Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.09.2018Menashe will kein Shlimazel sein
Das Spielfilmdebüt des Dokumentarfilmers Joshua Weinstein zeigt den Alltag in einer chassidischen Gemeinde
Menashe hat sein Leben nicht im Griff. Eine fürchterliche Ehe liegt hinter ihm, nun ist er Witwer und arbeitet in einem Lebensmittelgeschäft, wofür er weder Reichtümer noch Anerkennung erwarten kann. Er haust in einer trüben Wohnung in New York, ist mit der Miete hinterher und vermisst seinen Sohn Rieven, der in der Familie seines strengen, finanziell deutlich erfolgreicheren Schwagers Eizik (Yoel Weisshaus) lebt. Und das bleibt auch so, verfügt der Rabbi - jedenfalls bis Menashe wieder eine Frau gefunden hat, denn alleinerziehende Mütter oder gar Väter sind in der orthodoxen Community nicht erlaubt. Was immerhin zu einem für alle Beteiligten eher peinlichen Date mit einer Frau führt und zu der Erkenntnis, dass Menashe dafür nach einem knappen Jahr noch nicht bereit ist.
Diesen Menashe gibt es wirklich, jedenfalls so ungefähr. Er heißt im Leben Menashe Lustig, ist 39 Jahre alt und betreibt einen eigenen Youtube-Kanal, ein für einen Chassiden eher außergewöhnliches Hobby. Als der Dokumentarfilmer Joshua Weinstein darauf stieß, engagierte er ihn als Hauptdarsteller für seinen ersten erzählenden Film. Zwei Jahre drehte Weinstein mit ultraorthodoxen Juden in Borough Park, der größten chassidischen Gemeinde außerhalb Israels in New York. Alle Beteiligten sprechen Jiddisch, was für deutsche Zuschauer deutlich interessanter ist als für amerikanische, die im Gegensatz zu uns kein Wort verstehen dürften.
So erging es auch dem Drehteam: Die Szenen wurden erst auf Englisch geprobt, dann auf Jiddisch nachgespielt, wobei den Darstellern die Feinarbeit am Dialog überlassen wurde. Als größere Schwierigkeit stellte sich heraus, dass das Drehteam ständig von Drehorten vertrieben wurde und dass Schauspieler absprangen. Das Konzept Kino gehört nicht zur Lebenswelt der Charedim, und einen jiddischsprachigen Spielfilm, der in dieser Kultur verortet ist, gab es überhaupt noch nie. Auch Lustig setzte durch seine Beteiligung an dem Projekt persönlich nicht wenig aufs Spiel. Es grenzt also an ein Wunder, dass es den Film "Menashe" überhaupt gibt und die Nachbarn mit Lustig noch reden.
Ansonsten wird nichts erklärt und nichts hinterfragt, es gibt keine großen Szenen, keine berauschenden Bilder, keine Kniffe, keine Gimmicks. "Menashe" folgt seinem Hauptdarsteller in dessen gemächlichem Tempo und bleibt ganz in seiner Welt, in der Frauen kaum eine Rolle spielen, wobei man ahnt, dass auf ihnen die Hauptlast der Gemeinde liegt. Sie erziehen die Kinder, sie schmeißen die Haushalte, sie helfen mit Rezepten aus, während die Väter die Tora studieren. Nur einmal läuft eine widerspenstige Tochter durch den Hintergrund und verkündet, aufs College gehen zu wollen. Das bleibt der einzige Knacks, der erkennen lässt, das diese Welt eine brüchige ist.
Doch im Film spielen die Frauen keine Rolle, es geht um Vater und Sohn. Und darum, wie Vater und Sohn in Abwesenheit einer Frau zurechtkommen können. Es klappt nur so mittel: Rieven bekommt bei Menashe Kuchen und Cola zum Frühstück, ist dauernd viel zu spät dran, und das Hühnerküken in der Wohnung überlebt auch nicht lange. Nach der Gedenkfeier zum einjährigen Tod seiner Frau soll Menashe den kleinen Rieven wieder abgeben, doch der Vater gibt so schnell nicht auf und will dem Rabbi und der Trauergesellschaft beweisen, dass er kein Verlierer ist, kein "Shlimazel", wie man auf Jiddisch sagen würde. Er gibt sich alle Mühe, er ist herzensgut, er ringt um die Anerkennung seines Schwagers, er will es allen recht machen, vor allem dem Rabbi und dem Sohn - und scheitert doch immer wieder.
Was da in ziemlich schwerfälligem Tempo vor sich hin passiert, ist ganz alltäglich, aber ein völlig anderer Alltag, als man ihn kennt, mit fremden Ritualen und ungewohnten Vorschriften. Doch die Gefühlswelt, die sich darunter regt, ist in jedem Moment nachvollziehbar. In einer der anrührendsten Szenen sitzen Menashe und seine hispanischen Kollegen abends nach der Arbeit zusammen und erzählen sich, was ihnen auf der Seele liegt. Auch wenn ihre Kulturen meilenweit auseinanderliegen und ihre Probleme ganz andere sind, finden sie doch Verständnis füreinander. Und das ist es, worum es Menashe geht, dem echten auf Youtube und dem fiktiven im Film: um ein Verstehen, das sich um Fremdheit nicht schert.
