Deutschlands letzter Kaiser, Wilhelm II. (1859 - 1941), war der meist fotografierte und meist gefilmte Mensch einer Zeit, als gerade die bewegten Bilder entdeckt wurden. Mit aufwändiger Digitaltechnik optimiert Peter Schamoni umfangreiches Filmmaterial und zeigt die verführerische Kraft einer umstrittenen Herrscherfigur, die für ihre spektakulären Medieninszenierungen stets Sonne - eben das sprichwörtliche Kaiserwetter - brauchte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1999Die besten Jahre sind lange vorbei
Lauter Legenden und Moritaten: Momentaufnahmen vom Dokumentarfilmfestival in Leipzig
"Es waren die besten Jahre", sagt Herr Szymanski und schickt den Schmalfilmaufnahmen von einem Seeurlaub mit seiner schon verstorbenen Frau ein versonnenes Lächeln nach. Bald werden auch er und sein Freund Wieslaw, beide Wohnungsnachbarn des polnischen Regisseurs Pawel Lozinski, die Bürde ihres Rentendaseins, das dieser Film über einige Jahre hinweg mit bewundernswürdiger Einfühlung bewahrt hat, auf einem Warschauer Friedhof hinter sich gebracht haben. Lozinski wusste noch nicht, worauf er sich einließ, als er manche Treffen des einstigen Friseurs und des früheren Hausmeisters, Spaziergänge und skurrile Situationen einfing und, wo es sich anbot, nach den Lebensumständen der beiden sehr unterschiedlichen Männer fragte. Das Leben selbst, wie man sagt, aber vor allem das Gespür für ebenso absonderliche wie wesentliche Situationen erschufen hier "So eine Geschichte", wie der Titel von Lozinskis in Leipzig verdientermaßen mit einer Goldenen Taube ausgezeichnetem Film lautet, ein Melodrama, dessen privater Ton für den besten Teil des Wettbewerbs charakteristisch war.
Begonnen hatte das Dokumentarfilmfestival, zu dem auch ein fast ebenso umfangreiches Animationsfilmprogramm gehört, dieses Mal an einem besonderen Ort mit einem besonderen Werk. Stolz darauf, in den letzten zehn Jahren einen neuen, besseren Ruf erlangt zu haben, war man zur Eröffnung ins Gewandhaus gezogen, wo freilich nur der bescheidene Mendelssohn-Saal mit seinen holzgetäfelten Wänden und einer Polystroldecke, typischen Insignien der DDR-Architektur der siebziger Jahre, zur Verfügung stand. Statt eines Films über einen neuen Akt heldenhaften Widerstands gegen den Imperialismus, wie er vor der Wende oft auf den Propagandaton einstimmte, stand nun ein "Imperialist" selbst im Mittelpunkt, wenn auch ein gescheiterter. Peter Schamoni, ein Mitverfasser des legendären "Oberhausener Manifestes" von 1962 ("Papas Kino ist tot"), später ein sensibler Regisseur von Künstlerfilmen, hat es unternommen, Kisten voller Bildmaterial über den letzten deutschen Kaiser zu sichten. Allein schon das Singuläre dieser Aufnahmen, darunter ein bisher unbekannter früher Farbfilmversuch, aus den Glanztagen des höchst reisefreudigen Monarchen und seinem unter anderem mit Holzhacken angefüllten Exil, rechtfertigten das - auf das Buch des Historikers Nikolaus Sombart gestützte - Unternehmen.
Das durch kurz inszenierte Szenen bereicherte Charakterbild eines hypermotorischen Herrschers mit ausgeprägtem Selbstdarstellungsinteresse konnte auf einem Filmfestival, das sich früher dezidiert als ein politisches verstand, nicht ohne vereinzelte Buhrufe hingenommen werden. Doch Schamoni wollte keine Demontage dieser Persönlichkeit, die der Zeit schließlich im Wege stand, betreiben und schon gar keine Analyse des verhängnisvollen Kriegsausbruchs von 1914 liefern. Der Kaiser selbst behauptet im Nachhinein, von den Ereignissen überrascht worden zu sein, als er im Sommer 1914 wie gewohnt auf seiner Hochseejacht "Hohenzollern" vor Norwegens Küste die Sonne suchte: "Majestät brauchen Sonne" heißt denn auch der außerhalb des Wettbewerbs aufgeführte zweiteilige Film.
