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Produktdetails
  • FSK: ohne Alterseinschränkung gemäß §14 JuSchG
  • EAN: 7312065001179
  • Artikelnr.: 61390501
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2022

Der letzte Dominostein
Journalismus als Thriller: Maria Schraders packender Weinstein-Film "She Said"

Wie bringt man ein System des Machtmissbrauchs zu Fall, das über Jahrzehnte etabliert ist? Im modernen Amerika lautete die Antwort auf diese Frage lange Zeit: durch unabhängigen, kritischen Journalismus. Dass wir bereits in Zeiten leben, in denen sich das ändert, flicht die Regisseurin Maria Schrader ganz nebenbei zu Beginn ihres Films "She Said" ein. Sie zeigt die beiden Reporterinnen Megan Twohey (Carey Mulligan) und Jodi Kantor (Zoe Kazan) bei ihrer Arbeit für die "New York Times". Twohey überredet eine Frau, über die Belästigung zu sprechen, die ihr von Donald Trump widerfuhr. Die Frau erklärt sich bereit, der Artikel wird veröffentlicht und Trump dennoch zum Präsidenten gewählt. Twohey ist zu der Zeit schon schwanger und zieht sich einige Monate ins Private zurück. Währenddessen gräbt ihre Kollegin Jodi Kantor nach Zeuginnen und Zeugen, die ihr über Missbrauchsvorwürfe im Hollywoodsystem berichten können.

Wie lang solche Recherchen dauern, gibt Schrader durch zeitliche Raffung wieder, in der die Lebenswege der beiden Frauen einander gegenübergestellt werden. Kantor telefoniert, hinterlässt Nachrichten, erhält Absagen. Twohey bekommt in der Zeit ihr Kind und entwickelt eine postnatale Depression, aus der sie sich mit Arbeit retten will. Gemeinsam versuchen sie, Material gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein in die Hände zu bekommen - am Ende wird es ihr Artikel sein, der ihn zu Fall bringt.

Wenn es den viel beschworenen "weiblichen Blick" in der Regie gibt, dann ist Maria Schraders Film ein Lehrbeispiel dafür. Ihre Figuren bewegen sich außerhalb etablierter Heldenkino-Klischees, verbinden Härte und Weichheit, Stärken und Schwächen. Die beiden Hauptdarstellerinnen sind ausgezeichnete Komplizinnen für Schraders Vorhaben in dieser Richtung: Carey Mulligan verleiht ihrer Reporterin Twohey den Instinkt eines britischen Jagdhunds, wenn sie nachts im Auto vor großen Villen wartet, bis ein ehemaliger Finanzberater Weinsteins nach Hause kommt, um ihn wegen Abfindungszahlungen an belästigte Mitarbeiterinnen zu befragen. Zoe Kazan hingegen nutzt ihre ohnehin schon großen Augen zu einem weichen Blick, der immer Mitgefühl für ihre Interviewpartner, aber nie Schwäche ausdrückt. Die Beziehung der beiden zueinander geht nicht über das Arbeitsverhältnis hinaus, das Drehbuch gibt ihnen Momente der Intimität, stilisiert sie aber nicht zu neuen besten Freundinnen.

Elegant erzählt Schrader beiläufig von modernen, emanzipierten Beziehungen. Die Partner von Twohey und Kantor kümmern sich ebenfalls um die Kinder, akzeptieren, dass die Arbeit für ihre Frauen an erster Stelle kommt, und beklagen sich nicht, wenn nachts das Telefon klingelt. Glichen Reporter in Filmen über investigative Journalisten lange Zeit den frühen Detektiven der Schwarzen Serie, waren also einsame Typen, die sich so tief in ihre Arbeit vergruben, dass sie kein funktionierendes Leben außerhalb ihrer Ermittlungen zustande brachten, so schaffen es Mulligan und Kazan, glaubhaft zu vermitteln, dass Reporterinnen heute Arbeit und familiäre Aufgaben auf gleich hohem Niveau meistern müssen und können. Natürlich hat auch das seine Schattenseiten, wenn Mulligan beim Sonntagsspaziergang mit Mann und Kind im Park noch eine Anwältin am Telefon bearbeitet, ihr Unterlagen herauszugeben, oder Kazan bei einer Recherche in London ihre kleine Tochter per Skype anruft und das Videotelefonat genau dann abbricht, wenn diese sie fragt, was eine Vergewaltigung eigentlich sei.

Jeder Journalist weiß, dass sich bei langen Recherchen über Monate nichts ereignet außer Telefonate, E-Mails und Gespräche. Wie baut man auf dieser Grundlage Spannung auf, wenn eine Thriller-Stimmung hermuss? Schrader arbeitet mit Musik, legt bedrohliche Klänge über die ersten Treffen mit neuen potentiellen Quellen und bringt die Zuschauer dazu, sich bei jeder frisch eingeführten Figur zu fragen: Ist das jetzt der letzte Dominostein, der das Gebäude aus Lügen und Drohung und Gewalt zum Einstürzen bringen kann? Mit einer Ruhe, die man aus Michael-Mann-Filmen kennt, baut die Regisseurin die Spannung während dieser Recherchen auf, bis irgendwann die ersten Frauen erzählen, was in den Hotelzimmern mit Harvey Weinstein passiert ist.

Je dramatischer das Ereignis ist, je traumatischer und verstörender das Berichtete, desto nüchterner und zurückgenommener muss die (Film-)Sprache sein, denn der Inhalt spricht für sich. Wenn die Frauen von Treffen auf Weinsteins Hotelzimmer, von Massageangeboten, Belästigung bis hin zur Vergewaltigung erzählen, sind dazu Bilder der leeren Luxussuiten zu sehen. Der Horror entsteht allein im Kopf der Zuschauer, eine alte Filmtechnik aus Hitchcocks Kerngeschäft. (Auch Weinstein selbst wird man nie zu Gesicht bekommen.)

Wenn die Kamera in der Luxussuite dann eine gestreifte Bluse auf dem Boden einfängt, die neben einem Büstenhalter und weißen Turnschuhen liegt, wird klar, dass man diese Bluse schon einmal gesehen hat. Ganz am Anfang rannte eine verstörte junge Frau durchs morgendliche London. Über ihre Wangen liefen Tränen, die gestreifte Bluse hing ihr verknittert am Leib. "Es war damals, als hätte er mir meine Stimme weggenommen zu einer Zeit, als ich sie gerade zu finden begann", erzählt die Frau mehr als 20 Jahre später der Reporterin Kantor. Diese Anklage durchzieht den gesamten Film. Der Verlust der Stimme, den dieses System aus Belästigung, Einschüchterung und Abfindungszahlungen verursachte, hat nicht nur das Privatleben der jungen Frauen geschädigt (durch Trauma, Scham, Ängste), es hat auch dafür gesorgt, dass sie als Künstlerinnen verstummten.

Als wir die junge Frau in der gestreiften Bluse zum ersten Mal sehen, sprechen ihre Augen von einem Hunger nach Kunst, Liebe zum Film. Nach dem Treffen mit Weinstein ist dieses Leuchten erloschen. Es sind junge Frauen wie diese, die am Ende das Schweigen brechen und so dafür sorgen, dass einer der mächtigsten Männer des Hollywoodsystems zu mehr als zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde. MARIA WIESNER

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