Marrakesch heute: Noha, Randa, Soukaina, Hlima verkaufen ihre Körper. Sie arbeiten als Prostiuierte, sind Objekte der Begierde: Im Rausch der Nacht fließt das Geld großzügig im Rhythmus des Vergnügens, doch auch Demütigungen gehören dazu.
Gemeinsam sind die Frauen Komplizinnen und lassen sich mit all ihrer Lebendigkeit auf dieses Spiel ein: In ihrem ganz eigenen Reich finden sie die Freiheit und Würde, die ihnen in der marokkanischen Gesellschaft entsagt bleiben - einer Gesellschaft, die sie gleichzeitig ausnutzt und verdammt.
Gemeinsam sind die Frauen Komplizinnen und lassen sich mit all ihrer Lebendigkeit auf dieses Spiel ein: In ihrem ganz eigenen Reich finden sie die Freiheit und Würde, die ihnen in der marokkanischen Gesellschaft entsagt bleiben - einer Gesellschaft, die sie gleichzeitig ausnutzt und verdammt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.2016Der freie nordafrikanische Markt der Lust und seine Freier
Im Spielfilm "Much Loved" von Nabil Ayouch finden widersprüchliche Einzelbeobachtungen im marokkanischen Nachtleben eindrucksvoll zusammen
100 Dirham und fünf Kilo Gemüse, das ist das Angebot, das ein einfacher Marokkaner dem Mädchen Hlima macht. Nach dem Sex, wohlgemerkt, sie hat nicht darauf bestanden, schon vorher einen Preis zu vereinbaren. 100 Dirham, das sind keine zehn Euro. Hlima ist kein Mädchen für 100 Dirham, das lässt sie sich auch nicht mit fünf Kilo Gemüse aufwiegen. Sie fordert zehn. Der Mann willigt ein. Damit ist diese Transaktion auf den nächtlichen Straßen von Marrakesch abgeschlossen.
Den Betrag von 100 Dirham sollte man im Kopf behalten, denn er spielt in Nabil Ayouchs Film "Much Loved" noch an anderer Stelle eine Rolle. Und dann gibt es noch das Vielfache von 100 Dirham. Zum Beispiel die 6000, die Noha und ihre Freundin Soukaina nach einer langen Partynacht mit ein paar Saudis bekommen. Soukaina musste dafür nicht einmal Sex haben, sie gerät an einen attraktiven, noch halbwegs jungen Mann, der ihr Poesie in die Ohren flüsterte, dem es aber an Manneskraft mangelt. "Wohl zu viel getrunken", murmelt er. Noha hingegen muss sich ihr Honorar hart erarbeiten. Im Morgengrauen kommen sie nach Hause, da ist dann auch Randa wieder da, die von der Party bald verschwunden war. "Ich mach es nicht mit Arabern", sagt sie. Prostitution ist in Marokko nicht erlaubt, aber eindeutig ein großes Thema. Das Land gilt als Sextouristenziel. Einer der aufschlussreichen Aspekte von Nabil Ayouchs Film ist, dass er die verschiedenen Gruppen sehr klar herausarbeitet, die dabei eine Rolle spielen: Neben den Männern aus dem Westen sind es vor allem Besucher aus Saudi-Arabien, die sich in Marokko vergnügen wollen. Wenn man den Dialogen aufmerksam folgt, wird man dabei immer wieder Bemerkungen aufschnappen, aus denen geradezu eine Geopolitik der Freier hervorgeht. Die Saudis spotten über "Schengen", der Spott ist aber von Neid durchsetzt über die Männer, die als "geizig" abgetan werden, als Schweineesser, und Aids sollen sie auch alle haben.
Offensichtlich war dem in Paris geborenen, inzwischen in Casablanca lebenden Regisseur daran gelegen, das Thema umfassend in den Blick zu bekommen. Dabei ist "Much Loved" keineswegs ein soziologischer Traktat oder dokudramatisch aufgepeppte Feldforschung, sondern ein gelungener Spielfilm. Im Zentrum stehen diese drei Frauen, die sich eine Wohnung teilen und mit einem Fahrer namens Said von einem Job zum nächsten fahren. Noha ist das melodramatische Zentrum. Sie ist 28, hat die meiste Erfahrung, gibt sich abgebrüht, hat aber das schwerste Schicksal, denn es hat sich inzwischen bis zu ihrer Familie herumgesprochen, was sie macht. Wenn sie ihre Mutter besucht, bei der auch ihr kleiner Sohn lebt, trägt Noha ein Kopftuch. Doch nun erfährt sie, dass sie sich nicht mehr blicken lassen soll. Die zwei Seiten von Marrakesch werden hier markant sichtbar, eine hedonistische Vorderseite verliert sich im Gassengewirr der einfachen Leute.
