Hirayama scheint vollauf zufrieden mit seinem einfachen Leben als Toilettenreiniger in Tokio. Außerhalb seines sehr strukturierten Alltags genießt er seine Leidenschaft für Musik und für Bücher. Und er liebt Bäume und fotografiert sie. Eine Reihe von unerwarteten Begegnungen enthüllt nach und nach mehr von seiner Vergangenheit.
Frankfurter Allgemeine ZeitungDer Mann und die Bäume
"Perfect Days", der neue Film von Wim Wenders, erzählt von einem Toilettenreiniger in Tokio - und von den Ritualen und kleinen Fluchten eines geglückten Lebens.
Hirayama steht im Morgengrauen auf. Er wäscht sich, putzt seine Zähne, gießt die Baumsetzlinge, die er im Wohnzimmer züchtet, zieht einen blauen Overall mit der Aufschrift "The Tokyo Toilet" an, tritt vor die Tür und blickt in den Himmel. Er lächelt. Dann zieht er sich einen Fertigkaffee aus dem Getränkeautomaten, steigt in seinen Minivan und fährt los, um die öffentlichen Toilettenanlagen im Tokioter Stadtteil Shibuya zu reinigen.
Die Anlagen stammen von Architekten wie Tadao Ando, Toyo Ito und Kengo Kuma, den Berühmtheiten ihrer Branche, und ein paar ausländischen Gästen; und sie waren der Auslöser für diesen Film. Vor zwei Jahren bekam der Regisseur Wim Wenders einen Brief aus Tokio mit dem Angebot, vier dokumentarische Kurzfilme über das Toilettenprojekt zu drehen. Wenders ist in Japan ebenso bekannt wie hierzulande: Mit "Tokyo-Ga" und "Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten" hat er zwei Hommagen an die japanische Kultur gedreht, die eine als Verbeugung vor seinem Vorbild Yasujiro Ozu, die andere als Porträt des Modemachers Yoji Yamamoto. Nachdem er die "Toilettentempel" (Wenders) gesehen hatte, machte er seinen Partnern einen Gegenvorschlag: Anstelle von vier Dokumentationen wollte er einen Spielfilm drehen, in sechzehn Drehtagen, mit minimalem Aufwand und kleiner Besetzung. So entstand "Perfect Days".
Ein Toilettenmann also. Und ein Mann der Bäume. Die Setzlinge in seinem Wohnzimmer gräbt Hirayama am Fuß mächtiger Baumstämme in einem Park aus, in dem er sein Mittagsbrot isst. Dann holt er seinen Fotoapparat aus der Tasche und fotografiert das Sonnenlicht zwischen den Blättern, für das es, wie man im Abspann des Films erfährt, im Japanischen ein eigenes Wort gibt: "Komorebi". Nachts träumt er von diesem Licht, von Schriftzeichen, Linienmustern und einer Kinderhand in der Hand eines Mannes. "Aufzeichnungen zu Bäumen und Städten", so könnte "Perfect Days" auch heißen.
Denn wie so oft bei Wenders spielt die Stadt eine Hauptrolle der Geschichte. Das Viertel, in dem Hirayama lebt, wird von der stählernen Nadel des Tokioter Fernsehturms dominiert, der passenderweise "Skytree" heißt. Den nahe gelegenen Fluss Sumida überquert der Toilettenreiniger auf seinem Fahrrad, wenn er an seinem freien Tag zum Fotoladen fährt, und über die innerstädtischen Autobahnen 1 und 3 erreicht er die Gegend, in der die Anlagen von "Tokyo Toilet" stehen. Orte, schreibt Wenders im Presseheft zu "Perfect Days", seien in Fiktionen besser aufgehoben als in dokumentarischen Formen. Deshalb habe er seinerzeit auch Berlin zum Schauplatz einer Engelsgeschichte gemacht.
Hirayama ist einer jener Alltagshelden, die dem Engel Damiel in "Der Himmel über Berlin" Lust auf ein Menschendasein gemacht haben. Er hat erreicht, wonach sich alle Männerfiguren bei Wim Wenders sehnen: Er ist angekommen in der Welt. Dass hinter seinen täglichen Ritualen, seinem Reinigungsjob und seinen Komorebi-Fotografien ein Scheitern und ein frühes Trauma stecken, deuten Wenders und sein japanischer Ko-Autor Takuma Takasaki nur beiläufig an, in einer Episode, die wie eine Geschichte in der Geschichte wirkt. Da bekommt Hirayama Besuch von seiner Nichte, die von zu Hause ausgerissen ist, sie übernachtet bei ihm, hilft ihm bei seiner Arbeit und begleitet ihn auf dem Fahrrad, bis ihre Mutter, Hirayamas Schwester, sie wieder abholt. Beim Abschied erzählt sie Hirayama, dass der Vater der beiden dement sei und nicht mehr imstande, seine Kinder zu schlagen. Mehr nicht. Aber das genügt, um ins stille Wasser dieses Films einen Kiesel zu werfen. Als der Wagen mit der Nichte weggefahren ist, weint Hirayama. Dann kehrt er in sein Haus zurück.
