Im Stile eines Thrillers folgt die ebenso packende wie psychologisch eingehende Dokumentation von Regisseur Daniel Roher dem russischen Oppositionsführer Alexei Nawalny auf der Suche nach den Männern, die ihn im August 2020 vergifteten. NAWALNY wurde parallel zu den realen Ereignissen in Deutschland gedreht, was den Filmemachern einen außergewöhnlichen Zugang zu den Ermittlungen ermöglichte. So ist der Film eine Dokumentation aus der Perspektive des unmittelbaren Beobachters und zugleich eine Studie des Menschen Nawalny - das Porträt einer politischen Führungspersönlichkeit, die sich bei ihrem Streben nach Reformen von nichts einschüchtern lässt, nicht einmal von der eigenen Vergiftung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2022Stückweise Realität
Zur Eröffnung des Dok.fest in München
Das Telefon von Putin. Daniel Sponsel lenkt die Aufmerksamkeit des von langen Dankesreden leicht ermüdeten Publikums auf ein frisches Foto des Kremlchefs und seiner gut sichtbaren Telefonanlage. Ein überdimensioniertes Festnetzgerät, wie man es zuletzt vor zwanzig Jahren sah. "Das Telefon von Putin sieht nicht sehr zeitgemäß aus. Hoffentlich ist das nicht das rote Telefon . . .", witzelt der Festivalleiter von Deutschlands größtem Dokumentarfilmfest, dem Münchner Dok.fest, das wenige Minuten später mit dem im voll besetzten Deutschen Theater heftig bejubelten Film "Nawalnyj" eröffnet werden soll. Selbstbewusst erklärt Sponsel: "Der Dokumentarfilm ist eine Königsklasse der Kultur." Davon hätten sich in den vergangenen zwei Pandemiejahren viele Zuschauer überzeugen lassen.
Adele Kohout, die stellvertretende Festivalleiterin, wiederum erklärt, man habe das Paradox erlebt, dass ausgerechnet in diesen zwei Jahren mehr Zuschauer online das Dok.fest frequentiert hätten als jemals zuvor in seiner siebenunddreißigjährigen Geschichte. Daraus erwachse die Verantwortung, die Teilnahme am Festival auch Menschen, die nicht persönlich dabei sein können, zumindest online zu ermöglichen.
Und so findet das Dok.fest erstmalig in einer "dualen Edition" statt. Bis zum Montag sind Dokumentarfilme wie die israelische Asperger- und Adoptivkindreportage "I AM Not", Joscha Bongards "Pornfluencer" über ein Pärchen, das täglich eigenproduzierte Sexfilme ins Netz stellt, oder Andreas Wilckes "Volksvertreter" über die Arbeit von vier AfD-Abgeordneten über ein Ticket auch online auf dokfest-muenchen.de zu sehen. Ebenso "Magaluf Ghost Town" und "El Circulo" aus der diesjährigen Spanienreihe. Sie thematisieren Auswirkungen des Massentourismus und die Neubestimmung des Mannes in der modernen spanischen Gesellschaft.
Insgesamt sind es 124 Filme aus 55 Ländern, die bis zum 15. Mai auf Zuschauer und Preise warten - darunter den gewichtigsten, den "Viktor". Vergeben wird auch ein "Student Award", in dessen Wettbewerb der gut viertelstündige Kurzfilm "Donbas Days" von Philipp Schaeffer läuft. Er porträtiert einen jungen Mann, der vom Krieg gezeichneten Kindern Jonglierunterricht erteilt. Obwohl erst 2021 gedreht, wirkt sein Film schon jetzt wie ein historisches Dokument. Ein Schicksal, das er mit drei weiteren Filmen teilt, die sich mit der Ukraine beschäftigen: "Sie werden diese Menschen an diesen Orten nicht mehr finden", sagt Adele Kohout. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine habe auch hier neue Tatsachen geschaffen. Ihre Wirkung verfehlen sie trotzdem nicht: Die Dokus reißen "der russischen Propaganda die Maske vom Gesicht. Für mich ist das der Kern des Dok.festes", verkündet die bayerische Digitalministerin Judith Gerlach in einer kämpferischen Rede, an deren Ende sie ruft: "Gehen Sie ins Kino. Wir müssen die Kinos stärken."
Passend zum Eröffnungsfilm bat Münchens zweite Bürgermeisterin Katrin Habenschaden indes: "Denken wir heute an die Menschen, die in Russland immer noch den Mut haben, auf die Straße zu gehen." Was in Russland eben auch zur Realität gehört, zeigt der Eröffnungsfilm "Nawalnyj" von Regisseur Daniel Roher, der verriet, dass sein Werk nur entstanden sei, weil ein anderer Film über Spione in Kiew kurzfristig geplatzt sei. Außerdem stelle er sich bis heute die Frage, warum sich der virtuose Medieninszenierer Alexej Nawalnyj auf die Beschwernisse einer Langzeit-Doku eingelassen habe. "Er wollte, dass seine Botschaft auch gehört wird, wenn er nicht seine Kanäle bedienen kann. Er hat die Inhaftierung vorausgesehen."
