Anne ist eine brillante Anwältin, die sich um minderjährige Missbrauchsopfer und Jugendliche in Schwierigkeiten kümmert. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Pierre und den beiden adoptierten Töchtern führt sie ein harmonisches Familienleben in einer Villa am Rand von Paris. Doch als Théo, Pierres 17-jähriger Sohn aus einer früheren Ehe, bei ihnen einzieht, gerät das Idyll schnell ins Wanken. Denn Anne und der rebellische Teenager fühlen sich zueinander hingezogen - obwohl sie wissen, dass es nicht sein darf. Schon nach kurzer Zeit entspinnt sich eine leidenschaftliche Affäre, die nicht nur ihre Familie, sondern auch ihre Karriere fundamental gefährdet.
Bonusmaterial
TrailerFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2024Das Gesetz des Begehrens
Es bleibt in der Familie: Catherine Breillat erzählt in ihrem Film
"Im letzten Sommer" von einer
gefährlichen Liebschaft.
Das Wort Familie wird heute sehr häufig mit einem Beiwort gebraucht: Zu Patchwork ist geworden, was früher einmal eine natürliche Konstellation zu sein schien. Vater, Mutter, Kinder, das setzt sich doch von selbst zusammen. Längst sind die Zusammensetzungen komplexer. Nehmen wir die Figuren in Catherine Breillats "L'été dernier" ("Im letzten Sommer"). "Wir sind eine Familie", sagt Anne (Léa Drucker) einmal. Ihr Mann Pierre hat aus einer früheren Beziehung einen siebzehn Jahre alten Sohn, Théo, bei dessen Erziehung er viel falsch gemacht hat. Später haben Pierre und Anne zwei Mädchen aus Asien adoptiert, um die sich nun fast alles dreht. Man lebt in einem großen Haus mit Garten, alles atmet Sicherheit und Wohlstand, nur Pierre strahlt ein Unbehagen aus, das mit vergangenen Versäumnissen zu tun hat. Théo verkörpert diese Versäumnisse. Anne, eine elegante Frau, die immer beherrscht wirkt, arbeitet als Familienanwältin. Sie weiß also auch beruflich, was passieren kann im Zeichen dieses scheinbar so selbstverständlichen und für jeden Menschen unumgänglichen Worts: Familie. Sie kennt sich aus mit Opfern des Familiären.
Anne und Théo sind im strengen Sinn nicht miteinander verwandt. Sie leben aber unter einem Dach, und irgendwann geschieht etwas zwischen ihnen, das alles verändert. Sie beginnen ein sexuelles Verhältnis. Eine Liaison, so der französische Begriff, der zwischen Beziehung und Affäre bezeichnend schillert. Catherine Breillat lässt bewusst offen, was zwischen Anne und Théo alles eine Rolle spielt. Begehren sicher, aber Pierre als der Dritte in diesem Verhältnis ist jederzeit implizit präsent. Théo sucht vielleicht auch eine Provokation, eine Möglichkeit, diese Familie, in die er schlecht integriert ist, zu sprengen. Und er hat es nun in der Hand, die Lust zerstörerisch eskalieren zu lassen. Zum Beispiel auf einer Party für seine kleinen Halbschwestern, umgeben von den fürsorglichen Müttern der Freundinnen, in einer Situation, in der alles im Zeichen von "Unschuld" steht.
Die 75-jährige Catherine Breillat ist im französischen Kino eine ausgewiesene Expertin für die Facetten der Sexualität. 2004 kam ihre Karriere nach einem Schlaganfall beinahe zum Stillstand, davor hatte sie unter anderem mit "Romance XXX" (1999) Aufsehen erregt, in dem sie den Pornostar Rocco Siffredi als Schauspieler besetzte, dessen erregtes Geschlecht auch bei ihr explizit zu sehen war. Breillat brach damit ein Tabu, sie riss Grenzen ein zwischen einem legitimen und einem instrumentellen Kino. Eine Gratwanderung zwischen den Genres, wie schon ihr Film "36 fillette" ("Lolita 90") über das sexuelle Erwachen einer 15-Jährigen.
Breillat öffnete das französische Kino für ein Begehren, von dem das Bürgertum nichts wissen wollte, auf das die Libertinage der Privilegierten eher herabschauen würde. Auch in ihrem neuen Film geht es nicht zuletzt um Klassenverhältnisse, die sich in ein Patchwork einschreiben. "L'été dernier" ist eine Neubearbeitung des dänischen Films "Queen of Hearts" ("Königin", 2019) von May el-Toukhu. Pascal Bonitzer hat beim Drehbuch geholfen. Die Vorlage wird meist so gelesen, dass die Stiefmutter sehr deutlich als Verführerin erscheint. Sie wäre demnach diejenige, die schuldig wird, die Macht ausübt, die den halbwüchsigen Stiefsohn zu ihrem Opfer macht.