Erst Monate zuvor hatten sich die miteinander verschwisterten europäischen Herrscher wieder einmal familiär getroffen. Wilhelms II. naive Beteuerungen überzeugen nicht unbedingt, der Regisseur lässt sie passieren, weil er - und darin stimmte er in den privaten Kammerton des Festivals ein - das Labile und Fragile, das bedenklich Nervöse und fragwürdig Eitle eines von seiner Stellung überforderten Mannes darstellen wollte. Wie schnell hinter den Shakehands der Politiker das Gespenst eines Krieges auftauchen kann, wurde zum beiläufigen, nicht unwichtigen Erlebnis.
Alte, vergilbte, beschädigte Filmaufnahmen stehen bei Dokumentaristen derzeit hoch im Kurs. Nicht allein Herr Szymanski blickt gebannt auf vermeintlich oder tatsächlich bessere Tage zurück, auch professionelle Regisseure begeben sich gern auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Der Russe Vitalij Manskij setzte aus Privataufnahmen der Chruschtschow- und Breschnew-Ära ein Gruppenbild des letzten homo sovieticus zusammen, der nun, wie der Regisseur selbst, vor den Trümmern des Imperiums und seiner Versprechungen steht. "Private Chroniken. Monolog" - schon im Titel steckt der doppelte Zugriff auf eine Zeit, von der nur noch ihre Auflösungserscheinungen, das Versinken in persönlichen Freuden und Leiden, als berichtenswert erscheinen. Einundeinhalb Stunden lang treibt immer wieder der Ulk seine Blüten, und dazu erzählt der Autor mit unterkühltem Witz von sich selbst - ein auf Dauer ermüdendes Verfahren.
In Manskijs Grundton steckt auch eine Spur von Zynismus, der den Zuschauer zum Komplizen machen will. Von solcher Betroffenheitsstimmung wollte der junge slowakische Regisseur Peter Kerekes bei der Aufbereitung ethnografischer Fundstücke vom Lande nichts wissen. In den "Moritaten und Legenden aus Ladomirov" erzählen Leute einer armen ostslowakischen Region, wie sie zwei Weltkriege und die sozialistischen Jahrzehnte dazu überstanden. Sei es, weil Kerekes ein fröhlicher Mensch ist, oder, weil in jedem von ihnen ein Schalk sitzt, können sie heute selbst über das Vergangene lachen. In den Herbsttagen von 1944, als die Schlacht am Dukla-Pass tobte, konnte man binnen einer Stunde von einer deutschen Patrouille, von Partisanen, ungarischen oder russischen Soldaten mit Erschießen bedroht werden. Wer das erlebt hatte, ertrug auch die nachfolgende Unbill. Doch wohl nicht nur wegen dieser fast absurden gedrängten Monologe, sondern auch wegen eines hoffnungsvollen Gesamtblicks auf Mensch und Landschaft wurde Kerekes' einstündiger Film, eine Diplomarbeit der Bratislavaer Kunstakademie, mit einer Silbernen Taube und zwei weiteren Preisen der Hauptsieger des Festivals.
