Wien mitten im Winter. Eine entnervte Mutter schickt ihre kleine Tochter zurück zum Spielplatz, um die vergessene Jacke zu holen. Hinter dem Vorhang aus Schnee ein Pfeifen. Das Mädchen folgt dem Köder und verschwindet ohne die geringste Spur. Ein Kindermörder treibt sein Unwesen. Die Polizei ist ratlos und rast im Leerlauf. Der Innenminister beginnt die Serienmorde politisch für seine Zwecke zu nutzen. Die Boulevardpresse heizt die Stimmung an. Und in der Bevölkerung beginnt es zu rumoren. Mit steigender Nervosität wird jeder zum Verdächtigen erklärt. Mehr und mehr Kinder verschwinden. Als die Leichen im Schnee auftauen, verschwimmen die Grenzen völlig. Emotional steht nur noch das Finden des Mörders im Vordergrund. Alles muss sich diesem Thema unterordnen, der Fall M ist zum öffentlichen Fall geworden. Überwachungsstaat, Fake News, Hetze im Netz. Leute werden willkürlich festgenommen. Die Unterwelt wird vorgeführt. Was sich diese nicht gefallen lässt. Sie übernimmt die Aufgabe der Polizei und geht auf die Suche nach dem Mörder.
Bonusmaterial
Audiodeskription für Blinde und Sehbehinderte, Making OfFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2023Düstere Zeitreise
1951 drehte Joseph Losey ein Remake von Fritz Langs Gangsterklassiker "M" und siedelte es in Los Angeles an.
Zum ersten Mal gesehen habe ich Joseph Loseys "M" vor vier Jahren, in Los Angeles. Da kannte ich den anderen "M", den ersten, den von Fritz Lang, schon seit Jahrzehnten. Wie auch nicht, bei einem der großen Klassiker der Kinogeschichte? Als Losey 1950 sein Remake drehte, lebte Lang längst selbst in Amerika, und tatsächlich wurde als Erstem ihm die Idee einer in den Vereinigten Staaten spielenden neuen Version der Kindsmördergeschichte angetragen. Der Vorschlag kam von Seymour Nebenzahl, der 1931 in Berlin schon den Original-"M" produziert hatte, aber Lang dachte gar nicht daran, noch einmal in denselben Fluss zu steigen. Nebenzahl wiederum dachte gar nicht rein kommerziell, sondern wollte ein dem Vorbild ästhetisch gewachsenes Remake und engagierte deshalb nach Langs Absage einen amerikanischen Eisenstein-Schüler und Bewunderer von Brecht und Piscator als Regisseur: eben Joseph Losey. Eisenstein, Brecht, Piscator - natürlich wurde Losey noch im Jahr des Erscheinens seines "M", 1951, im Zuge der McCarthy-Säuberungspolitik in Hollywood als Kommunist denunziert. Danach arbeitete er in Europa, seine letzten amerikanischen Filme gingen unter. Auch "M".
Als ich ihn sah, gab es keine regulär erhältliche Ausgabe, "M", dieses Paradestück des Film noir, lief als Video im "Pink Palace", dem Gästehaus des Getty Research Institute am Sunset Boulevard. Für die Fellows und befreundete Gäste wie mich kuratierte der Filmhistoriker Edward Dimendberg regelmäßig Vorführungen, die jeweils Bezug zu Los Angeles besaßen. Wie Loseys "M", dessen Außenaufnahmen on location gedreht wurden: quer durch den ganzen Stadtraum, von der Pazifikküste bis in die Wohngebiete am östlichen Rand. Gleich die erste Einstellung zeigt zwei elegante Frauen, die an einem Zeitungsstapel mit der Schlagzeile "Child Killer Sought" vorbei in eine Tür treten. Dann kommt noch ein Mann durch diese Tür, und plötzlich fährt die Kamera vom Stapel weg und steil bergan: Wir sitzen im berühmten Angels Flight, einer nur knapp hundert Meter langen Standseilbahn mitten in Downtown Los Angeles, die seit 1901 auf den Bunker Hill führt. 1969 wurde die Anlage demontiert, aber 1996 an benachbarter Stelle wiederaufgebaut. Seitdem ist sie bloße Touristenattraktion, 1950 aber war sie noch ein vitales Stück öffentlichen Personennahverkehrs.
