Als der Dokumentarfilm "Kreuzweg der Freiheit" zur Zeit des "Kalten Krieges" in deutschen Kinos vorgeführt wurde, rief er einen Sturm der Begeisterung und Entrüstung hervor. Die These, Stalins Ziel sei von Anfang an die Eroberung Deutschlands und Westeuropas gewesen, traf offenbar einen wunden Punkt, der viele Jahre lang als "revanchistisch" verteufelt wurde. Neuste Forschungsergebnisse namhafter Historiker belegen, dass dieser Film, der schon kurz nach Kriegsende mit eindrucksvollem Filmmaterial die wahren Absichten Stalins und die Gründe für den Verlust der ostdeutschen Gebiete offenlegte, der historischen Wahrheit entspricht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2014Leiden einer Schülerin: "Kreuzweg", ein Film aus Deutschland
Konzeptfilme können den größten Meistern unterlaufen. Hitchcock drehte "Cocktail für eine Leiche" in nur zehn Einstellungen, deren Enden er zudem durch unsichtbare Schnitte verbarg. Andy Warhols "Empire", eine acht Stunden lange Aufnahme der obersten Stockwerke und der Spitze des Empire State Building, war in den sechziger Jahren ein gefürchteter Partykiller. Krzysztóf Kieslowski, der Meister des europäischen Konzeptkinos, drehte zehn Filme über die Zehn Gebote ("Dekalog") und einen einzigen mit drei alternativen Enden ("Der Zufall möglicherweise"). Es gibt Filme, die, wie Christopher Nolans "Memento", eine Thrillergeschichte im Krebsgang erzählen, und andere, die ihre Opfer von eins bis hundert durchnumerieren, wie Peter Greenaways "Verschwörung der Frauen". Alles ist möglich, es muss nur funktionieren, so könnte man die Moral dieser Art von Kino zusammenfassen: Die Form ist der Motor, der Inhalt nur der Stoff, der ihn antreibt.
Dietrich Brüggemanns "Kreuzweg" ist ein vergleichsweise simpler Konzeptfilm. Es geht um ein Mädchen, Maria - hingebungsvoll gespielt von der vierzehnjährigen Lea van Acken -, das beschließt, sein Leben für seinen unter krankhafter Stummheit leidenden kleinen Bruder zu opfern. Marias Familie gehört zu einer Gemeinde katholischer Fundamentalisten, die im Film Paulusbrüder heißen, hinter denen man aber leicht die real existierenden Piusbrüder erkennen kann; ihr Martyrium ist gleichsam nur die extreme Form dessen, was der beredsame Pater Weber (Florian Stetter) vor seinen Täuflingen als "Schlacht gegen den Satan" bezeichnet.
Diese Geschichte hat Brüggemann in ein Raster aus vierzehn Szenen gegossen, deren Titel - "Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern", "Veronika reicht Jesus das Schweißtuch" - den vierzehn Stationen des Kreuzwegs Christi entsprechen. (Es gibt auch Kreuzwege mit nur sieben Stationen, aber diese Zahl passte dem Regisseur anscheinend nicht ins Konzept.) Manchmal entsteht zwischen den Beschriftungen der Szenen und ihrem Inhalt eine besondere Spannung, etwa, wenn Maria mit Schläuchen in den Venen im Krankenhaus liegt, nachdem ein Insert angekündigt hat: "Jesus wird ans Kreuz genagelt." Und manchmal entsteht auch gar nichts. Dann sieht man, wie Maria ihrem Mitschüler Christian begegnet, einem Jungen, der fast so gläubig ist wie sie, und wie Christian versucht, sie von ihrem Weg in die Selbstzerstörung abzubringen. Die Überschrift der Szene freilich lautet: "Jesus begegnet den weinenden Frauen." Man sieht aber keine Frauen, die weinen, sondern nur den angestrengten Willen, eine formale Vorgabe einzuhalten, koste es, was es wolle.
Der Witz an dem Film ist, dass man das, was hier passiert, auch ohne jede weitere Formatierung verstanden hätte, ohne Kreuzwegstationen, ohne Inserts, ohne Erklärungen. Da wäre Maria dann die kleinere Schwester der Studentin Michaela gewesen, die in Hans-Christian Schmids "Requiem" von 2006 in einem ganz ähnlichen Milieu, aber unter gänzlich anderen Umständen zu Tode kam. Doch Brüggemann, der bei seinem Regiedebüt "Neun Szenen" im selben Jahr mit der Mischung aus formaler Starre und erzählerischer Verspieltheit gut gefahren ist, hat lieber auf den Zwang der Form als auf die Logik des Geschehens vertraut, er hat einen Parcours gebaut, auf dem seine Heldin nur noch blindlings in ihr Schicksal rennen kann. Deshalb gibt es in "Kreuzweg", je länger der Film dauert, immer weniger zu sehen, weniger Gegenwart, weniger Emotion, weniger Leben. Erst ganz am Ende, als die Eltern bei einem Bestattungsunternehmer (Hanns Zischler) sitzen und plötzlich vom Gefühl ihres Verlusts übermannt werden, öffnet sich wieder eine Tür, aber nicht in die Tragödie, die der Film bis dahin war, sondern in eine überdrehte Farce, eine grelle Groteske.