Soukaina ist die hübscheste der drei, sie bekommt von ihrem poetisch gestimmten Galan ständig weitere Nachrichten, eines Abend aber findet sie heraus, was sich hinter seiner geringen körperlichen Lust auf sie tatsächlich verbirgt. Randa ist die eigenwilligste von Ayouchs Hauptfiguren, sie hat ein Geheimnis, das relativ offensichtlich ist, trotzdem fragen die Freundinnen sie schließlich ganz direkt: "Bist du eine Lesbe?"
Rund um diese kleine Gruppe entfaltet sich in "Much Loved" eine figurenreiche Geschichte, in deren Verlauf dann eben Hlima hinzustößt, eine schwangere Straßenprostituierte. Bei all dem bleibt Said die undurchsichtigste Figur. Er ist Zuhälter, aber auch Beschützer. Er lässt die Frauen in Ruhe, vermutlich sorgt er im Hintergrund auch dafür, das sie von der Polizei nicht behelligt werden. In Andeutungen wird ein komplexes System organisierter Prostitution erkennbar. Wer versorgt die Partys, an denen manchmal Dutzende von Frauen teilnehmen?
Mit jedem neuen Detail wird klarer, dass im Grunde die ganze Gesellschaft involviert ist: der einheimische Freund von Soukaina nimmt ihr auch Geld weg, die Türsteher der Clubs greifen etwas ab, wenn sie morgens die betrunkenen Franzosen abdrängen, die meinen, sie hätten sich ein Recht auf etwas erkauft, weil sie in den Stunden davor 1500 Euro ausgegeben haben. Wodka und Kokain sind die Stimulanzien, mit einem Joint und einem romantischen Film kommen die Frauen tagsüber wieder herunter, ein ständiges Auf und Ab, in Entsprechung zum Versuch der Männer, ihren Lüsten zu genügen. In der Spannung zwischen Arbeit und Transgression findet "Much Loved", entstanden mit Unterstützung des Filmfestivals von Cannes, eine gute Balance.
Eines Nachts sitzen die Frauen wieder in einem Cafe. Dabei verwickeln sie den Jungen, der Lollis verkauft, in ein Gespräch. "Gehst du auch manchmal mit Männern mit?" Zögernd rückt er mit der Wahrheit heraus. Dann sagt er auch noch, wie viel er in der Regel bekommt. Es sind 100 Dirham, und selbst in diesem Moment ist nicht ganz klar, ob das nun der Mindestbetrag ist, zu dem in Marokko die Würde und das Glück gehandelt werden.
BERT REBHANDL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Spielfilm "Much Loved" von Nabil Ayouch finden widersprüchliche Einzelbeobachtungen im marokkanischen Nachtleben eindrucksvoll zusammen
100 Dirham und fünf Kilo Gemüse, das ist das Angebot, das ein einfacher Marokkaner dem Mädchen Hlima macht. Nach dem Sex, wohlgemerkt, sie hat nicht darauf bestanden, schon vorher einen Preis zu vereinbaren. 100 Dirham, das sind keine zehn Euro. Hlima ist kein Mädchen für 100 Dirham, das lässt sie sich auch nicht mit fünf Kilo Gemüse aufwiegen. Sie fordert zehn. Der Mann willigt ein. Damit ist diese Transaktion auf den nächtlichen Straßen von Marrakesch abgeschlossen.
Den Betrag von 100 Dirham sollte man im Kopf behalten, denn er spielt in Nabil Ayouchs Film "Much Loved" noch an anderer Stelle eine Rolle. Und dann gibt es noch das Vielfache von 100 Dirham. Zum Beispiel die 6000, die Noha und ihre Freundin Soukaina nach einer langen Partynacht mit ein paar Saudis bekommen. Soukaina musste dafür nicht einmal Sex haben, sie gerät an einen attraktiven, noch halbwegs jungen Mann, der ihr Poesie in die Ohren flüsterte, dem es aber an Manneskraft mangelt. "Wohl zu viel getrunken", murmelt er. Noha hingegen muss sich ihr Honorar hart erarbeiten. Im Morgengrauen kommen sie nach Hause, da ist dann auch Randa wieder da, die von der Party bald verschwunden war. "Ich mach es nicht mit Arabern", sagt sie. Prostitution ist in Marokko nicht erlaubt, aber eindeutig ein großes Thema. Das Land gilt als Sextouristenziel. Einer der aufschlussreichen Aspekte von Nabil Ayouchs Film ist, dass er die verschiedenen Gruppen sehr klar herausarbeitet, die dabei eine Rolle spielen: Neben den Männern aus dem Westen sind es vor allem Besucher aus Saudi-Arabien, die sich in Marokko vergnügen wollen. Wenn man den Dialogen aufmerksam folgt, wird man dabei immer wieder Bemerkungen aufschnappen, aus denen geradezu eine Geopolitik der Freier hervorgeht. Die Saudis spotten über "Schengen", der Spott ist aber von Neid durchsetzt über die Männer, die als "geizig" abgetan werden, als Schweineesser, und Aids sollen sie auch alle haben.