Loseys "M" ist wegen solcher Aufnahmen eine Zeitreise in ein Los Angeles, das gegen den heutigen Moloch geradezu kleinstädtisch wirkt, obwohl es damals schon die heutigen Ausmaße besaß. Aber in Downtown gab es noch keine Wolkenkratzer, eines der höchsten dortigen Gebäude war das 1893 errichtete fünfstöckige Bradbury Building mit seinem spektakulärem Lichthof. Losey nutzte es als Schauplatz der Gefangennahme des Kindsmörders durch die ihn jagende Unterwelt von Los Angeles, die ihn zur Strecke bringen will, um sich der ständigen Polizeikontrollen wegen der Mordserie zu entledigen. Das nächtliche Bradbury Building ist eine berückende Szenerie für Licht- und Schattenspiele und lange Kamerafahrten. Dreißig Jahre später sollte Ridley Scott es als Kulisse für seinen Zukunftsthriller "Blade Runner" nutzen. Gebaute Filmgeschichte, die für alle Zeiten taugt.
Am Folgetag ging ich auf die Suche nach einer Kopie des Films. Das größte Videogeschäft der Stadt, Amoeba auf dem Hollywood Boulevard, bot eine DVD-Raubkopie an, deren Hersteller sich offenbar nicht einmal die Mühe gemacht hatten, den Film anzusehen: Die Inhaltsangabe auf der Hülle gibt die Geschichte von Fritz Langs "M" wieder, angeblich spielt die Handlung "in a German city". Die Bildqualität war dementsprechend.
Aber noch im selben Jahr wurde eine perfekte Kopie von Loseys "M" bei Youtube eingestellt (https://www.youtube.com/watch?v=CdiOKfDKqP8), und seitdem gab es mehr als 100.000 Zugriffe auf den Film. Ein halbes Dutzend gingen auf meine Rechnung, denn an manchen Szenen kann ich mich nicht sattsehen. An denen im Bradbury Building und am Angels Flight. Und am Finale in einem Parkhaus, wo der Mörder im Angesicht eines Lynchmobs von einem versoffenen Anwalt verteidigt wird, der sich zu Shakespeare'scher Komik und Tragik aufschwingt. Luther Adler spielt diesen Anwalt, und er macht vergessen, dass David Wayne in der Rolle des Mörders nicht im Entferntesten mit Peter Lorre aus Fritz Langs Original mithalten kann. 1951 spielte der heute vergessene Adler dann im Kriegsfilm "Rommel, der Wüstenfuchs" selbst einen Mörder: Adolf Hitler.
"M" von Losey ist auch ein sozialkritischer Film. So ist von der Mitschuld der Gesellschaft daran die Rede, dass der Kindsmörder vor seinen Taten aus der Psychiatrie entlassen worden war, weil nicht genug Geld für sie bewilligt wurde. Wieder dreißig Jahre später strich Ronald Reagan alle staatlichen Mittel für die Psychiatrie und ließ deren Insassen auf die Straße setzen. Eine Mordserie gab es deswegen nicht, aber die heutige Massenobdachlosigkeit in Kalifornien resultiert aus der Hilflosigkeit dieser Menschen. Sie campieren auf den Straßen von Downtown L.A. - dort, wo Loseys hellsichtiger dunkler Film spielt. ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
1951 drehte Joseph Losey ein Remake von Fritz Langs Gangsterklassiker "M" und siedelte es in Los Angeles an.
Zum ersten Mal gesehen habe ich Joseph Loseys "M" vor vier Jahren, in Los Angeles. Da kannte ich den anderen "M", den ersten, den von Fritz Lang, schon seit Jahrzehnten. Wie auch nicht, bei einem der großen Klassiker der Kinogeschichte? Als Losey 1950 sein Remake drehte, lebte Lang längst selbst in Amerika, und tatsächlich wurde als Erstem ihm die Idee einer in den Vereinigten Staaten spielenden neuen Version der Kindsmördergeschichte angetragen. Der Vorschlag kam von Seymour Nebenzahl, der 1931 in Berlin schon den Original-"M" produziert hatte, aber Lang dachte gar nicht daran, noch einmal in denselben Fluss zu steigen. Nebenzahl wiederum dachte gar nicht rein kommerziell, sondern wollte ein dem Vorbild ästhetisch gewachsenes Remake und engagierte deshalb nach Langs Absage einen amerikanischen Eisenstein-Schüler und Bewunderer von Brecht und Piscator als Regisseur: eben Joseph Losey. Eisenstein, Brecht, Piscator - natürlich wurde Losey noch im Jahr des Erscheinens seines "M", 1951, im Zuge der McCarthy-Säuberungspolitik in Hollywood als Kommunist denunziert. Danach arbeitete er in Europa, seine letzten amerikanischen Filme gingen unter. Auch "M".
