriggeblieben ist. Was Archäologen der Großstadt später in der Gegend zwischen Hafen, Wall Street und unterem Broadway ausgegraben und archiviert haben, worauf sich auch die Recherchen für den Film stützten, das alles ist beim Einsturz der Twin Towers vernichtet worden.
Five Points in der Mitte des 19. Jahrhunderts, das ist eine Welt, die man im Kino noch nie gesehen hat. Amerikas erster Slum, voller Gewalt, Armut, Krankheit, Rassismus und Ressentiment. Bevölkert von Messerwerfern, Taschendieben, Erpressern, Schlägern, Prostituierten, Preisboxern, zersplittert in ethnische Gruppen, kontrolliert, mit dem heimlichen Segen der Stadtregierung, von Bill the Butcher. Die Old Brewery, der Rückzugsort der Iren, ist eine finstere Unterwelt, die Sparrows Chinese Pagoda ist Nachtklub, Theater, Opiumhöhle, Bordell und Saloon in einem. Und Satan's Circus, das Hauptquartier von Bill the Butcher, in dem der gelernte Schlachter noch immer zum Vergnügen Schweine zerlegt oder dicke, blutige Steaks schneidet, könnte durchaus die Hölle sein, in die ein Baum von der Straße hineingewachsen ist.
Was auf den Straßen und in den höhlenartigen Räumen geschieht, gleicht einem blutigen Karneval: Konkurrierende Feuerwehren lassen ein Haus einfach abbrennen, um es hinterher zu plündern; auf einer Theaterbühne hängt eine Abraham-Lincoln-Puppe von der Decke, die vom Publikum mit Gemüse beworfen wird.
Fortsetzung auf der nächsten Seite.
Eine historische Phantasmagorie, auf realen Grundmauern errichtet - "ein Wilder Westen auf dem Mars", sagt Scorsese. Er hat die Fakten der Geschichte erhitzt und verdichtet, und so sieht man etwa in einer ungeschnittenen Szene, wie die irischen Einwanderer vom Schiff strömen, wie man sie als Soldaten für die Nordstaaten rekrutiert, um sie nach Georgia einzuschiffen, während ein Schiff, das gerade in den Hafen einläuft, die Särge der im Bürgerkrieg Gefallenen an Bord hat.
In das anarchische Gewühl dieser Welt eingetaucht ist die Geschichte der Rache. Sie handelt davon, wie Amsterdam sich in der Gang des Butchers emporarbeitet und zu einer Art Ersatzsohn wird, wie er mit der ehemaligen Geliebten (Cameron Diaz) des Butchers, einer Taschendiebin und Prostituierten, eine turbulente Affäre anfängt; wie der Butcher allmählich zur anachronistischen Figur wird, wie die Politiker ihn fallenlassen und lieber auf Amsterdam setzen, der zum ziemlich idealisierten Anführer einer multiethnischen Gruppierung geworden ist. Am Ende der zweidreiviertel Stunden läßt Scorsese die Vendetta mit den berühmten "Draft Riots" von 1863 zusammenfallen, bei denen die Einwanderer, die die dreihundert Dollar nicht hatten, um sich von der Wehrpflicht loszukaufen, auf die Straße gingen und nicht nur gegen die Soldaten kämpften, sondern die Häuser der Reichen plünderten und vor allem ein tagelanges Pogrom gegen die afroamerikanische Bevölkerung von New York veranstalteten. Es gibt keinen Showdown von Gut und Böse, keinen moralischen Fortschritt, der sich den Ideen von Freiheit und Gleichheit verdankt. Eine alte Ordnung geht unter, aus den Trümmern geht eine neue hervor, und Scorsese enthält sich jeder Parteinahme. Er entwirft einfach ein gewaltiges, wimmelndes Schlachtengemälde, dessen Sujet die Entstehung der modernen amerikanischen Gesellschaft ist, das auch die Familienrache zum Detail schrumpfen läßt, was manche Kritiker Scorsese vorgeworfen haben, als sei ihm diese Verschiebung entgangen. Der Film, sagt Scorsese sichtlich amüsiert, "muß den Anschein erwecken, daß er einen epischen, eng verzahnten Plot hat. Doch wenn man genauer hinschaut, gibt es gar keinen Plot."
