Ein Blutbad auf offener Straße erschüttert Anfang August 1989 die Bevölkerung Stuttgarts: Der westafrikanische Asylbewerber Frederic Otomo wird um sechs Uhr morgens auf dem Weg zur Jobbörse des Arbeitsamts bei einer Fahrausweisüberprüfung in der Straßenbahn festgehalten. Er gerät in Panik, reißt sich gewaltsam los und flieht. Als Otomo einige Stunden später auf einer Brücke gestellt wird, ersticht er zwei Polizisten, verletzt drei weitere schwer und stirbt dann selbst im Kugelhagel.
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DVD-Ausstattung / Bonusmaterial: - Kapitel- / Szenenanwahl - "Die Entscheider" (20-minütiger Dokumentarfilm von Susanne Ofteringer) - Fernsehberichte zu den Dreharbeiten - Presseschau - FotosFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2000Last Exit Stuttgart
Frieder Schlaich und die Moral von einem Kriminalfall aus der Provinz: "Otomo" im Kino
Wenn einmal das Unglück eingetreten ist, sehen manche für sich keinen Ausweg mehr. Der Afrikaner Frederic Otomo gehört zu den ständigen Gefährten des Pechs: Irgendwann aus einem afrikanischen Gefängnis entkommen, hat er in Deutschland nur eine Duldungsbescheinigung und damit weder Arbeit noch Bleibe gefunden. An einem Herbstmorgen kehrt er dem kirchlichen Heim, das ihm Obdach bot, den Rücken. Offenbar will er die Stadt verlassen, wenn er nur vorher noch ein paar Mark verdienen kann. Die Statur, wie sie auf dem Bau geschätzt wird, hat der Vierzigjährige, aber wieder fehlen die Papiere.
In der Straßenbahn passiert es dann: In der Meinung, einen gültigen Fahrschein zu besitzen, stößt er einen übereifrigen Kontrolleur gewaltsam zur Seite, flüchtet und gerät auf die Fahndungsliste der Polizei. In einer Kneipe bekommt er ein Frühstück, an einem Uferstreifen zwingt er eine Frau mit ihrem Enkelkind, ihn mit nach Hause zu nehmen und mit Geld zu versorgen. Der Afrikaner (Isaach de Bankolé) bedrängt die Frau (Eva Mattes) mehr mit seinem enervierten Blick als mit Gewalt, aber was nützt es ihm. Ein Streifenwagen parkt bereits vor dem Haus. Auf einer Brücke stellen die zwei jungen Beamten, für die endlich einmal etwas los ist, den "Neger". In panischer Angst zieht Otomo ein langes Messer, ersticht sie und wird niedergeschossen.
Frieder Schlaich hat sich diese Geschichte nicht ausgedacht, sie ist in seiner Heimatstadt Stuttgart im August 1989 passiert. Nur die Begegnung mit der aus Berlin zu Besuch gekommenen jungen Großmutter haben Schlaich und sein Autor Klaus Pohl erfunden. Hier, in der gewöhnlich eingerichteten Wohnung und auf tristen Plätzen im Stuttgarter Osten, kommt eine kinematografische Atmosphäre auf. Zwei ebenbürtige Darsteller begegnen einander, mancher Zuschauer mag an Fassbinders "Angst essen Seele auf" und das von Brigitte Mira und El Hedi Ben Salem gespielte ungleiche Paar denken. Aber Eva Mattes und Isaach de Bankolé wissen zwar miteinander umzugehen, allein es fehlen ihnen die Rollen, um hinter dem Augenblick auch die Spannung eines ganzen Lebens ahnen zu lassen.