Was sonst in "Perfect Days" passiert, würde in Hollywood den Tatbestand der Erzählverweigerung erfüllen. Man sieht Toilettenanlagen, runde, eckige, lamellen- und zeltförmige, manche aus Stein, andere aus Holz und eine aus Glas, das auf Knopfdruck intransparent wird. Dazu einen Arbeitskollegen, der sich über Hirayamas Putzfleiß beschwert, dann seinen Minivan ausleiht und sich schließlich Geld bei ihm pumpt, um eine launische Freundin auszuführen. Die Freundin aber hört lieber Hirayamas Patti-Smith-Kassette in dem uralten Autoradioplayer, der zu den Anachronismen des Films gehört. Ein anderer ist der Laden, in dem sich Hirayama mit gebrauchten Büchern eindeckt, mal mit Faulkner, mal mit Patricia Highsmith oder mit Prosastücken der Tokioter Schriftstellerin Koda Aya. Oder Hirayamas Stammkneipe, in der eine Wirtin namens Mama den Animals-Klassiker "House of the Rising Sun" auf Japanisch singt.
Allmählich aber wird hinter den vielen Einzelheiten so etwas wie eine Strategie spürbar - oder besser: eine Stimmung, ein Rhythmus, ein Flow. Denn natürlich ist "Perfect Days" kein Film über einen Toilettenreiniger. Es ist ein Film über das Glück: darüber, wie man es festhalten, und darüber, wie man es verlieren kann. Deshalb kommt die traurigste Episode erst ganz am Schluss. Sie handelt davon, wie Hirayama am Flussufer einem todkranken Mann begegnet und in dessen Schicksal sein eigenes gespiegelt sieht. Aber statt die beiden zusammen jammern zu lassen, bringt der Film sie in Bewegung. Sie spielen Schattenfangen. Sie lachen. Sie rauchen. Sie trinken. So geht die Nacht vorbei, die einzige, die man sieht in dieser Geschichte der perfekten Tage, die auf den ersten Blick eine Gelegenheitsarbeit, in Wahrheit aber ein Hauptwerk des großen Filmregisseurs Wim Wenders ist. ANDREAS KILB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Perfect Days", der neue Film von Wim Wenders, erzählt von einem Toilettenreiniger in Tokio - und von den Ritualen und kleinen Fluchten eines geglückten Lebens.
Hirayama steht im Morgengrauen auf. Er wäscht sich, putzt seine Zähne, gießt die Baumsetzlinge, die er im Wohnzimmer züchtet, zieht einen blauen Overall mit der Aufschrift "The Tokyo Toilet" an, tritt vor die Tür und blickt in den Himmel. Er lächelt. Dann zieht er sich einen Fertigkaffee aus dem Getränkeautomaten, steigt in seinen Minivan und fährt los, um die öffentlichen Toilettenanlagen im Tokioter Stadtteil Shibuya zu reinigen.
Die Anlagen stammen von Architekten wie Tadao Ando, Toyo Ito und Kengo Kuma, den Berühmtheiten ihrer Branche, und ein paar ausländischen Gästen; und sie waren der Auslöser für diesen Film. Vor zwei Jahren bekam der Regisseur Wim Wenders einen Brief aus Tokio mit dem Angebot, vier dokumentarische Kurzfilme über das Toilettenprojekt zu drehen. Wenders ist in Japan ebenso bekannt wie hierzulande: Mit "Tokyo-Ga" und "Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten" hat er zwei Hommagen an die japanische Kultur gedreht, die eine als Verbeugung vor seinem Vorbild Yasujiro Ozu, die andere als Porträt des Modemachers Yoji Yamamoto. Nachdem er die "Toilettentempel" (Wenders) gesehen hatte, machte er seinen Partnern einen Gegenvorschlag: Anstelle von vier Dokumentationen wollte er einen Spielfilm drehen, in sechzehn Drehtagen, mit minimalem Aufwand und kleiner Besetzung. So entstand "Perfect Days".