Auf der Berlinale, wo Dietrich Brüggemann und seine Schwester Anna für ihr Drehbuch einen Silbernen Bären gewannen, wurde "Kreuzweg" als Beispiel für ein unangepasstes, mutiges und formbewusstes deutsches Kinoerzählen gepriesen. Da war der Wunsch der Vater des Gedankens. Denn dieser Film ist genauso brav wie seine Brüder im Fernsehen. Nur eben mit anderen Mitteln.
ANDREAS KILB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Konzeptfilme können den größten Meistern unterlaufen. Hitchcock drehte "Cocktail für eine Leiche" in nur zehn Einstellungen, deren Enden er zudem durch unsichtbare Schnitte verbarg. Andy Warhols "Empire", eine acht Stunden lange Aufnahme der obersten Stockwerke und der Spitze des Empire State Building, war in den sechziger Jahren ein gefürchteter Partykiller. Krzysztóf Kieslowski, der Meister des europäischen Konzeptkinos, drehte zehn Filme über die Zehn Gebote ("Dekalog") und einen einzigen mit drei alternativen Enden ("Der Zufall möglicherweise"). Es gibt Filme, die, wie Christopher Nolans "Memento", eine Thrillergeschichte im Krebsgang erzählen, und andere, die ihre Opfer von eins bis hundert durchnumerieren, wie Peter Greenaways "Verschwörung der Frauen". Alles ist möglich, es muss nur funktionieren, so könnte man die Moral dieser Art von Kino zusammenfassen: Die Form ist der Motor, der Inhalt nur der Stoff, der ihn antreibt.
Dietrich Brüggemanns "Kreuzweg" ist ein vergleichsweise simpler Konzeptfilm. Es geht um ein Mädchen, Maria - hingebungsvoll gespielt von der vierzehnjährigen Lea van Acken -, das beschließt, sein Leben für seinen unter krankhafter Stummheit leidenden kleinen Bruder zu opfern. Marias Familie gehört zu einer Gemeinde katholischer Fundamentalisten, die im Film Paulusbrüder heißen, hinter denen man aber leicht die real existierenden Piusbrüder erkennen kann; ihr Martyrium ist gleichsam nur die extreme Form dessen, was der beredsame Pater Weber (Florian Stetter) vor seinen Täuflingen als "Schlacht gegen den Satan" bezeichnet.
Diese Geschichte hat Brüggemann in ein Raster aus vierzehn Szenen gegossen, deren Titel - "Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern", "Veronika reicht Jesus das Schweißtuch" - den vierzehn Stationen des Kreuzwegs Christi entsprechen. (Es gibt auch Kreuzwege mit nur sieben Stationen, aber diese Zahl passte dem Regisseur anscheinend nicht ins Konzept.) Manchmal entsteht zwischen den Beschriftungen der Szenen und ihrem Inhalt eine besondere Spannung, etwa, wenn Maria mit Schläuchen in den Venen im Krankenhaus liegt, nachdem ein Insert angekündigt hat: "Jesus wird ans Kreuz genagelt." Und manchmal entsteht auch gar nichts. Dann sieht man, wie Maria ihrem Mitschüler Christian begegnet, einem Jungen, der fast so gläubig ist wie sie, und wie Christian versucht, sie von ihrem Weg in die Selbstzerstörung abzubringen. Die Überschrift der Szene freilich lautet: "Jesus begegnet den weinenden Frauen." Man sieht aber keine Frauen, die weinen, sondern nur den angestrengten Willen, eine formale Vorgabe einzuhalten, koste es, was es wolle.
Der Witz an dem Film ist, dass man das, was hier passiert, auch ohne jede weitere Formatierung verstanden hätte, ohne Kreuzwegstationen, ohne Inserts, ohne Erklärungen. Da wäre Maria dann die kleinere Schwester der Studentin Michaela gewesen, die in Hans-Christian Schmids "Requiem" von 2006 in einem ganz ähnlichen Milieu, aber unter gänzlich anderen Umständen zu Tode kam. Doch Brüggemann, der bei seinem Regiedebüt "Neun Szenen" im selben Jahr mit der Mischung aus formaler Starre und erzählerischer Verspieltheit gut gefahren ist, hat lieber auf den Zwang der Form als auf die Logik des Geschehens vertraut, er hat einen Parcours gebaut, auf dem seine Heldin nur noch blindlings in ihr Schicksal rennen kann. Deshalb gibt es in "Kreuzweg", je länger der Film dauert, immer weniger zu sehen, weniger Gegenwart, weniger Emotion, weniger Leben. Erst ganz am Ende, als die Eltern bei einem Bestattungsunternehmer (Hanns Zischler) sitzen und plötzlich vom Gefühl ihres Verlusts übermannt werden, öffnet sich wieder eine Tür, aber nicht in die Tragödie, die der Film bis dahin war, sondern in eine überdrehte Farce, eine grelle Groteske.
Auf der Berlinale, wo Dietrich Brüggemann und seine Schwester Anna für ihr Drehbuch einen Silbernen Bären gewannen, wurde "Kreuzweg" als Beispiel für ein unangepasstes, mutiges und formbewusstes deutsches Kinoerzählen gepriesen. Da war der Wunsch der Vater des Gedankens. Denn dieser Film ist genauso brav wie seine Brüder im Fernsehen. Nur eben mit anderen Mitteln.
ANDREAS KILB
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