17,99 €
inkl. MwSt.

Sofort lieferbar
payback
9 °P sammeln
  • DVD

Ein junger Mann kehrt, nach Jahren auf See, nach St. Pauli zurück, wo er an der Lieblosigkeit seiner Mutter und an gesellschaftlichen Widerständen zugrunde geht.
Bonusmaterial
Digitales Booklet Trailer

  • Anzahl: 1 DVD
Produktbeschreibung
Ein junger Mann kehrt, nach Jahren auf See, nach St. Pauli zurück, wo er an der Lieblosigkeit seiner Mutter und an gesellschaftlichen Widerständen zugrunde geht.

Bonusmaterial

Digitales Booklet Trailer
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2024

Brachen der Seele

Von Dominik Graf

Ein Bild. Eine Ecke in einer Kneipe, ein Mundharmonikamann, mit Alkoholschweiß im Gesicht und mit seinem Instrument in selig kitschigem Einklang, neben ihm eine nicht mehr ganz junge Frau mit starkem Willen und verklärter Schwäche in den Augen. Sie singt mit zu seiner Melodie, aber sie blickt nach links aus dem Bild hinaus. Zu einem anderen. Einem auch nicht mehr ganz jungen Mann . . .

Vielleicht liegt es am ewigen Schisma im germanischen Kino zwischen ersehntem Kommerz und intendierter "Filmkunst" - beide zu gleichen Teilen einander beschimpfend und sich selbst idealisierend -, vielleicht liegt es an diesem kontinuierlichen Riss, dieser umkämpften Demarkationslinie von Hoffnung oder Enttäuschung oder Ablehnung, dass der deutsche Film ideologischen Strömungen immer wieder die Einfallstore öffnen muss. Die Historie kann ein Lied davon singen. Und ihre impertinent überbürokratisierte Gegenwart bedroht derzeit zum x-ten Mal das filmemacherische "Faustrecht der Freiheit". Der Begriff des "Staatskinos", den vor Jahren Klaus Lemke prägte, wird damit über seinen Tod hinaus täglich an den Werken des BRD-Filmausstoßes virulenter und beschämender sichtbar.

Wie glücklich man dann doch ist, wenn man einen Film aus Deutschland lieben kann. Und so wie "Gibbi Westgermany" von Christel Buschmann nun plötzlich als DVD nach 44 Jahren aus der Versenkung zurückgekehrt ist und sich dabei als kleines Fanal erweist - so kommt anfangs der Matrose Gibbi von seiner Seefahrt zurück in den Hafen. Er stiehlt sich von Bord, man weiß nicht, wie lang er angeheuert hatte, wohin es ihn auf Reisen getrieben hat, jetzt ist er back. Der lange Schlacks mit Mick-Jagger-Anmutung im Gesicht findet sich schwer wieder zurecht. Die Mutter im Fettdampf ihrer Imbisskneipe hat einen Neuen. "Gibbi was here" schreibt der Heimkehrer an eine verschlossene Tür. Mythologische Vorlagen, das weite Meer, die Mutter, der Sohn. "Mamma Leone", ein nervensägender Jukeboxhit, den man sich damals nie und nimmer als echten Liebessong hätte vorstellen können - was hat er hier für eine Wucht! Er trifft zwischen den beiden Hauptfiguren von Anfang an den richtigen Ton der Sehnsucht, die sie jeder vor sich versteckt gehalten hatten. Die verranzten Kneipen, der edle Nikotinnebel, der in den Räumen liegt, der Schweiß auf den Gesichtern, der Exkurs in eine wahrlich irre Irrenanstalt mit dem Regisseur Hans Noever als geduldigem, weil resigniertem Oberarzt und mit dem sadistischen Claus-Dieter Reents als Wärter. Der Schweiß der Menschen auf den Positivkopien kann digital nicht wirklich adäquat wiedergegeben werden, aber Frank Brühnes Neonlicht rettet einiges an Authentizität in die porentief gesäuberte Jetztzeit des kinematographischen Bildes. Christel Buschmanns Regieideen, ihre oder vielleicht auch Gibbis Dialogideen - "Atomschlag auf die mistige Menschheit hier!" Die unglaublichen Gesichter der Kleindarsteller und Kleindarstellerinnen und der zärtlich-fatale Schluss. Homecoming. Ein Mythos seit Ödipus und Odysseus.

Was tritt einen hier plötzlich quasi von hinten, welche Geister der westdeutschen Endsiebziger erscheinen und zeigen hier ihre unerwartete, weil vergessene Schönheit, ihren Lebenshunger, ihre Verzweiflung mit solchem Stolz und manche von ihnen mit so stolzer Hässlichkeit, wie es einem im deutschen Konsenskino gar nicht mehr begegnen will. Jörg Pfennigwerth ist Gibbi und ist Arschloch und tolldreist verrückter Typ in einem. Es ist die Liebe zu seiner Mutter, die ihn vom Meer heimgetrieben hat. Die Mutter ist Eva-Maria Hagen, die es in starker Identifikation mit ihrer Figur sichtlich hin- und herwirft zwischen Liebesmangel und dann im letzten Viertel Begehren zum Sohn. Eric Burdon spukt als Hotelportier vom Kiez durch die Szenen, stets mit etlichen lästigen Hunden unterwegs - aus welchem Animals-Himmel damals auch immer gefallen. "When I think of all the good times I've been wasting - having good times." Er gab Buschmann auch den Wegweiser zum englischen Musiker Paul Millns, dessen sanfte Pianolieder mit einer Stimme, in der leise Jo Cocker mitweht, dem Film vom ersten Moment an Halt und Erde geben. (Einige Jahre später im zweiten Film von Christel Buschmann spielte Burdon die Hauptrolle eines Rockmusikers zwischen L.A. und Berlin.) Dann die Frau, die Gibbi auf der Straße fröhlich aus der Distanz anpfeift und die auch im Folgenden in seinem Hotelzimmer nur unverständlich Erfundenes artikuliert (die legendäre Barbara Ossenkopp, 2021 in Java als Tierschützerin gestorben). Und als er zu einem starken Gitarrenrock in der großen, neonhellen Trinkhalle auf eigentümlich gebremst frenetische Weise tanzt, da bleibt die Kamera eine ganze Minute nur auf ihm, und die Szene endet mit einem kleinen Schwenk auf eine lachende, amüsierte junge Frau - um die er offenbar die ganze Zeit gebalzt hat. Die geht dann mit zu seiner bettlägerigen Großmutter, wo sie sofort auf dem Sofa einschläft. Leben halt. Hartes Leben.

