Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2000Rhythmisch
Im Kino und am Klavier: Der Australier Percy Grainger
Ein Film, der sich einen Musiker zur Hauptperson wählt, kommt ohne Musik nicht aus. "Extreme Leidenschaft", die Biographie des in den letzten Jahren wiederentdeckten australischen Pianisten und Komponisten, Exzentrikers, Erfinders neuer Instrumente und Folkloresammlers, des bekennenden Rassisten, Fitneßfanatikers, Modedesigners - mit Vorliebe trug er Shorts aus australischen Handtüchern - und Flagellanten Percy Grainger (1882 bis 1961), hat besonders starke Momente, wenn kein Ton klingt, kein Wort zu hören ist. Wenn die Kamera in die Gesichter schaut, Mienenspiele erforscht, immer wieder Neues entdeckt: bei Grainger (brillant als Zerrissener, dem Vorbild frappierend nahe: Richard Roxburgh), seiner Mutter Rose (Barbara Hershey), der die Syphilis das Antlitz zerfrißt, seiner jungen Geliebten Karen (Emily Woof), die an der Liebe zu ihm zu zerbrechen droht, den Freunden und Triopartnern Alfhild und Herman.
Doch die stärksten Momente hat dieser Film in zwei Szenen, da das Mienenspiel der Musiker die Musik illustriert - und umgekehrt. Die erste steht am Anfang und zeigt das Trio bei einem Konzert vor dänischem Adel. Über der Musik, jäh und unmittelbar, liegen die Blicke der Interpreten, und sie fassen zusammen, was der Zuschauer schon weiß: Percy behauptet Alfhild zu lieben, doch Alfhild wird Herman heiraten, und Herman weiß, daß Percy Alfhild nachstellt, und er ahnt wohl auch, daß sie, halb geschmeichelt, halb gereizt, immerhin Percys Drängen fast nachgegeben hätte - womöglich wird sie es ja noch tun.
Die andere Schlüsselmusik steht am Ende. Grainger spielt Grieg, mit dem er befreundet war, den er bewunderte, was ihn nicht davon abhielt, bei manch anderer Gelegenheit seinen Abscheu über das Romantische an sich auszustoßen - im Menschen und in der Musik. Er spielt Griegs Klavierkonzert, Apotheose allerromantischster Stellen. Hier sind es die Finalpassagen des ersten und dritten Satzes. Das ist dramaturgisch naheliegend, nicht unbedingt originell. Zum Meisterwerk wird die Szene durch ihre mannigfaltigen Brechungen. Auch hier ist die Musik vor allem Klangspiegel von Gefühlen, längst außer Kontrolle: In virtuosen Parallelmontagen sieht man Grainger am Flügel, seine Geliebte, die das Ende ihrer gemeinsamen bizarren Liebesgeschichte kommen sieht, im Publikum, und man sieht Rose daheim, wie sie in seinen Sachen wühlt und Fotos findet, die Percys und Karens von Peitschenstriemen gemusterte nackte Körper zeigen - Denkmäler wie griechische Statuen voller Lust am Schmerz. Dazu hört man seine Stimme, die einen letzten Brief an Karen formuliert. Er könne sie nicht heiraten, nie und nimmer, er sei ein kleiner Junge und ein schlechter Mensch. Und er gehöre seiner Mutter, auf immer und ewig.
Percy Graingers Leben und Werk hätten zahlreiche Ansätze für eine Filmbiographie gegeben. Der australische Schriftsteller Don Watson und der Regisseur Peter Duncan thematisieren vor allem den Sexus. Und sie beschränken sich auf den Zeitraum eines Jahres in London, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Doch es ist keine spekulative, keine anstößige, noch nicht einmal eine indiskrete Filmerzählung. Auch die nackte Haut ist hier eher Projektionsfläche von Musik. Rhythmus sei der wichtigste Instinkt im Leben, doziert Grainger einmal, nie dürfe die Musik den Rhythmus verlieren - und im übrigen denke er recht viel an Sex. Auch sein bizarrer Hang zur körperlichen Selbstzerstörung wird eher dezent illustriert. Bei einem Spaziergang im Park sieht man englische Soldaten einen Bajonettangriff üben, dann entdeckt Graingers Mutter zufällig die Striemen auf Karens Rücken. Als Echo klingt Percys Bemerkung über den nächsten Krieg nach: Da es keine wirklichen Krieger mehr gebe wie zur Zeit der Schlacht von Hastings, deren Schilderung ihn als kleinen Jungen tief beeindruckte, werde es ein Gemetzel sein zwischen freudlosen Männern.
Graingers Beziehung zu seiner Mutter hat die Mit- und auch die Nachwelt zu Spekulationen veranlaßt. Immer wieder war die Rede von einem inzestuösen Verhältnis. Der Film gibt keine Antworten, bleibt verhalten in seinen Vermutungen. Einmal sieht man Percy und Rose wie ein Liebespaar im Bett, die Gesichter aneinandergeschmiegt. Am Ende steht ein eingeblendeter Schriftzug: 1922 sprang Rose vom Dach eines New Yorker Gebäudes in den Tod, Percy heiratete und verfolgte seine musikalische Karriere. Am Anfang des Films sieht man ihn auf einem Bahnhof in Australien, am Ende steigt er in einen anderen Zug, um nach Amerika aufzubrechen. Der Film macht neugierig auf sein früheres und weiteres Leben und seine Musik.