Ursprünglich wollte Schlaich, der sich mit Dokumentarfilmen einen Namen gemacht hat, den Mordfall authentisch rekonstruieren und die Stimmung beleuchten, die damals in Stuttgart herrschte. In den Fernsehaufnahmen von der Beerdigung der Polizisten, Tausende Menschen säumten den Zug, am Schluss seines Films ist dieses Konzept noch spürbar. Die spärliche Trauergemeinde für den Kameruner musste er freilich erfinden. Kaum jemand wollte seinerzeit an die Notlage des Asylbewerbers denken, und als der Oberbürgermeister zur Besonnenheit aufrief, schlug ihm, berichtet das Programmheft zum Film, "eine Welle des Hasses" entgegen. Erst Jahre später durfte der Regisseur Einblick in die Polizeiakten nehmen, da hatte er bereits den Dramatiker Pohl als Autor gewonnen.
Als ein hartnäckiger Dokumentarist hat sich Schlaich damit nicht erwiesen, sondern als jemand, der gern auf dem Seil balanciert. Da kann man leicht nach einer Seite abstürzen. Das Wichtige und Aufregende liegt jenseits der korrekt inszenierten, eindeutigen Episoden: der triste Alltag von Polizeibeamten, die in der Routine des Streifendienstes gern einmal einen echten Fall anpacken, das Umhergetriebensein des rastlosen Fremden, der überhaupt auf der Welt kaum noch einen Platz für sich sieht, die unausgefüllte, hier gänzlich erfundene Großmutter, die kein Aktienfieber packen wird, weil sie den Wohlstandsversprechungen früh schon misstrauen lernte. Der Film sammelt Befunde, um sie in Kunst zu verwandeln, aneinander gereihte Fingerzeige, deren moralischem Gestus der gutwillige Zuschauer gern zustimmt, ohne dass er ergriffen oder gar erschüttert wäre.
Dabei könnte der Film ein Fresko zeitgenössischer Schicksale sein, wie man es seit Fassbinder nicht mehr gesehen hat: der raue Humor auf der Polizeiwache, die Irritation des Heimleiters über die von weither getriebenen Menschen, die ihm täglich über die Schwelle kommen, und - die beste, weil konsequent dokumentarische Episode - der frierende Trupp der Arbeitsuchenden am Morgen vor einem Büro, wo sie taxiert, genommen oder wieder hinausgeschoben werden. Kein Schauspieler kann diese Gesichter nachahmen, Namenlose, Strandgut, sozialer Urgrund der Gesellschaft, Schreckbilder für den Arrivierten und zugleich jenes "Volk", vor dessen Gestalten einst Künstler wie Gerhart Hauptmann oder Ernst Barlach wie gebannt stehen blieben. Auch um dieser Szenen willen, selten geworden im deutschen Film, lohnt "Otomo" den Besuch.
HANS-JÖRG ROTHER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frieder Schlaich und die Moral von einem Kriminalfall aus der Provinz: "Otomo" im Kino
Wenn einmal das Unglück eingetreten ist, sehen manche für sich keinen Ausweg mehr. Der Afrikaner Frederic Otomo gehört zu den ständigen Gefährten des Pechs: Irgendwann aus einem afrikanischen Gefängnis entkommen, hat er in Deutschland nur eine Duldungsbescheinigung und damit weder Arbeit noch Bleibe gefunden. An einem Herbstmorgen kehrt er dem kirchlichen Heim, das ihm Obdach bot, den Rücken. Offenbar will er die Stadt verlassen, wenn er nur vorher noch ein paar Mark verdienen kann. Die Statur, wie sie auf dem Bau geschätzt wird, hat der Vierzigjährige, aber wieder fehlen die Papiere.
In der Straßenbahn passiert es dann: In der Meinung, einen gültigen Fahrschein zu besitzen, stößt er einen übereifrigen Kontrolleur gewaltsam zur Seite, flüchtet und gerät auf die Fahndungsliste der Polizei. In einer Kneipe bekommt er ein Frühstück, an einem Uferstreifen zwingt er eine Frau mit ihrem Enkelkind, ihn mit nach Hause zu nehmen und mit Geld zu versorgen. Der Afrikaner (Isaach de Bankolé) bedrängt die Frau (Eva Mattes) mehr mit seinem enervierten Blick als mit Gewalt, aber was nützt es ihm. Ein Streifenwagen parkt bereits vor dem Haus. Auf einer Brücke stellen die zwei jungen Beamten, für die endlich einmal etwas los ist, den "Neger". In panischer Angst zieht Otomo ein langes Messer, ersticht sie und wird niedergeschossen.