So ist "Gangs of New York" ein Epos ohne Plot, ein strukturiertes Chaos, ein großer und ein großartiger Film mit unübersehbaren Schwächen. Man könnte sich dabei aufhalten, daß Leonardo DiCaprio Daniel Day-Lewis in keiner einzigen Szene schauspielerisch gewachsen ist, daß die Rolle von Cameron Diaz bloß funktional bleibt, weil sie vor allem ein wenig Erotik und ödipale Spannung erzeugen soll - die großen Gefühle zwischen Männern und Frauen waren noch nie Scorseses beste Momente; man könnte einwenden, daß manche Erfindungen des Drehbuchs die sogenannte reale Historie weniger verdichten als verzerren. An der visuellen und erzählerischen Kraft, mit der Scorsese dieses Panorama ausfüllt, ändert das nichts.
Vermutlich gibt es gerade mal zwei, drei Regisseure auf der Welt, die eine versunkene Zeit noch einmal so heraufbeschwören könnten, die es mit jener genuin amerikanischen Unerschrockenheit fertigbrächten, die düsteren Kapitel der eigenen Mythologie so leuchten zu lassen, einer Gründungsgeschichte, die eben nicht von Männern mit weißen Perücken und Federkielen geschrieben, sondern die auf der Straße mit Blut und Fleischerhaken ausgetragen wurde. Es ist nicht Scorseses Immigrantengeschichte, aber es ist eine Geschichte, deren Echos in seiner eigenen immer unüberhörbar waren. Es ist Martin Scorseses "Es war einmal in Amerika". Und nach all den Schlachten, die er dafür geschlagen hat, sagt der Mann, der in den bequemen Hotelsesseln dieser Welt angekommen ist: "Ich bin noch immer ein Außenseiter, der dazugehören will. Ich bin es mein ganzes Leben lang gewesen."
"Gangs of New York" läuft am 20. Februar in deutschen Kinos an. Herbert Asburys Buch "Gangs of New York. Eine Geschichte der Unterwelt" ist im Heyne Verlag erschienen (447 S., 8,95 [Euro]).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Über Martin Scorsese, seinen Kampf gegen alle Widerstände - und über seinen Film "Gangs of New York" / Von Peter Körte
So sieht also ein Mann aus, der das eine oder andere Gefecht verloren, aber die große Schlacht am Ende gewonnen hat. Er berät sich mit seiner Assistentin, was man zu Mittag essen soll, er kommt mit federndem Schritt auf einen zu, die Hand ausgestreckt, und er beginnt in rasendem Tempo zu reden, er lacht zwischendurch laut und herzhaft. Von Schlachten und Kämpfen erzählt er nicht, er erinnert sich lieber an seine Kindheit im Little Italy von New York, und irgendwann wird einem klar, daß das eine mit dem anderen eine Menge zu tun hat.
So sieht der Mann aus, der "Gangs of New York" gedreht hat, und er kommt von einem Schlachtfeld, auf dem es, wenn man den Berichten der letzten Monate glaubt, kaum weniger gewalttätig zuging als in den Bandenkriegen des Films. Der 60jährige Martin Scorsese, der nach Filmen wie "Taxi Driver" (1976), "Wie ein wilder Stier" (1981) oder "GoodFellas" (1990) als einer der größten lebenden Regisseure gilt, sitzt entspannt und gut aufgelegt in der Suite eines Berliner Hotels, so entspannt, wie er es vielleicht damals war, als er 1970 das Haus von Freunden auf Long Island hütete und dort ein Buch aus dem Regal zog, Herbert Asburys "The Gangs of New York", 1928 erstmals erschienen, halb Report und halb Legende. Eine schillernde Chronik der Bandenkriege des 19. Jahrhunderts, ein Buch, das Borges wie Burroughs schätzten. Es erzählt von der katastrophischen Geburt der modernen amerikanischen Gesellschaft aus Chaos und Stammeskämpfen, von einem New York mitten im Bürgerkrieg. Der überzeugte New Yorker Scorsese las das Buch in einer Nacht und wußte sofort: Daraus muß ein Film werden.