ANDREAS OBST
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Kino und am Klavier: Der Australier Percy Grainger
Ein Film, der sich einen Musiker zur Hauptperson wählt, kommt ohne Musik nicht aus. "Extreme Leidenschaft", die Biographie des in den letzten Jahren wiederentdeckten australischen Pianisten und Komponisten, Exzentrikers, Erfinders neuer Instrumente und Folkloresammlers, des bekennenden Rassisten, Fitneßfanatikers, Modedesigners - mit Vorliebe trug er Shorts aus australischen Handtüchern - und Flagellanten Percy Grainger (1882 bis 1961), hat besonders starke Momente, wenn kein Ton klingt, kein Wort zu hören ist. Wenn die Kamera in die Gesichter schaut, Mienenspiele erforscht, immer wieder Neues entdeckt: bei Grainger (brillant als Zerrissener, dem Vorbild frappierend nahe: Richard Roxburgh), seiner Mutter Rose (Barbara Hershey), der die Syphilis das Antlitz zerfrißt, seiner jungen Geliebten Karen (Emily Woof), die an der Liebe zu ihm zu zerbrechen droht, den Freunden und Triopartnern Alfhild und Herman.
Doch die stärksten Momente hat dieser Film in zwei Szenen, da das Mienenspiel der Musiker die Musik illustriert - und umgekehrt. Die erste steht am Anfang und zeigt das Trio bei einem Konzert vor dänischem Adel. Über der Musik, jäh und unmittelbar, liegen die Blicke der Interpreten, und sie fassen zusammen, was der Zuschauer schon weiß: Percy behauptet Alfhild zu lieben, doch Alfhild wird Herman heiraten, und Herman weiß, daß Percy Alfhild nachstellt, und er ahnt wohl auch, daß sie, halb geschmeichelt, halb gereizt, immerhin Percys Drängen fast nachgegeben hätte - womöglich wird sie es ja noch tun.
Die andere Schlüsselmusik steht am Ende. Grainger spielt Grieg, mit dem er befreundet war, den er bewunderte, was ihn nicht davon abhielt, bei manch anderer Gelegenheit seinen Abscheu über das Romantische an sich auszustoßen - im Menschen und in der Musik. Er spielt Griegs Klavierkonzert, Apotheose allerromantischster Stellen. Hier sind es die Finalpassagen des ersten und dritten Satzes. Das ist dramaturgisch naheliegend, nicht unbedingt originell. Zum Meisterwerk wird die Szene durch ihre mannigfaltigen Brechungen. Auch hier ist die Musik vor allem Klangspiegel von Gefühlen, längst außer Kontrolle: In virtuosen Parallelmontagen sieht man Grainger am Flügel, seine Geliebte, die das Ende ihrer gemeinsamen bizarren Liebesgeschichte kommen sieht, im Publikum, und man sieht Rose daheim, wie sie in seinen Sachen wühlt und Fotos findet, die Percys und Karens von Peitschenstriemen gemusterte nackte Körper zeigen - Denkmäler wie griechische Statuen voller Lust am Schmerz. Dazu hört man seine Stimme, die einen letzten Brief an Karen formuliert. Er könne sie nicht heiraten, nie und nimmer, er sei ein kleiner Junge und ein schlechter Mensch. Und er gehöre seiner Mutter, auf immer und ewig.
Percy Graingers Leben und Werk hätten zahlreiche Ansätze für eine Filmbiographie gegeben. Der australische Schriftsteller Don Watson und der Regisseur Peter Duncan thematisieren vor allem den Sexus. Und sie beschränken sich auf den Zeitraum eines Jahres in London, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Doch es ist keine spekulative, keine anstößige, noch nicht einmal eine indiskrete Filmerzählung. Auch die nackte Haut ist hier eher Projektionsfläche von Musik. Rhythmus sei der wichtigste Instinkt im Leben, doziert Grainger einmal, nie dürfe die Musik den Rhythmus verlieren - und im übrigen denke er recht viel an Sex. Auch sein bizarrer Hang zur körperlichen Selbstzerstörung wird eher dezent illustriert. Bei einem Spaziergang im Park sieht man englische Soldaten einen Bajonettangriff üben, dann entdeckt Graingers Mutter zufällig die Striemen auf Karens Rücken. Als Echo klingt Percys Bemerkung über den nächsten Krieg nach: Da es keine wirklichen Krieger mehr gebe wie zur Zeit der Schlacht von Hastings, deren Schilderung ihn als kleinen Jungen tief beeindruckte, werde es ein Gemetzel sein zwischen freudlosen Männern.
Graingers Beziehung zu seiner Mutter hat die Mit- und auch die Nachwelt zu Spekulationen veranlaßt. Immer wieder war die Rede von einem inzestuösen Verhältnis. Der Film gibt keine Antworten, bleibt verhalten in seinen Vermutungen. Einmal sieht man Percy und Rose wie ein Liebespaar im Bett, die Gesichter aneinandergeschmiegt. Am Ende steht ein eingeblendeter Schriftzug: 1922 sprang Rose vom Dach eines New Yorker Gebäudes in den Tod, Percy heiratete und verfolgte seine musikalische Karriere. Am Anfang des Films sieht man ihn auf einem Bahnhof in Australien, am Ende steigt er in einen anderen Zug, um nach Amerika aufzubrechen. Der Film macht neugierig auf sein früheres und weiteres Leben und seine Musik.
ANDREAS OBST
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main