Der Schriftsteller, Filmemacher und Produzent Alexander Kluge ist ein Großmeister der deutschen Kinogeschichte: Geschult an der Nouvelle Vague attackierte der Wortführer des „Neuen deutschen Films“ („Papas Kino ist tot“) in den frühen Sechzigern mit seinen Filmen den Mief der Ufa-Ästhetik. Beinahe über Nacht wurde aus dem Pionier der Gegenöffentlichkeit ein international gefeierter Festivalbeiträger. „Angesichts des gesellschaftskritischen Intellektuellen vergisst man leicht, wie schön die Bilder sind, die dieser Regisseur entworfen hat. Und welche Zärtlichkeit darin steckt. Da ist das Kind, das sich die Nase an einer Fensterscheibe platt drückt am Anfang von ‚Gelegenheitsarbeit einer Sklavin’, da sind die Nahaufnahmen der Schwester Alexandra Kluge in den frühen Filmen und die knubbligen kleinen Raumschiffe -- Pappe? Töpfe? Tupperware? --, die in den Science-Fiction-Szenarien durch glitzernde Sternhaufen düsen: Aufnahmen in einem frappierenden, entrückten Schwarz-Weiß, die über das sozial Konkrete hinausgehen“, schreibt Die Zeit bewundernd über Kluges große Filme. Bis heute machen seine Kinofilme international Furore; neuerdings sind es Kürzestkinofilme, oft kaum länger als eine Minute (der jüngste stammt von 2007). Hierzulandse sind sie nur selten zu sehen: In unserer Werkedition stehen sie gleichberechtigt neben den abendfüllenden Filmen. Die eingebauten Stilbrüche, durch die Kluge den Strom der Bilder aufhebt, die lakonischen Sequenzen, aus denen er seine Geschichten zusammenbaut, setzen den Impuls frei, das Gesehene zu fragmentieren und neu zu arrangieren. Jeder sieht seinen eigenen Film. Dieser sprichwörtliche Kluge-Effekt kommt jetzt auf DVD noch stärker zum Zug, da der eine Film endlich dort anfangen kann, wo der andere aufhört. Ein Kurzfilm, der einen Spielfilm fortsetzt. Ein Minutenfilm, in dem drei Langfilme zu einem Plot zusammenschießen. Unsere Edition in Zusamnmenarbeit mit dem Goethe-Institut und der Edition Filmmuseum versammelt das komplette kinematografische Werk von 57 Filmen: Alle Kinofilme dazu Kurz- und Kürzestfilme, Trailer, Dokumentationen und Interviews. Die meisten Filme gibt es erstmals überhaupt auf DVD: • DVD 1 Abschied von gestern / Nachricht vom Filmfestival in Venedig / Brutalität in Stein / Ein Liebesversuch • DVD 2 Gelegenheitsarbeit einer Sklavin / Lehrer im Wandel • DVD 3 Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos / Hinrichtung eines Elefanten • DVD 4 Die unbezähmbare Leni Peickert / Reformzirkus • DVD 5 Der große Verhau / Triebwerkhusten • DVD 6 Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte / Der Tag ist nah / Raumfahrt als inneres Erlebnis • DVD 7 In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg der Tod / Porträt einer Bewährung • DVD 8 Der starke Ferdinand / Ich war Hitlers Bodyguard • DVD 9 Deutschland im Herbst / Nachrichten von den Staufern • DVD 10 Die Patriotin / Die Menschen, die das Staufer-Jahr vorbereiten • DVD 11 Der Kandidat / Große Reiche muss man leiten wie man kleine Fischlein brät • DVD 12 Krieg und Frieden / Auf der Suche nach einer praktisch-realistischen Haltung • DVD 13 Die Macht der Gefühle /Feuerlöscher Winterstein • DVD 14 Serpentine Gallery Programm / Rennen / Protokoll einer Revolution • DVD 15 Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit / Blinde Liebe. Interview mit Godard / 16 Minutenfilme • DVD 16 Vermischte Nachrichten / Frau Blackburn wird gefilmt / Ein Arzt aus Halberstadt / Besitzbürgerin, Jahrgang 1908 • Bonus-DVD: Am Computer lesbare Textarchive enthalten Entwürfe, Textlisten, Aufsätze, Erzählungen und ganze Bücher von Alexander Kluge, darunter „Die Patriotin“ und „Die Macht der Gefühle“, die bei Zweitausendeins vor über 20 Jahren erschienen sind. • Mit Beibuch: „Neonröhren des Himmels. Ein Filmalbum“ von Alexander Kluge und Martin Weinmann. 116 Seiten. Fadenheftung. Fester Einband.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2013Arbeiten am Rand der Ewigkeit
Ein Triptychon von Tod und Leben: Thomas Heises Dokumentarfilm "Gegenwart"
Ofenreparaturen haben im ostdeutschen Dokumentarfilm eine heroische Tradition. 1962 feierte Jürgen Böttcher die Versetzung eines 2000-Tonnen-Ofens im Stahlwerk Eisenhüttenstadt als ein visuelles Ereignis von politischer Symbolkraft. Fünfzig Jahre nach "Ofenbauer" schaut Thomas Heise gespannt zu, wie ein Maurer in einen allerdings viel kleineren Ofen klettert und dort die schadhaften Schamottsteine durch neue ersetzt. Noch weiß der Zuschauer nicht, worauf der Film hinaus will. Nur das ständige Geräusch hochschlagender Gasflammen im Hintergrund lässt bald ahnen, welchen Ort Heise dieses Mal für ein paradigmatisches Bild der "Gegenwart", so der Titel, ausgesucht hat: ein mittelständisches Krematorium.