Mehr als 30 Jahre später ist dieser Film da, er hat 100, vielleicht auch 120 Millionen Dollar gekostet, 22 000 Arbeitsstunden allein der Statisten, lange Monate in den römischen Cinecittà-Studios, endlose Monate im Schneideraum. Scorsese und sein großer Star Leonardo DiCaprio haben große Teile ihrer Gage in den Film gesteckt. Wie eine dunkle Wolke hing diese Vorgeschichte über dem Film, als er kurz vor Weihnachten 2002 dann endlich, mit mehr als einem Jahr Verspätung, in amerikanische Kinos kam, mäßig begeistert von der Presse empfangen, die all den Klatsch und die Gerüchte zuvor unermüdlich kolportiert hatte. Und im Kampf zwischen Bill the Butcher und Amsterdam Vallon, den beiden Hauptfiguren des Films, meint man noch das Echo von Scorseses Duellen mit seinem Produzenten Harvey Weinstein zu hören, die um die endgültige Fassung von "Gangs of New York" beinahe so erbittert gestritten hatten wie die Warlords um die Herrschaft in Lower Manhattan vor 140 Jahren.
Doch es ist nicht einfach die alte Story vom Künstler und vom Geldsack, vom Konflikt zwischen Kunst und Kommerz, zwischen dem Visionär und dem Mann mit den Scherenhänden, der die Vision verstümmelt. Es war ein offener Kampf, Mann gegen Mann, und Martin Scorsese, der schon immer ein Fighter war, hat von Anfang an gewußt, mit wem er sich einließ. Als erstes erklärte er seinem Freund Jay Cocks, der in zwei Jahrzehnten mehr als ein Dutzend Drehbuchfassungen für "Gangs of New York" geschrieben hatte, die Zusammenarbeit sei beendet. Harvey Weinstein wollte es so.
Zwei andere Autoren schrieben weiter. Und Weinstein, der bullige, Zigarren rauchende Produzent, ist nicht einfach nur ein brutaler Mogul mit Hang zu berüchtigten Temperamentsausbrüchen. Weinsteins Firma Miramax, die inzwischen zum Disney-Konzern gehört, war die amerikanische Bastion des unabhängigen Kinos der neunziger Jahre. Weinstein hat Quentin Tarantino groß gemacht, Welterfolge wie "Shakespeare in Love" oder "Der englische Patient" produziert und Oscars in Serie kassiert. Er ist ein Mann, der das Kino so obsessiv liebt, daß er glaubt, sich in alles einmischen zu müssen. Ein Maniac, dem man sogar glaubt, wenn er sagt, er habe noch nie so viel gelernt wie von Scorsese, der ihm während der Dreharbeiten jeden Samstag einen Film zu sehen empfahl, der die Arbeit an "Gangs" beeinflußt hatte.
Weinstein war derjenige, der Feuer fing bei dem Projekt, der Scorsese den Film ermöglichte und ihn dann 16 Wochen lang in Rom bei den Dreharbeiten belagerte. Als die Gerüchte über massive Konflikte immer lauter wurden, veröffentlichten Weinstein und Scorsese eine Erklärung, in der von einer "großartigen Arbeitsbeziehung" und sogar von "fun" die Rede war. Daß es eher eine "schreckliche Erfahrung" gewesen sein muß, mit dieser Einschätzung wollte sich später nur Jay Cocks namentlich zitieren lassen. Scorsese erklärte lediglich diplomatisch, Weinsteins Druck sei "heftig, sehr heftig" gewesen. Wie der Film ausgesehen hätte ohne Weinsteins Druck, darüber braucht man nicht lange zu spekulieren. Im Gespräch sagt Scorsese, was man sehe, sei sein "director's cut", und es werde auf Video und DVD keine längere Version geben, weil er keine wesentliche Szene weggeworfen habe. Vor allem jene nicht, in der Bill the Butcher beim Kartenspiel einem anderen Spieler ein Messer durch die Hand rammt und sagt: "Bitte mach dieses Geräusch nicht noch mal, Harvey."
Scorsese hat den Kampf gewonnen, und Weinstein hat ihn nicht verloren, weil "Gangs" durch Weinsteins Geschäftstüchtigkeit längst in alle Welt verkauft wurde, weil er in Amerika bereits jetzt so viel eingespielt hat, daß ein Break-even in Sicht ist. Daß viele in Hollywood Harvey Weinstein mit Vergnügen hätten stürzen sehen, war Scorseses Risiko. Scorsese ist auch keiner, der sich als Opfer fühlte. Er ist ein Survivor, ein Überlebender; sonst würde er im Gespräch kaum sagen: "Ich komme aus einer traditionellen sizilianischen Familie, in der galt: Das Leben ist hart, es ist ein Kampf, und es gibt nichts als Leiden." Und vielleicht war dieser Kampf auch unausweichlich, weil es die Energie und die Sturheit von zwei Besessenen brauchte, damit aus einer Idee ein Film wie "Gangs" werden konnte. Ein Film, von dem Scorsese heute sagt, er hätte ihn damals, in den siebziger Jahren, als er "Taxi Driver" drehte, nicht machen können, "weil ich mich durch dieses Projekt gar nicht hätte ausdrücken können".