Frieder Schlaich hat sich diese Geschichte nicht ausgedacht, sie ist in seiner Heimatstadt Stuttgart im August 1989 passiert. Nur die Begegnung mit der aus Berlin zu Besuch gekommenen jungen Großmutter haben Schlaich und sein Autor Klaus Pohl erfunden. Hier, in der gewöhnlich eingerichteten Wohnung und auf tristen Plätzen im Stuttgarter Osten, kommt eine kinematografische Atmosphäre auf. Zwei ebenbürtige Darsteller begegnen einander, mancher Zuschauer mag an Fassbinders "Angst essen Seele auf" und das von Brigitte Mira und El Hedi Ben Salem gespielte ungleiche Paar denken. Aber Eva Mattes und Isaach de Bankolé wissen zwar miteinander umzugehen, allein es fehlen ihnen die Rollen, um hinter dem Augenblick auch die Spannung eines ganzen Lebens ahnen zu lassen.
Ursprünglich wollte Schlaich, der sich mit Dokumentarfilmen einen Namen gemacht hat, den Mordfall authentisch rekonstruieren und die Stimmung beleuchten, die damals in Stuttgart herrschte. In den Fernsehaufnahmen von der Beerdigung der Polizisten, Tausende Menschen säumten den Zug, am Schluss seines Films ist dieses Konzept noch spürbar. Die spärliche Trauergemeinde für den Kameruner musste er freilich erfinden. Kaum jemand wollte seinerzeit an die Notlage des Asylbewerbers denken, und als der Oberbürgermeister zur Besonnenheit aufrief, schlug ihm, berichtet das Programmheft zum Film, "eine Welle des Hasses" entgegen. Erst Jahre später durfte der Regisseur Einblick in die Polizeiakten nehmen, da hatte er bereits den Dramatiker Pohl als Autor gewonnen.
Als ein hartnäckiger Dokumentarist hat sich Schlaich damit nicht erwiesen, sondern als jemand, der gern auf dem Seil balanciert. Da kann man leicht nach einer Seite abstürzen. Das Wichtige und Aufregende liegt jenseits der korrekt inszenierten, eindeutigen Episoden: der triste Alltag von Polizeibeamten, die in der Routine des Streifendienstes gern einmal einen echten Fall anpacken, das Umhergetriebensein des rastlosen Fremden, der überhaupt auf der Welt kaum noch einen Platz für sich sieht, die unausgefüllte, hier gänzlich erfundene Großmutter, die kein Aktienfieber packen wird, weil sie den Wohlstandsversprechungen früh schon misstrauen lernte. Der Film sammelt Befunde, um sie in Kunst zu verwandeln, aneinander gereihte Fingerzeige, deren moralischem Gestus der gutwillige Zuschauer gern zustimmt, ohne dass er ergriffen oder gar erschüttert wäre.
Dabei könnte der Film ein Fresko zeitgenössischer Schicksale sein, wie man es seit Fassbinder nicht mehr gesehen hat: der raue Humor auf der Polizeiwache, die Irritation des Heimleiters über die von weither getriebenen Menschen, die ihm täglich über die Schwelle kommen, und - die beste, weil konsequent dokumentarische Episode - der frierende Trupp der Arbeitsuchenden am Morgen vor einem Büro, wo sie taxiert, genommen oder wieder hinausgeschoben werden. Kein Schauspieler kann diese Gesichter nachahmen, Namenlose, Strandgut, sozialer Urgrund der Gesellschaft, Schreckbilder für den Arrivierten und zugleich jenes "Volk", vor dessen Gestalten einst Künstler wie Gerhart Hauptmann oder Ernst Barlach wie gebannt stehen blieben. Auch um dieser Szenen willen, selten geworden im deutschen Film, lohnt "Otomo" den Besuch.
HANS-JÖRG ROTHER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main