Dass es im Rheinland steht, erfährt man erst aus dem Abspann, und fürs Erste tut es nichts zur Sache. Die Sache, das sind die Särge, die angeliefert, zwischengelagert und auf ihre letzte Fahrt vorbereitet werden. Durch eine Sichtscheibe dürfen wir einen ersten Blick auf die gleißende Lohe werfen. Aber dann beschäftigen die Vorgänge in der Halle, wo vieles noch von Hand geschieht: das Hin- und Herschieben der teils rohen, teils polierten Särge, das Abhauen der Beschläge, die in den Schrott kommen. Ein älterer Mann, es ist der Besitzer des Familienbetriebs, inspiziert jeden Sarg, wirft einen prüfenden Blick auf den Toten und hebt, es muss so Vorschrift sein, einen Arm in die Höhe: "Ich grüße die Lebenden." Ein Umhang und Handschuhe schützen ihn vor dem Leichengift. Uns schützt sein breiter Rücken vor dem Anblick der Leiber, aus denen, wie man sagt, das Leben gewichen ist. Nur einmal streift der Blick der Kamera ein Stück fleckige Haut.
"Gegenwart" ist kein Lehrfilm über die Arbeit eines Krematoriums. Statt einem einzelnen Sarg von Anfang bis Ende, bis zum Verschließen der Urne mit der gemahlenen Asche darin, zu folgen, verfolgt die brillante Kamera von Robert Nickolaus das Nebeneinander der Vorgänge im Tag-und-Nacht-Betrieb. Das verhilft den Szenen zu ihrer Lebendigkeit, wenn man davon an diesem Ort sprechen kann. Signallampen und Zeitmesser geben über den Stand der Einäscherung Auskunft. Zwischen Papierstößen und Telefon werden Frühstücksbrote ausgepackt. Hin und wieder gibt es mal ein Lächeln oder eine Bemerkung zwischen den wenigen Kollegen. Lange, distanzierte Einstellungen bannen den Blick, der Schnitt verwehrt, dass eine falsche Andachtsstimmung aufkommt. Kein Wort der Erklärung fällt darüber, was den Regisseur ausgerechnet zwischen Weihnachten und Neujahr (im gleichen Zeitrahmen schuf Böttcher 1963 seinen zweiten Produktionsfilm im Eisenhüttenkombinat Ost) an diese Hadespforte geführt hat.
Bezüge sind viele möglich, wenn der Heiner-Müller-Schüler Heise der umgekippten Geschichtsperspektive nachschaut. Im Jahr 2011 hat er die Entwurzelung eines kleinen Indiostammes in Argentinien bedrängend vor Augen gestellt ("Sonnensystem"), 2012 den Papstbesuch in Thüringen als Sieg des Sicherheitsapparates über den Statthalter Petri ("Die Lage"). Beide Arbeiten liefen so gut wie nie im Kino. "Gegenwart" ist wie ein Triptychon gebaut. Im Schlussstück sind die Frohnaturen im rheinischen Karneval losgelassen. Über der per Zeitraffer verzerrten, aus dem Archiv geholten Tanzszene ertönt, aus voller Brust gesungen, Engelbert Humperdincks "Am Rhein, am köstlichen Rhein", eine historische Aufnahme von 1930. Am Anfang des Films aber stimmt, sanft und schön, das Brahms-Lied, "Die Blümelein, sie schlafen", mitten im Kriegsjahr 1943 von einem gemischten Chor gesungen, auf das Folgende ein. Dazu fixiert die Kamera eine schneebedeckte Wald- und Flurlandschaft, die menschenleer ist - noch einmal eine Metapher des Stillstands jenseits von Siegesmeldungen, Bilanzen und Hoffnung.