Als ich ihn sah, gab es keine regulär erhältliche Ausgabe, "M", dieses Paradestück des Film noir, lief als Video im "Pink Palace", dem Gästehaus des Getty Research Institute am Sunset Boulevard. Für die Fellows und befreundete Gäste wie mich kuratierte der Filmhistoriker Edward Dimendberg regelmäßig Vorführungen, die jeweils Bezug zu Los Angeles besaßen. Wie Loseys "M", dessen Außenaufnahmen on location gedreht wurden: quer durch den ganzen Stadtraum, von der Pazifikküste bis in die Wohngebiete am östlichen Rand. Gleich die erste Einstellung zeigt zwei elegante Frauen, die an einem Zeitungsstapel mit der Schlagzeile "Child Killer Sought" vorbei in eine Tür treten. Dann kommt noch ein Mann durch diese Tür, und plötzlich fährt die Kamera vom Stapel weg und steil bergan: Wir sitzen im berühmten Angels Flight, einer nur knapp hundert Meter langen Standseilbahn mitten in Downtown Los Angeles, die seit 1901 auf den Bunker Hill führt. 1969 wurde die Anlage demontiert, aber 1996 an benachbarter Stelle wiederaufgebaut. Seitdem ist sie bloße Touristenattraktion, 1950 aber war sie noch ein vitales Stück öffentlichen Personennahverkehrs.
Loseys "M" ist wegen solcher Aufnahmen eine Zeitreise in ein Los Angeles, das gegen den heutigen Moloch geradezu kleinstädtisch wirkt, obwohl es damals schon die heutigen Ausmaße besaß. Aber in Downtown gab es noch keine Wolkenkratzer, eines der höchsten dortigen Gebäude war das 1893 errichtete fünfstöckige Bradbury Building mit seinem spektakulärem Lichthof. Losey nutzte es als Schauplatz der Gefangennahme des Kindsmörders durch die ihn jagende Unterwelt von Los Angeles, die ihn zur Strecke bringen will, um sich der ständigen Polizeikontrollen wegen der Mordserie zu entledigen. Das nächtliche Bradbury Building ist eine berückende Szenerie für Licht- und Schattenspiele und lange Kamerafahrten. Dreißig Jahre später sollte Ridley Scott es als Kulisse für seinen Zukunftsthriller "Blade Runner" nutzen. Gebaute Filmgeschichte, die für alle Zeiten taugt.
Am Folgetag ging ich auf die Suche nach einer Kopie des Films. Das größte Videogeschäft der Stadt, Amoeba auf dem Hollywood Boulevard, bot eine DVD-Raubkopie an, deren Hersteller sich offenbar nicht einmal die Mühe gemacht hatten, den Film anzusehen: Die Inhaltsangabe auf der Hülle gibt die Geschichte von Fritz Langs "M" wieder, angeblich spielt die Handlung "in a German city". Die Bildqualität war dementsprechend.
Aber noch im selben Jahr wurde eine perfekte Kopie von Loseys "M" bei Youtube eingestellt (https://www.youtube.com/watch?v=CdiOKfDKqP8), und seitdem gab es mehr als 100.000 Zugriffe auf den Film. Ein halbes Dutzend gingen auf meine Rechnung, denn an manchen Szenen kann ich mich nicht sattsehen. An denen im Bradbury Building und am Angels Flight. Und am Finale in einem Parkhaus, wo der Mörder im Angesicht eines Lynchmobs von einem versoffenen Anwalt verteidigt wird, der sich zu Shakespeare'scher Komik und Tragik aufschwingt. Luther Adler spielt diesen Anwalt, und er macht vergessen, dass David Wayne in der Rolle des Mörders nicht im Entferntesten mit Peter Lorre aus Fritz Langs Original mithalten kann. 1951 spielte der heute vergessene Adler dann im Kriegsfilm "Rommel, der Wüstenfuchs" selbst einen Mörder: Adolf Hitler.
"M" von Losey ist auch ein sozialkritischer Film. So ist von der Mitschuld der Gesellschaft daran die Rede, dass der Kindsmörder vor seinen Taten aus der Psychiatrie entlassen worden war, weil nicht genug Geld für sie bewilligt wurde. Wieder dreißig Jahre später strich Ronald Reagan alle staatlichen Mittel für die Psychiatrie und ließ deren Insassen auf die Straße setzen. Eine Mordserie gab es deswegen nicht, aber die heutige Massenobdachlosigkeit in Kalifornien resultiert aus der Hilflosigkeit dieser Menschen. Sie campieren auf den Straßen von Downtown L.A. - dort, wo Loseys hellsichtiger dunkler Film spielt. ANDREAS PLATTHAUS
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