Rohers Tonmann Marcus Vetter erzählt im Gespräch mit der F.A.Z., dass Nawalnyj stets das gleiche einnehmende Wesen habe, wenn die Kameras aus sind. "Er brauchte nur ganz wenig Zeit für sich. Selbst wenn er im Schwarzwald Esel und Pony füttert, war ihm keine Kamera zu viel." Über die meistdiskutierte Frage des Abends, warum Nawalnyj wieder zurück nach Russland ging, kann er nur den Kopf schütteln: "Für Nawalnyj war klar, dass er zu seinen Leuten nach Russland gehört. Auch aus seiner Familie hat das niemand auch nur eine Minute angezweifelt. Jeder hat diese Entscheidung mitgetragen." Nawalnyj selbst hat für alle Zuschauer am Ende des Films diesen einen Rat: "Bitte tun Sie was. Nur wer nichts tut, spielt dem Bösen in die Hände." JÖRG SEEWALD
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zur Eröffnung des Dok.fest in München
Das Telefon von Putin. Daniel Sponsel lenkt die Aufmerksamkeit des von langen Dankesreden leicht ermüdeten Publikums auf ein frisches Foto des Kremlchefs und seiner gut sichtbaren Telefonanlage. Ein überdimensioniertes Festnetzgerät, wie man es zuletzt vor zwanzig Jahren sah. "Das Telefon von Putin sieht nicht sehr zeitgemäß aus. Hoffentlich ist das nicht das rote Telefon . . .", witzelt der Festivalleiter von Deutschlands größtem Dokumentarfilmfest, dem Münchner Dok.fest, das wenige Minuten später mit dem im voll besetzten Deutschen Theater heftig bejubelten Film "Nawalnyj" eröffnet werden soll. Selbstbewusst erklärt Sponsel: "Der Dokumentarfilm ist eine Königsklasse der Kultur." Davon hätten sich in den vergangenen zwei Pandemiejahren viele Zuschauer überzeugen lassen.
Adele Kohout, die stellvertretende Festivalleiterin, wiederum erklärt, man habe das Paradox erlebt, dass ausgerechnet in diesen zwei Jahren mehr Zuschauer online das Dok.fest frequentiert hätten als jemals zuvor in seiner siebenunddreißigjährigen Geschichte. Daraus erwachse die Verantwortung, die Teilnahme am Festival auch Menschen, die nicht persönlich dabei sein können, zumindest online zu ermöglichen.
Und so findet das Dok.fest erstmalig in einer "dualen Edition" statt. Bis zum Montag sind Dokumentarfilme wie die israelische Asperger- und Adoptivkindreportage "I AM Not", Joscha Bongards "Pornfluencer" über ein Pärchen, das täglich eigenproduzierte Sexfilme ins Netz stellt, oder Andreas Wilckes "Volksvertreter" über die Arbeit von vier AfD-Abgeordneten über ein Ticket auch online auf dokfest-muenchen.de zu sehen. Ebenso "Magaluf Ghost Town" und "El Circulo" aus der diesjährigen Spanienreihe. Sie thematisieren Auswirkungen des Massentourismus und die Neubestimmung des Mannes in der modernen spanischen Gesellschaft.
Insgesamt sind es 124 Filme aus 55 Ländern, die bis zum 15. Mai auf Zuschauer und Preise warten - darunter den gewichtigsten, den "Viktor". Vergeben wird auch ein "Student Award", in dessen Wettbewerb der gut viertelstündige Kurzfilm "Donbas Days" von Philipp Schaeffer läuft. Er porträtiert einen jungen Mann, der vom Krieg gezeichneten Kindern Jonglierunterricht erteilt. Obwohl erst 2021 gedreht, wirkt sein Film schon jetzt wie ein historisches Dokument. Ein Schicksal, das er mit drei weiteren Filmen teilt, die sich mit der Ukraine beschäftigen: "Sie werden diese Menschen an diesen Orten nicht mehr finden", sagt Adele Kohout. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine habe auch hier neue Tatsachen geschaffen. Ihre Wirkung verfehlen sie trotzdem nicht: Die Dokus reißen "der russischen Propaganda die Maske vom Gesicht. Für mich ist das der Kern des Dok.festes", verkündet die bayerische Digitalministerin Judith Gerlach in einer kämpferischen Rede, an deren Ende sie ruft: "Gehen Sie ins Kino. Wir müssen die Kinos stärken."
Passend zum Eröffnungsfilm bat Münchens zweite Bürgermeisterin Katrin Habenschaden indes: "Denken wir heute an die Menschen, die in Russland immer noch den Mut haben, auf die Straße zu gehen." Was in Russland eben auch zur Realität gehört, zeigt der Eröffnungsfilm "Nawalnyj" von Regisseur Daniel Roher, der verriet, dass sein Werk nur entstanden sei, weil ein anderer Film über Spione in Kiew kurzfristig geplatzt sei. Außerdem stelle er sich bis heute die Frage, warum sich der virtuose Medieninszenierer Alexej Nawalnyj auf die Beschwernisse einer Langzeit-Doku eingelassen habe. "Er wollte, dass seine Botschaft auch gehört wird, wenn er nicht seine Kanäle bedienen kann. Er hat die Inhaftierung vorausgesehen."
Rohers Tonmann Marcus Vetter erzählt im Gespräch mit der F.A.Z., dass Nawalnyj stets das gleiche einnehmende Wesen habe, wenn die Kameras aus sind. "Er brauchte nur ganz wenig Zeit für sich. Selbst wenn er im Schwarzwald Esel und Pony füttert, war ihm keine Kamera zu viel." Über die meistdiskutierte Frage des Abends, warum Nawalnyj wieder zurück nach Russland ging, kann er nur den Kopf schütteln: "Für Nawalnyj war klar, dass er zu seinen Leuten nach Russland gehört. Auch aus seiner Familie hat das niemand auch nur eine Minute angezweifelt. Jeder hat diese Entscheidung mitgetragen." Nawalnyj selbst hat für alle Zuschauer am Ende des Films diesen einen Rat: "Bitte tun Sie was. Nur wer nichts tut, spielt dem Bösen in die Hände." JÖRG SEEWALD
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main