Ein Toilettenmann also. Und ein Mann der Bäume. Die Setzlinge in seinem Wohnzimmer gräbt Hirayama am Fuß mächtiger Baumstämme in einem Park aus, in dem er sein Mittagsbrot isst. Dann holt er seinen Fotoapparat aus der Tasche und fotografiert das Sonnenlicht zwischen den Blättern, für das es, wie man im Abspann des Films erfährt, im Japanischen ein eigenes Wort gibt: "Komorebi". Nachts träumt er von diesem Licht, von Schriftzeichen, Linienmustern und einer Kinderhand in der Hand eines Mannes. "Aufzeichnungen zu Bäumen und Städten", so könnte "Perfect Days" auch heißen.
Denn wie so oft bei Wenders spielt die Stadt eine Hauptrolle der Geschichte. Das Viertel, in dem Hirayama lebt, wird von der stählernen Nadel des Tokioter Fernsehturms dominiert, der passenderweise "Skytree" heißt. Den nahe gelegenen Fluss Sumida überquert der Toilettenreiniger auf seinem Fahrrad, wenn er an seinem freien Tag zum Fotoladen fährt, und über die innerstädtischen Autobahnen 1 und 3 erreicht er die Gegend, in der die Anlagen von "Tokyo Toilet" stehen. Orte, schreibt Wenders im Presseheft zu "Perfect Days", seien in Fiktionen besser aufgehoben als in dokumentarischen Formen. Deshalb habe er seinerzeit auch Berlin zum Schauplatz einer Engelsgeschichte gemacht.
Hirayama ist einer jener Alltagshelden, die dem Engel Damiel in "Der Himmel über Berlin" Lust auf ein Menschendasein gemacht haben. Er hat erreicht, wonach sich alle Männerfiguren bei Wim Wenders sehnen: Er ist angekommen in der Welt. Dass hinter seinen täglichen Ritualen, seinem Reinigungsjob und seinen Komorebi-Fotografien ein Scheitern und ein frühes Trauma stecken, deuten Wenders und sein japanischer Ko-Autor Takuma Takasaki nur beiläufig an, in einer Episode, die wie eine Geschichte in der Geschichte wirkt. Da bekommt Hirayama Besuch von seiner Nichte, die von zu Hause ausgerissen ist, sie übernachtet bei ihm, hilft ihm bei seiner Arbeit und begleitet ihn auf dem Fahrrad, bis ihre Mutter, Hirayamas Schwester, sie wieder abholt. Beim Abschied erzählt sie Hirayama, dass der Vater der beiden dement sei und nicht mehr imstande, seine Kinder zu schlagen. Mehr nicht. Aber das genügt, um ins stille Wasser dieses Films einen Kiesel zu werfen. Als der Wagen mit der Nichte weggefahren ist, weint Hirayama. Dann kehrt er in sein Haus zurück.
Was sonst in "Perfect Days" passiert, würde in Hollywood den Tatbestand der Erzählverweigerung erfüllen. Man sieht Toilettenanlagen, runde, eckige, lamellen- und zeltförmige, manche aus Stein, andere aus Holz und eine aus Glas, das auf Knopfdruck intransparent wird. Dazu einen Arbeitskollegen, der sich über Hirayamas Putzfleiß beschwert, dann seinen Minivan ausleiht und sich schließlich Geld bei ihm pumpt, um eine launische Freundin auszuführen. Die Freundin aber hört lieber Hirayamas Patti-Smith-Kassette in dem uralten Autoradioplayer, der zu den Anachronismen des Films gehört. Ein anderer ist der Laden, in dem sich Hirayama mit gebrauchten Büchern eindeckt, mal mit Faulkner, mal mit Patricia Highsmith oder mit Prosastücken der Tokioter Schriftstellerin Koda Aya. Oder Hirayamas Stammkneipe, in der eine Wirtin namens Mama den Animals-Klassiker "House of the Rising Sun" auf Japanisch singt.
Allmählich aber wird hinter den vielen Einzelheiten so etwas wie eine Strategie spürbar - oder besser: eine Stimmung, ein Rhythmus, ein Flow. Denn natürlich ist "Perfect Days" kein Film über einen Toilettenreiniger. Es ist ein Film über das Glück: darüber, wie man es festhalten, und darüber, wie man es verlieren kann. Deshalb kommt die traurigste Episode erst ganz am Schluss. Sie handelt davon, wie Hirayama am Flussufer einem todkranken Mann begegnet und in dessen Schicksal sein eigenes gespiegelt sieht. Aber statt die beiden zusammen jammern zu lassen, bringt der Film sie in Bewegung. Sie spielen Schattenfangen. Sie lachen. Sie rauchen. Sie trinken. So geht die Nacht vorbei, die einzige, die man sieht in dieser Geschichte der perfekten Tage, die auf den ersten Blick eine Gelegenheitsarbeit, in Wahrheit aber ein Hauptwerk des großen Filmregisseurs Wim Wenders ist. ANDREAS KILB
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