Der diesjährige Wettbewerb gewann stets dann Bedeutung, wenn darin "Familiengespräche", wie ein Beitrag hieß, geführt wurden. Manche Dokumentarfilmregisseure entwickeln heute eine außerordentliche Fähigkeit, sich an das Private anzuschmiegen oder es zu einem Drama zu formen. Die Doku-Soaps stehen da als populäre Aufbereitung der Zeit im Hintergrund, aber so banal, wie es dort meist geschieht, braucht das Leben nicht dargestellt zu werden. Detlef Gumms und Hans-Georg Ullrichs von der ARD ins Programm nach Mitternacht abgeschobene sechsteilige Serie "Berlin - Ecke Bundesplatz", aus fünfzehn Jahren Langzeitbeobachtung von Bewohnern eines Mittelstandskiezes gewonnen, sollte auf dem Festival zum Klassiker avancieren, bringt er doch das Kommen und Gehen von Menschen, von Hoffnungen und Kümmernis, fast zehn Stunden lang zur Anschauung, ein - hier außer Konkurrenz wiederholtes - Medienereignis erster Güte, dessen Warmherzigkeit nie der Sentimentalität zum Opfer fällt, das dem Einzelnen Respekt erweist und die Eitelkeit des Seins mit Milde zu ertragen lehrt. Für nicht wenige Festivalgäste bedeutete diese schon durch den Titel und die leitmotivische Musik den Vergleich mit einem großen Werk Fassbinders heraufbeschwörende Arbeit den eigentlichen Höhepunkt des Festivals und eine verdiente Entschädigung für manche schwache Stunde im Wettbewerb.
Wegen seiner Tradition fällt es Leipzig noch immer schwer, bei der Auswahl allein künstlerischen Maßstäben zu vertrauen. Wie dem Pawlowschen Hund der Speichel tropft, wenn das Glöckchen ertönt, so schnappt das Festival rasch zu, wenn ein Film, und sei es das schlichteste, für die große Leinwand ganz und gar untaugliche Video, eine angeblich unterdrückte Wahrheit ans Licht zu befördern verspricht. "Sehen, was wirklich los ist", lautet das vordergründige Losungswort, und prompt werden dann Themen wie Holocaust, Stalinismus, soziale Not abgearbeitet, als würden Absichten bereits filmische Erlebnisse ermöglichen und als könne die bloße Benennung von Zuständen irgendetwas bewirken. So hält man den Zuschauer für schlecht informiert und detaillierter Aufklärung bedürftig, obwohl er doch vielleicht eher, täglicher Informationsüberflutung ausgeliefert, der Besinnung bedarf. Flüchtig erstellte Videos, mit denen sich der Dokumentarfilm an zufällige Absichten verliert, und eine sich in alle möglichen Richtungen verlaufende, mal dieses, mal jenes streifende, doch selten etwas Umfassendes anbietende Programmgestaltung sind die Gefahren dieses Festivals.
HANS-JÖRG ROTHER
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Lauter Legenden und Moritaten: Momentaufnahmen vom Dokumentarfilmfestival in Leipzig
"Es waren die besten Jahre", sagt Herr Szymanski und schickt den Schmalfilmaufnahmen von einem Seeurlaub mit seiner schon verstorbenen Frau ein versonnenes Lächeln nach. Bald werden auch er und sein Freund Wieslaw, beide Wohnungsnachbarn des polnischen Regisseurs Pawel Lozinski, die Bürde ihres Rentendaseins, das dieser Film über einige Jahre hinweg mit bewundernswürdiger Einfühlung bewahrt hat, auf einem Warschauer Friedhof hinter sich gebracht haben. Lozinski wusste noch nicht, worauf er sich einließ, als er manche Treffen des einstigen Friseurs und des früheren Hausmeisters, Spaziergänge und skurrile Situationen einfing und, wo es sich anbot, nach den Lebensumständen der beiden sehr unterschiedlichen Männer fragte. Das Leben selbst, wie man sagt, aber vor allem das Gespür für ebenso absonderliche wie wesentliche Situationen erschufen hier "So eine Geschichte", wie der Titel von Lozinskis in Leipzig verdientermaßen mit einer Goldenen Taube ausgezeichnetem Film lautet, ein Melodrama, dessen privater Ton für den besten Teil des Wettbewerbs charakteristisch war.