HANS-JÖRG ROTHER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Triptychon von Tod und Leben: Thomas Heises Dokumentarfilm "Gegenwart"
Ofenreparaturen haben im ostdeutschen Dokumentarfilm eine heroische Tradition. 1962 feierte Jürgen Böttcher die Versetzung eines 2000-Tonnen-Ofens im Stahlwerk Eisenhüttenstadt als ein visuelles Ereignis von politischer Symbolkraft. Fünfzig Jahre nach "Ofenbauer" schaut Thomas Heise gespannt zu, wie ein Maurer in einen allerdings viel kleineren Ofen klettert und dort die schadhaften Schamottsteine durch neue ersetzt. Noch weiß der Zuschauer nicht, worauf der Film hinaus will. Nur das ständige Geräusch hochschlagender Gasflammen im Hintergrund lässt bald ahnen, welchen Ort Heise dieses Mal für ein paradigmatisches Bild der "Gegenwart", so der Titel, ausgesucht hat: ein mittelständisches Krematorium.
Dass es im Rheinland steht, erfährt man erst aus dem Abspann, und fürs Erste tut es nichts zur Sache. Die Sache, das sind die Särge, die angeliefert, zwischengelagert und auf ihre letzte Fahrt vorbereitet werden. Durch eine Sichtscheibe dürfen wir einen ersten Blick auf die gleißende Lohe werfen. Aber dann beschäftigen die Vorgänge in der Halle, wo vieles noch von Hand geschieht: das Hin- und Herschieben der teils rohen, teils polierten Särge, das Abhauen der Beschläge, die in den Schrott kommen. Ein älterer Mann, es ist der Besitzer des Familienbetriebs, inspiziert jeden Sarg, wirft einen prüfenden Blick auf den Toten und hebt, es muss so Vorschrift sein, einen Arm in die Höhe: "Ich grüße die Lebenden." Ein Umhang und Handschuhe schützen ihn vor dem Leichengift. Uns schützt sein breiter Rücken vor dem Anblick der Leiber, aus denen, wie man sagt, das Leben gewichen ist. Nur einmal streift der Blick der Kamera ein Stück fleckige Haut.
"Gegenwart" ist kein Lehrfilm über die Arbeit eines Krematoriums. Statt einem einzelnen Sarg von Anfang bis Ende, bis zum Verschließen der Urne mit der gemahlenen Asche darin, zu folgen, verfolgt die brillante Kamera von Robert Nickolaus das Nebeneinander der Vorgänge im Tag-und-Nacht-Betrieb. Das verhilft den Szenen zu ihrer Lebendigkeit, wenn man davon an diesem Ort sprechen kann. Signallampen und Zeitmesser geben über den Stand der Einäscherung Auskunft. Zwischen Papierstößen und Telefon werden Frühstücksbrote ausgepackt. Hin und wieder gibt es mal ein Lächeln oder eine Bemerkung zwischen den wenigen Kollegen. Lange, distanzierte Einstellungen bannen den Blick, der Schnitt verwehrt, dass eine falsche Andachtsstimmung aufkommt. Kein Wort der Erklärung fällt darüber, was den Regisseur ausgerechnet zwischen Weihnachten und Neujahr (im gleichen Zeitrahmen schuf Böttcher 1963 seinen zweiten Produktionsfilm im Eisenhüttenkombinat Ost) an diese Hadespforte geführt hat.
Bezüge sind viele möglich, wenn der Heiner-Müller-Schüler Heise der umgekippten Geschichtsperspektive nachschaut. Im Jahr 2011 hat er die Entwurzelung eines kleinen Indiostammes in Argentinien bedrängend vor Augen gestellt ("Sonnensystem"), 2012 den Papstbesuch in Thüringen als Sieg des Sicherheitsapparates über den Statthalter Petri ("Die Lage"). Beide Arbeiten liefen so gut wie nie im Kino. "Gegenwart" ist wie ein Triptychon gebaut. Im Schlussstück sind die Frohnaturen im rheinischen Karneval losgelassen. Über der per Zeitraffer verzerrten, aus dem Archiv geholten Tanzszene ertönt, aus voller Brust gesungen, Engelbert Humperdincks "Am Rhein, am köstlichen Rhein", eine historische Aufnahme von 1930. Am Anfang des Films aber stimmt, sanft und schön, das Brahms-Lied, "Die Blümelein, sie schlafen", mitten im Kriegsjahr 1943 von einem gemischten Chor gesungen, auf das Folgende ein. Dazu fixiert die Kamera eine schneebedeckte Wald- und Flurlandschaft, die menschenleer ist - noch einmal eine Metapher des Stillstands jenseits von Siegesmeldungen, Bilanzen und Hoffnung.
HANS-JÖRG ROTHER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main