Man denkt einen Moment an Roland Klicks "Supermarkt" fünf Jahre zuvor, und hier vor allem an Eva Mattes in der berühmten Reeperbahn-Kotzszene. An Vadim Glownas "Desperado City" (1981) und dort an Beate Finckh. Und davor . . . natürlich an Lemkes "Rocker" (1971) und "Paul" (1974). Und wiederum vor Lemke erinnert man Jürgen Rolands Hamburg-Thriller schlechthin: "Polizeirevier Davidswache" (1964) und "Die Engel von St. Pauli" (1969), und dazu dann gleich Wolfgang Staudtes letzten Kinofilm, den herrlich unseriösen "Fluchtweg St. Pauli" (1971) - und ein paar Jahre zuvor, da gab es einen schwarzweißen Francesco Rosi in Hamburg "I magliari", auf Deutsch "Auf St. Pauli ist der Teufel los" (1959), mit Wochenend-Massenschlägereien im Hafenviertel, wie sie das deutsche Kino nie gesehen hat.

Hamburg inspirierte zu Geschichten. Immer gibt es dort den Kontrast zu sehen zwischen oben und unten. Die Mutter von Gibbis Kind hat einen Villenbesitzer geheiratet, "Paul", der Gangster, bricht mit Urgewalt in eine Pöseldorfer Party ein - Westdeutschland "ganz unten". Wie erzählen? Manche glaubten damals an eine Heilung des Kinos durch Proletariatsabenteuer oder dokumentarische Züge durch die Prekariats-Gemeinde, Heilung durch die ungeschminkte Nähe zu den Menschen, die das Establishment täglich übersieht, zu Gelegenheitsarbeitern, Tagedieben, Kleingangstern.

"Det is das wahre Leben, det andere is det falsche", ließ Rolf Basedow viele Jahre später seinen Westberliner Zuhälter Hotte sinnieren. Wir da unten, wir leben wenigstens, auch wenn wir leiden, ihr da oben seid ja schon tot. Uwe Schraders Westberliner Müllballade "Kanakerbraut" (1983), in derselben Stadt Uwe Frießners Stricher-Lied "Das Ende des Regenbogens" (1979). Und Schrader drehte 1992 noch den vergnüglich-melancholischen "Mau Mau", eine Art frühen Abschied vom bundesrepublikanischen Kiez as we knew it, sowohl im deutschen Film als auch in der gewendeten Wirklichkeit.

Neben den Menschen, denen wir begegnen, sind ja stets auch die Orte und die weiten oder engen Räume, in denen sich abspielt, was sich abspielen muss, das Schönste im Kino. Und ab und zu hatten bestimmte Gegenden Konjunktur im deutschen Film. Berlin sowieso immer, klar, München mal mehr, mal weniger, in den Endsiebzigern bis in die Neunziger gab es eine NRW-Welle, von "Theo gegen den Rest der Welt" bis "Kleine Haie", auch wenn da die Protagonisten zügig in München landen.

Und natürlich Hamburg, St. Pauli, dem man in jedem Jahrzehnt ansehen kann, wie die verhauten Gründerzeitfassaden, die kopfbefreienden Brachen, die Wildwüchse in der Stadt wegsaniert und umkonzipiert werden, von den Stadtplanern, die nichts wissen vom Leben, nur von Glas und Stahl und Rendite.

Die alten Filme bilden oft die Schichten ab, auf denen wir heute herumturnen, ohne uns der subterran existierenden Linien bewusst zu sein, die von den Menschen einst direkt zu uns führen. Man bräuchte Infrarotkameras für die Seele, um die abgelagerten Umrisse unserer ererbten Psychosen zu finden. Die alten Filme sind wie Gefühlsarchäologie, sie wissen oft mehr. Und sie wissen auch mehr übers Filmemachen. Zum Beispiel, dass jeder Herstellung von Authentizität, von nachempfundenem "Realismus" im Film auch zugleich tiefste Künstlichkeit innewohnt. "Gibbi Westgermany" hat soeben das Licht der Welt wiedererblickt, und man kann sehen und feiern, wie weit Christel Buschmann, die Autorin und Regisseurin, sich 1979 im Hamburger Kiez in die Brachen der Seelen wagte. Wie tröstlich.

Dominik Graf ist Regisseur zahlreicher Kino- und Fernsehfilme. Zuletzt war von ihm 2023 "Mein Falke" zu sehen. "Gibbi Westgermany" ist ausschließlich als DVD (bei Filmjuwelen) und bei keinem Streamer verfügbar.

Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
…mehr