ANDREA DIENER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Spielfilmdebüt des Dokumentarfilmers Joshua Weinstein zeigt den Alltag in einer chassidischen Gemeinde
Menashe hat sein Leben nicht im Griff. Eine fürchterliche Ehe liegt hinter ihm, nun ist er Witwer und arbeitet in einem Lebensmittelgeschäft, wofür er weder Reichtümer noch Anerkennung erwarten kann. Er haust in einer trüben Wohnung in New York, ist mit der Miete hinterher und vermisst seinen Sohn Rieven, der in der Familie seines strengen, finanziell deutlich erfolgreicheren Schwagers Eizik (Yoel Weisshaus) lebt. Und das bleibt auch so, verfügt der Rabbi - jedenfalls bis Menashe wieder eine Frau gefunden hat, denn alleinerziehende Mütter oder gar Väter sind in der orthodoxen Community nicht erlaubt. Was immerhin zu einem für alle Beteiligten eher peinlichen Date mit einer Frau führt und zu der Erkenntnis, dass Menashe dafür nach einem knappen Jahr noch nicht bereit ist.
Diesen Menashe gibt es wirklich, jedenfalls so ungefähr. Er heißt im Leben Menashe Lustig, ist 39 Jahre alt und betreibt einen eigenen Youtube-Kanal, ein für einen Chassiden eher außergewöhnliches Hobby. Als der Dokumentarfilmer Joshua Weinstein darauf stieß, engagierte er ihn als Hauptdarsteller für seinen ersten erzählenden Film. Zwei Jahre drehte Weinstein mit ultraorthodoxen Juden in Borough Park, der größten chassidischen Gemeinde außerhalb Israels in New York. Alle Beteiligten sprechen Jiddisch, was für deutsche Zuschauer deutlich interessanter ist als für amerikanische, die im Gegensatz zu uns kein Wort verstehen dürften.
So erging es auch dem Drehteam: Die Szenen wurden erst auf Englisch geprobt, dann auf Jiddisch nachgespielt, wobei den Darstellern die Feinarbeit am Dialog überlassen wurde. Als größere Schwierigkeit stellte sich heraus, dass das Drehteam ständig von Drehorten vertrieben wurde und dass Schauspieler absprangen. Das Konzept Kino gehört nicht zur Lebenswelt der Charedim, und einen jiddischsprachigen Spielfilm, der in dieser Kultur verortet ist, gab es überhaupt noch nie. Auch Lustig setzte durch seine Beteiligung an dem Projekt persönlich nicht wenig aufs Spiel. Es grenzt also an ein Wunder, dass es den Film "Menashe" überhaupt gibt und die Nachbarn mit Lustig noch reden.
Ansonsten wird nichts erklärt und nichts hinterfragt, es gibt keine großen Szenen, keine berauschenden Bilder, keine Kniffe, keine Gimmicks. "Menashe" folgt seinem Hauptdarsteller in dessen gemächlichem Tempo und bleibt ganz in seiner Welt, in der Frauen kaum eine Rolle spielen, wobei man ahnt, dass auf ihnen die Hauptlast der Gemeinde liegt. Sie erziehen die Kinder, sie schmeißen die Haushalte, sie helfen mit Rezepten aus, während die Väter die Tora studieren. Nur einmal läuft eine widerspenstige Tochter durch den Hintergrund und verkündet, aufs College gehen zu wollen. Das bleibt der einzige Knacks, der erkennen lässt, das diese Welt eine brüchige ist.
Doch im Film spielen die Frauen keine Rolle, es geht um Vater und Sohn. Und darum, wie Vater und Sohn in Abwesenheit einer Frau zurechtkommen können. Es klappt nur so mittel: Rieven bekommt bei Menashe Kuchen und Cola zum Frühstück, ist dauernd viel zu spät dran, und das Hühnerküken in der Wohnung überlebt auch nicht lange. Nach der Gedenkfeier zum einjährigen Tod seiner Frau soll Menashe den kleinen Rieven wieder abgeben, doch der Vater gibt so schnell nicht auf und will dem Rabbi und der Trauergesellschaft beweisen, dass er kein Verlierer ist, kein "Shlimazel", wie man auf Jiddisch sagen würde. Er gibt sich alle Mühe, er ist herzensgut, er ringt um die Anerkennung seines Schwagers, er will es allen recht machen, vor allem dem Rabbi und dem Sohn - und scheitert doch immer wieder.
Was da in ziemlich schwerfälligem Tempo vor sich hin passiert, ist ganz alltäglich, aber ein völlig anderer Alltag, als man ihn kennt, mit fremden Ritualen und ungewohnten Vorschriften. Doch die Gefühlswelt, die sich darunter regt, ist in jedem Moment nachvollziehbar. In einer der anrührendsten Szenen sitzen Menashe und seine hispanischen Kollegen abends nach der Arbeit zusammen und erzählen sich, was ihnen auf der Seele liegt. Auch wenn ihre Kulturen meilenweit auseinanderliegen und ihre Probleme ganz andere sind, finden sie doch Verständnis füreinander. Und das ist es, worum es Menashe geht, dem echten auf Youtube und dem fiktiven im Film: um ein Verstehen, das sich um Fremdheit nicht schert.
ANDREA DIENER
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