Der Kampf ums Überleben, der in den Straßen stattfindet, in den "Mean Streets" des alten New York, hat sich am Set fortgesetzt, in Büros und Schneideräumen und Tonstudios, und er ist zugleich die explosive Kraft, die "Gangs of New York" treibt. Wie in der Entstehungsgeschichte des Films führt auch auf der Leinwand der Aufprall der Interessen nicht zu den beabsichtigten Resultaten - wie in Hegels "List der Vernunft" entsteht die moderne Gesellschaft über die Köpfe der Kämpfenden hinweg.
Von ganz unten steigt "Gangs" auf. Am Anfang ist nur ein schabendes Geräusch, Rasiermesser auf Haut, und Blut tropft auf die Klinge. Aus den Eingeweiden von New York steigen die irischen "Dead Rabbits" empor, primitiv, aber bis an die Zähne bewaffnet, sie bewegen sich durch einen riesigen höhlenartigen Raum, der aussieht wie ein gewaltiges Bühnenbild. Sie treten in den Schnee von Five Points, zur Schlacht der katholischen irischen Einwanderer gegen die protestantischen "Nativists", die Nachfahren der ersten Immigranten. Im gnadenlosen Getümmel färbt der Schnee sich blutig, und auf einmal blickt man in eine Totale, die aussieht, als sei ein Brueghel-Gemälde in wilde Bewegung geraten. Bill the Butcher (Daniel Day-Lewis) tötet den Anführer der Iren (Liam Neeson), dessen Schwert zugleich ein Kruzifix ist. Der Sohn des Getöteten schaut zu.
Dann springt die Geschichte aus dem Jahr 1846 ins Jahr 1863. Aus dem Kind ist Leonardo DiCaprio geworden, der zurückkehrt, um sich zu rächen, und aus Bill the Butcher, in dessen Glasauge das Bild eines Adlers die Iris ersetzt, der inoffizielle Herrscher über die Five-Points-Region im unteren Manhattan, von der heute nichts mehr übriggeblieben ist. Was Archäologen der Großstadt später in der Gegend zwischen Hafen, Wall Street und unterem Broadway ausgegraben und archiviert haben, worauf sich auch die Recherchen für den Film stützten, das alles ist beim Einsturz der Twin Towers vernichtet worden.
Five Points in der Mitte des 19. Jahrhunderts, das ist eine Welt, die man im Kino noch nie gesehen hat. Amerikas erster Slum, voller Gewalt, Armut, Krankheit, Rassismus und Ressentiment. Bevölkert von Messerwerfern, Taschendieben, Erpressern, Schlägern, Prostituierten, Preisboxern, zersplittert in ethnische Gruppen, kontrolliert, mit dem heimlichen Segen der Stadtregierung, von Bill the Butcher. Die Old Brewery, der Rückzugsort der Iren, ist eine finstere Unterwelt, die Sparrows Chinese Pagoda ist Nachtklub, Theater, Opiumhöhle, Bordell und Saloon in einem. Und Satan's Circus, das Hauptquartier von Bill the Butcher, in dem der gelernte Schlachter noch immer zum Vergnügen Schweine zerlegt oder dicke, blutige Steaks schneidet, könnte durchaus die Hölle sein, in die ein Baum von der Straße hineingewachsen ist.
Was auf den Straßen und in den höhlenartigen Räumen geschieht, gleicht einem blutigen Karneval: Konkurrierende Feuerwehren lassen ein Haus einfach abbrennen, um es hinterher zu plündern; auf einer Theaterbühne hängt eine Abraham-Lincoln-Puppe von der Decke, die vom Publikum mit Gemüse beworfen wird.
Fortsetzung auf der nächsten Seite.