Offensichtlich war dem in Paris geborenen, inzwischen in Casablanca lebenden Regisseur daran gelegen, das Thema umfassend in den Blick zu bekommen. Dabei ist "Much Loved" keineswegs ein soziologischer Traktat oder dokudramatisch aufgepeppte Feldforschung, sondern ein gelungener Spielfilm. Im Zentrum stehen diese drei Frauen, die sich eine Wohnung teilen und mit einem Fahrer namens Said von einem Job zum nächsten fahren. Noha ist das melodramatische Zentrum. Sie ist 28, hat die meiste Erfahrung, gibt sich abgebrüht, hat aber das schwerste Schicksal, denn es hat sich inzwischen bis zu ihrer Familie herumgesprochen, was sie macht. Wenn sie ihre Mutter besucht, bei der auch ihr kleiner Sohn lebt, trägt Noha ein Kopftuch. Doch nun erfährt sie, dass sie sich nicht mehr blicken lassen soll. Die zwei Seiten von Marrakesch werden hier markant sichtbar, eine hedonistische Vorderseite verliert sich im Gassengewirr der einfachen Leute.
Soukaina ist die hübscheste der drei, sie bekommt von ihrem poetisch gestimmten Galan ständig weitere Nachrichten, eines Abend aber findet sie heraus, was sich hinter seiner geringen körperlichen Lust auf sie tatsächlich verbirgt. Randa ist die eigenwilligste von Ayouchs Hauptfiguren, sie hat ein Geheimnis, das relativ offensichtlich ist, trotzdem fragen die Freundinnen sie schließlich ganz direkt: "Bist du eine Lesbe?"
Rund um diese kleine Gruppe entfaltet sich in "Much Loved" eine figurenreiche Geschichte, in deren Verlauf dann eben Hlima hinzustößt, eine schwangere Straßenprostituierte. Bei all dem bleibt Said die undurchsichtigste Figur. Er ist Zuhälter, aber auch Beschützer. Er lässt die Frauen in Ruhe, vermutlich sorgt er im Hintergrund auch dafür, das sie von der Polizei nicht behelligt werden. In Andeutungen wird ein komplexes System organisierter Prostitution erkennbar. Wer versorgt die Partys, an denen manchmal Dutzende von Frauen teilnehmen?
Mit jedem neuen Detail wird klarer, dass im Grunde die ganze Gesellschaft involviert ist: der einheimische Freund von Soukaina nimmt ihr auch Geld weg, die Türsteher der Clubs greifen etwas ab, wenn sie morgens die betrunkenen Franzosen abdrängen, die meinen, sie hätten sich ein Recht auf etwas erkauft, weil sie in den Stunden davor 1500 Euro ausgegeben haben. Wodka und Kokain sind die Stimulanzien, mit einem Joint und einem romantischen Film kommen die Frauen tagsüber wieder herunter, ein ständiges Auf und Ab, in Entsprechung zum Versuch der Männer, ihren Lüsten zu genügen. In der Spannung zwischen Arbeit und Transgression findet "Much Loved", entstanden mit Unterstützung des Filmfestivals von Cannes, eine gute Balance.
Eines Nachts sitzen die Frauen wieder in einem Cafe. Dabei verwickeln sie den Jungen, der Lollis verkauft, in ein Gespräch. "Gehst du auch manchmal mit Männern mit?" Zögernd rückt er mit der Wahrheit heraus. Dann sagt er auch noch, wie viel er in der Regel bekommt. Es sind 100 Dirham, und selbst in diesem Moment ist nicht ganz klar, ob das nun der Mindestbetrag ist, zu dem in Marokko die Würde und das Glück gehandelt werden.
BERT REBHANDL
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