Begonnen hatte das Dokumentarfilmfestival, zu dem auch ein fast ebenso umfangreiches Animationsfilmprogramm gehört, dieses Mal an einem besonderen Ort mit einem besonderen Werk. Stolz darauf, in den letzten zehn Jahren einen neuen, besseren Ruf erlangt zu haben, war man zur Eröffnung ins Gewandhaus gezogen, wo freilich nur der bescheidene Mendelssohn-Saal mit seinen holzgetäfelten Wänden und einer Polystroldecke, typischen Insignien der DDR-Architektur der siebziger Jahre, zur Verfügung stand. Statt eines Films über einen neuen Akt heldenhaften Widerstands gegen den Imperialismus, wie er vor der Wende oft auf den Propagandaton einstimmte, stand nun ein "Imperialist" selbst im Mittelpunkt, wenn auch ein gescheiterter. Peter Schamoni, ein Mitverfasser des legendären "Oberhausener Manifestes" von 1962 ("Papas Kino ist tot"), später ein sensibler Regisseur von Künstlerfilmen, hat es unternommen, Kisten voller Bildmaterial über den letzten deutschen Kaiser zu sichten. Allein schon das Singuläre dieser Aufnahmen, darunter ein bisher unbekannter früher Farbfilmversuch, aus den Glanztagen des höchst reisefreudigen Monarchen und seinem unter anderem mit Holzhacken angefüllten Exil, rechtfertigten das - auf das Buch des Historikers Nikolaus Sombart gestützte - Unternehmen.
Das durch kurz inszenierte Szenen bereicherte Charakterbild eines hypermotorischen Herrschers mit ausgeprägtem Selbstdarstellungsinteresse konnte auf einem Filmfestival, das sich früher dezidiert als ein politisches verstand, nicht ohne vereinzelte Buhrufe hingenommen werden. Doch Schamoni wollte keine Demontage dieser Persönlichkeit, die der Zeit schließlich im Wege stand, betreiben und schon gar keine Analyse des verhängnisvollen Kriegsausbruchs von 1914 liefern. Der Kaiser selbst behauptet im Nachhinein, von den Ereignissen überrascht worden zu sein, als er im Sommer 1914 wie gewohnt auf seiner Hochseejacht "Hohenzollern" vor Norwegens Küste die Sonne suchte: "Majestät brauchen Sonne" heißt denn auch der außerhalb des Wettbewerbs aufgeführte zweiteilige Film.
Erst Monate zuvor hatten sich die miteinander verschwisterten europäischen Herrscher wieder einmal familiär getroffen. Wilhelms II. naive Beteuerungen überzeugen nicht unbedingt, der Regisseur lässt sie passieren, weil er - und darin stimmte er in den privaten Kammerton des Festivals ein - das Labile und Fragile, das bedenklich Nervöse und fragwürdig Eitle eines von seiner Stellung überforderten Mannes darstellen wollte. Wie schnell hinter den Shakehands der Politiker das Gespenst eines Krieges auftauchen kann, wurde zum beiläufigen, nicht unwichtigen Erlebnis.
Alte, vergilbte, beschädigte Filmaufnahmen stehen bei Dokumentaristen derzeit hoch im Kurs. Nicht allein Herr Szymanski blickt gebannt auf vermeintlich oder tatsächlich bessere Tage zurück, auch professionelle Regisseure begeben sich gern auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Der Russe Vitalij Manskij setzte aus Privataufnahmen der Chruschtschow- und Breschnew-Ära ein Gruppenbild des letzten homo sovieticus zusammen, der nun, wie der Regisseur selbst, vor den Trümmern des Imperiums und seiner Versprechungen steht. "Private Chroniken. Monolog" - schon im Titel steckt der doppelte Zugriff auf eine Zeit, von der nur noch ihre Auflösungserscheinungen, das Versinken in persönlichen Freuden und Leiden, als berichtenswert erscheinen. Einundeinhalb Stunden lang treibt immer wieder der Ulk seine Blüten, und dazu erzählt der Autor mit unterkühltem Witz von sich selbst - ein auf Dauer ermüdendes Verfahren.