Bei Breillat geht es stärker um die gesamte Konstellation. Der Film ist stark gespielt und subtil inszeniert. Jede Geste und schließlich auch jeder Liebesakt sind Ausdruck spontaner Lust und zugleich so etwas wie ein Symptom, eine Ausdrucksform für das, was zwischen Anne, Pierre und Théo untergründig vor sich geht. Olivier Rabourdin in der Rolle des Pierre kommt dabei eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu.
Ein viel beschäftigter Routinier, der hier, obwohl meist mit Krawatte, eine Leiblichkeit, ja Fleischlichkeit vermittelt, die ins Innerste von Breillats Interessen trifft. Pierre wirkt wie der Inbegriff eines Wohlstands, den Anne doch mit ihm teilt, in ihrem Fall allerdings so, dass sie erotische Ausstrahlung mit Selbstdisziplin verbindet. Und mit einem Air von Überlegenheit.
Bricht nicht Théo ebenso sehr diese Aura, wie Anne sich seinem schlanken Körper entgegenwirft? Sie erwähnt den körperlichen Unterschied zwischen Vater und Sohn ausdrücklich während eines Akts, aber auch das ist wieder nur ein Detail in einem nuancierten Szenario. Samuel Kircher, der Darsteller des Théo, hat etwas von dem Charisma, mit dem vor fünfzig Jahren der junge Gérard Depardieu im französischen Kino auftauchte, eine noch verhaltene Naturgewalt. Da entfaltet sich gerade eine spannende Karriere.
Catherine Breillat hebt schließlich nicht so sehr den moralischen Skandal hervor, sondern interessiert sich vor allem für einen Aspekt, der auch in den vielen MeToo-Angelegenheiten entscheidend ist: Wie geht man vor, wenn Aussage gegen Aussage steht? Was ist Wahrheit, wer hat die Macht, seine Version durchzusetzen? Anne ist auch die Frau, die durch ihren Beruf, durch ihre natürliche Autorität über das Wort verfügt. Théo weiß um ein Geheimnis, macht sich aber vielleicht Illusionen darüber, wie er es lüften kann.
Es wäre zu einfach, Catherine Breillat hier einfach ein Interesse an Provokation zu unterstellen. Eine Aufspaltung in Täter und Opfer, schon gar nicht in Analogie zu einer Verfügungsgewalt über das Wort und das Gesetz, gelingt hier nicht. Der Film gehorcht keinem Schema, sondern folgt Impulsen, deren Vorgeschichte oft im Impliziten liegt. Die Familie agiert als gemeinsamer Körper. All das spielt "L'été dernier" bis zu einem angemessen offenen Ende virtuos durch.
BERT REBHANDL
Seit Donnerstag im Kino.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es bleibt in der Familie: Catherine Breillat erzählt in ihrem Film
"Im letzten Sommer" von einer
gefährlichen Liebschaft.
Das Wort Familie wird heute sehr häufig mit einem Beiwort gebraucht: Zu Patchwork ist geworden, was früher einmal eine natürliche Konstellation zu sein schien. Vater, Mutter, Kinder, das setzt sich doch von selbst zusammen. Längst sind die Zusammensetzungen komplexer. Nehmen wir die Figuren in Catherine Breillats "L'été dernier" ("Im letzten Sommer"). "Wir sind eine Familie", sagt Anne (Léa Drucker) einmal. Ihr Mann Pierre hat aus einer früheren Beziehung einen siebzehn Jahre alten Sohn, Théo, bei dessen Erziehung er viel falsch gemacht hat. Später haben Pierre und Anne zwei Mädchen aus Asien adoptiert, um die sich nun fast alles dreht. Man lebt in einem großen Haus mit Garten, alles atmet Sicherheit und Wohlstand, nur Pierre strahlt ein Unbehagen aus, das mit vergangenen Versäumnissen zu tun hat. Théo verkörpert diese Versäumnisse. Anne, eine elegante Frau, die immer beherrscht wirkt, arbeitet als Familienanwältin. Sie weiß also auch beruflich, was passieren kann im Zeichen dieses scheinbar so selbstverständlichen und für jeden Menschen unumgänglichen Worts: Familie. Sie kennt sich aus mit Opfern des Familiären.