Eine historische Phantasmagorie, auf realen Grundmauern errichtet - "ein Wilder Westen auf dem Mars", sagt Scorsese. Er hat die Fakten der Geschichte erhitzt und verdichtet, und so sieht man etwa in einer ungeschnittenen Szene, wie die irischen Einwanderer vom Schiff strömen, wie man sie als Soldaten für die Nordstaaten rekrutiert, um sie nach Georgia einzuschiffen, während ein Schiff, das gerade in den Hafen einläuft, die Särge der im Bürgerkrieg Gefallenen an Bord hat.
In das anarchische Gewühl dieser Welt eingetaucht ist die Geschichte der Rache. Sie handelt davon, wie Amsterdam sich in der Gang des Butchers emporarbeitet und zu einer Art Ersatzsohn wird, wie er mit der ehemaligen Geliebten (Cameron Diaz) des Butchers, einer Taschendiebin und Prostituierten, eine turbulente Affäre anfängt; wie der Butcher allmählich zur anachronistischen Figur wird, wie die Politiker ihn fallenlassen und lieber auf Amsterdam setzen, der zum ziemlich idealisierten Anführer einer multiethnischen Gruppierung geworden ist. Am Ende der zweidreiviertel Stunden läßt Scorsese die Vendetta mit den berühmten "Draft Riots" von 1863 zusammenfallen, bei denen die Einwanderer, die die dreihundert Dollar nicht hatten, um sich von der Wehrpflicht loszukaufen, auf die Straße gingen und nicht nur gegen die Soldaten kämpften, sondern die Häuser der Reichen plünderten und vor allem ein tagelanges Pogrom gegen die afroamerikanische Bevölkerung von New York veranstalteten. Es gibt keinen Showdown von Gut und Böse, keinen moralischen Fortschritt, der sich den Ideen von Freiheit und Gleichheit verdankt. Eine alte Ordnung geht unter, aus den Trümmern geht eine neue hervor, und Scorsese enthält sich jeder Parteinahme. Er entwirft einfach ein gewaltiges, wimmelndes Schlachtengemälde, dessen Sujet die Entstehung der modernen amerikanischen Gesellschaft ist, das auch die Familienrache zum Detail schrumpfen läßt, was manche Kritiker Scorsese vorgeworfen haben, als sei ihm diese Verschiebung entgangen. Der Film, sagt Scorsese sichtlich amüsiert, "muß den Anschein erwecken, daß er einen epischen, eng verzahnten Plot hat. Doch wenn man genauer hinschaut, gibt es gar keinen Plot."
So ist "Gangs of New York" ein Epos ohne Plot, ein strukturiertes Chaos, ein großer und ein großartiger Film mit unübersehbaren Schwächen. Man könnte sich dabei aufhalten, daß Leonardo DiCaprio Daniel Day-Lewis in keiner einzigen Szene schauspielerisch gewachsen ist, daß die Rolle von Cameron Diaz bloß funktional bleibt, weil sie vor allem ein wenig Erotik und ödipale Spannung erzeugen soll - die großen Gefühle zwischen Männern und Frauen waren noch nie Scorseses beste Momente; man könnte einwenden, daß manche Erfindungen des Drehbuchs die sogenannte reale Historie weniger verdichten als verzerren. An der visuellen und erzählerischen Kraft, mit der Scorsese dieses Panorama ausfüllt, ändert das nichts.
Vermutlich gibt es gerade mal zwei, drei Regisseure auf der Welt, die eine versunkene Zeit noch einmal so heraufbeschwören könnten, die es mit jener genuin amerikanischen Unerschrockenheit fertigbrächten, die düsteren Kapitel der eigenen Mythologie so leuchten zu lassen, einer Gründungsgeschichte, die eben nicht von Männern mit weißen Perücken und Federkielen geschrieben, sondern die auf der Straße mit Blut und Fleischerhaken ausgetragen wurde. Es ist nicht Scorseses Immigrantengeschichte, aber es ist eine Geschichte, deren Echos in seiner eigenen immer unüberhörbar waren. Es ist Martin Scorseses "Es war einmal in Amerika". Und nach all den Schlachten, die er dafür geschlagen hat, sagt der Mann, der in den bequemen Hotelsesseln dieser Welt angekommen ist: "Ich bin noch immer ein Außenseiter, der dazugehören will. Ich bin es mein ganzes Leben lang gewesen."
"Gangs of New York" läuft am 20. Februar in deutschen Kinos an. Herbert Asburys Buch "Gangs of New York. Eine Geschichte der Unterwelt" ist im Heyne Verlag erschienen (447 S., 8,95 [Euro]).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main