In Manskijs Grundton steckt auch eine Spur von Zynismus, der den Zuschauer zum Komplizen machen will. Von solcher Betroffenheitsstimmung wollte der junge slowakische Regisseur Peter Kerekes bei der Aufbereitung ethnografischer Fundstücke vom Lande nichts wissen. In den "Moritaten und Legenden aus Ladomirov" erzählen Leute einer armen ostslowakischen Region, wie sie zwei Weltkriege und die sozialistischen Jahrzehnte dazu überstanden. Sei es, weil Kerekes ein fröhlicher Mensch ist, oder, weil in jedem von ihnen ein Schalk sitzt, können sie heute selbst über das Vergangene lachen. In den Herbsttagen von 1944, als die Schlacht am Dukla-Pass tobte, konnte man binnen einer Stunde von einer deutschen Patrouille, von Partisanen, ungarischen oder russischen Soldaten mit Erschießen bedroht werden. Wer das erlebt hatte, ertrug auch die nachfolgende Unbill. Doch wohl nicht nur wegen dieser fast absurden gedrängten Monologe, sondern auch wegen eines hoffnungsvollen Gesamtblicks auf Mensch und Landschaft wurde Kerekes' einstündiger Film, eine Diplomarbeit der Bratislavaer Kunstakademie, mit einer Silbernen Taube und zwei weiteren Preisen der Hauptsieger des Festivals.
Der diesjährige Wettbewerb gewann stets dann Bedeutung, wenn darin "Familiengespräche", wie ein Beitrag hieß, geführt wurden. Manche Dokumentarfilmregisseure entwickeln heute eine außerordentliche Fähigkeit, sich an das Private anzuschmiegen oder es zu einem Drama zu formen. Die Doku-Soaps stehen da als populäre Aufbereitung der Zeit im Hintergrund, aber so banal, wie es dort meist geschieht, braucht das Leben nicht dargestellt zu werden. Detlef Gumms und Hans-Georg Ullrichs von der ARD ins Programm nach Mitternacht abgeschobene sechsteilige Serie "Berlin - Ecke Bundesplatz", aus fünfzehn Jahren Langzeitbeobachtung von Bewohnern eines Mittelstandskiezes gewonnen, sollte auf dem Festival zum Klassiker avancieren, bringt er doch das Kommen und Gehen von Menschen, von Hoffnungen und Kümmernis, fast zehn Stunden lang zur Anschauung, ein - hier außer Konkurrenz wiederholtes - Medienereignis erster Güte, dessen Warmherzigkeit nie der Sentimentalität zum Opfer fällt, das dem Einzelnen Respekt erweist und die Eitelkeit des Seins mit Milde zu ertragen lehrt. Für nicht wenige Festivalgäste bedeutete diese schon durch den Titel und die leitmotivische Musik den Vergleich mit einem großen Werk Fassbinders heraufbeschwörende Arbeit den eigentlichen Höhepunkt des Festivals und eine verdiente Entschädigung für manche schwache Stunde im Wettbewerb.
Wegen seiner Tradition fällt es Leipzig noch immer schwer, bei der Auswahl allein künstlerischen Maßstäben zu vertrauen. Wie dem Pawlowschen Hund der Speichel tropft, wenn das Glöckchen ertönt, so schnappt das Festival rasch zu, wenn ein Film, und sei es das schlichteste, für die große Leinwand ganz und gar untaugliche Video, eine angeblich unterdrückte Wahrheit ans Licht zu befördern verspricht. "Sehen, was wirklich los ist", lautet das vordergründige Losungswort, und prompt werden dann Themen wie Holocaust, Stalinismus, soziale Not abgearbeitet, als würden Absichten bereits filmische Erlebnisse ermöglichen und als könne die bloße Benennung von Zuständen irgendetwas bewirken. So hält man den Zuschauer für schlecht informiert und detaillierter Aufklärung bedürftig, obwohl er doch vielleicht eher, täglicher Informationsüberflutung ausgeliefert, der Besinnung bedarf. Flüchtig erstellte Videos, mit denen sich der Dokumentarfilm an zufällige Absichten verliert, und eine sich in alle möglichen Richtungen verlaufende, mal dieses, mal jenes streifende, doch selten etwas Umfassendes anbietende Programmgestaltung sind die Gefahren dieses Festivals.
HANS-JÖRG ROTHER
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