Anne und Théo sind im strengen Sinn nicht miteinander verwandt. Sie leben aber unter einem Dach, und irgendwann geschieht etwas zwischen ihnen, das alles verändert. Sie beginnen ein sexuelles Verhältnis. Eine Liaison, so der französische Begriff, der zwischen Beziehung und Affäre bezeichnend schillert. Catherine Breillat lässt bewusst offen, was zwischen Anne und Théo alles eine Rolle spielt. Begehren sicher, aber Pierre als der Dritte in diesem Verhältnis ist jederzeit implizit präsent. Théo sucht vielleicht auch eine Provokation, eine Möglichkeit, diese Familie, in die er schlecht integriert ist, zu sprengen. Und er hat es nun in der Hand, die Lust zerstörerisch eskalieren zu lassen. Zum Beispiel auf einer Party für seine kleinen Halbschwestern, umgeben von den fürsorglichen Müttern der Freundinnen, in einer Situation, in der alles im Zeichen von "Unschuld" steht.
Die 75-jährige Catherine Breillat ist im französischen Kino eine ausgewiesene Expertin für die Facetten der Sexualität. 2004 kam ihre Karriere nach einem Schlaganfall beinahe zum Stillstand, davor hatte sie unter anderem mit "Romance XXX" (1999) Aufsehen erregt, in dem sie den Pornostar Rocco Siffredi als Schauspieler besetzte, dessen erregtes Geschlecht auch bei ihr explizit zu sehen war. Breillat brach damit ein Tabu, sie riss Grenzen ein zwischen einem legitimen und einem instrumentellen Kino. Eine Gratwanderung zwischen den Genres, wie schon ihr Film "36 fillette" ("Lolita 90") über das sexuelle Erwachen einer 15-Jährigen.
Breillat öffnete das französische Kino für ein Begehren, von dem das Bürgertum nichts wissen wollte, auf das die Libertinage der Privilegierten eher herabschauen würde. Auch in ihrem neuen Film geht es nicht zuletzt um Klassenverhältnisse, die sich in ein Patchwork einschreiben. "L'été dernier" ist eine Neubearbeitung des dänischen Films "Queen of Hearts" ("Königin", 2019) von May el-Toukhu. Pascal Bonitzer hat beim Drehbuch geholfen. Die Vorlage wird meist so gelesen, dass die Stiefmutter sehr deutlich als Verführerin erscheint. Sie wäre demnach diejenige, die schuldig wird, die Macht ausübt, die den halbwüchsigen Stiefsohn zu ihrem Opfer macht.
Bei Breillat geht es stärker um die gesamte Konstellation. Der Film ist stark gespielt und subtil inszeniert. Jede Geste und schließlich auch jeder Liebesakt sind Ausdruck spontaner Lust und zugleich so etwas wie ein Symptom, eine Ausdrucksform für das, was zwischen Anne, Pierre und Théo untergründig vor sich geht. Olivier Rabourdin in der Rolle des Pierre kommt dabei eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu.
Ein viel beschäftigter Routinier, der hier, obwohl meist mit Krawatte, eine Leiblichkeit, ja Fleischlichkeit vermittelt, die ins Innerste von Breillats Interessen trifft. Pierre wirkt wie der Inbegriff eines Wohlstands, den Anne doch mit ihm teilt, in ihrem Fall allerdings so, dass sie erotische Ausstrahlung mit Selbstdisziplin verbindet. Und mit einem Air von Überlegenheit.
Bricht nicht Théo ebenso sehr diese Aura, wie Anne sich seinem schlanken Körper entgegenwirft? Sie erwähnt den körperlichen Unterschied zwischen Vater und Sohn ausdrücklich während eines Akts, aber auch das ist wieder nur ein Detail in einem nuancierten Szenario. Samuel Kircher, der Darsteller des Théo, hat etwas von dem Charisma, mit dem vor fünfzig Jahren der junge Gérard Depardieu im französischen Kino auftauchte, eine noch verhaltene Naturgewalt. Da entfaltet sich gerade eine spannende Karriere.
Catherine Breillat hebt schließlich nicht so sehr den moralischen Skandal hervor, sondern interessiert sich vor allem für einen Aspekt, der auch in den vielen MeToo-Angelegenheiten entscheidend ist: Wie geht man vor, wenn Aussage gegen Aussage steht? Was ist Wahrheit, wer hat die Macht, seine Version durchzusetzen? Anne ist auch die Frau, die durch ihren Beruf, durch ihre natürliche Autorität über das Wort verfügt. Théo weiß um ein Geheimnis, macht sich aber vielleicht Illusionen darüber, wie er es lüften kann.
Es wäre zu einfach, Catherine Breillat hier einfach ein Interesse an Provokation zu unterstellen. Eine Aufspaltung in Täter und Opfer, schon gar nicht in Analogie zu einer Verfügungsgewalt über das Wort und das Gesetz, gelingt hier nicht. Der Film gehorcht keinem Schema, sondern folgt Impulsen, deren Vorgeschichte oft im Impliziten liegt. Die Familie agiert als gemeinsamer Körper. All das spielt "L'été dernier" bis zu einem angemessen offenen Ende virtuos durch.
BERT REBHANDL
Seit Donnerstag im Kino.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main