Als einer der jüngsten Bewohner zieht der geistig verwirrte Spider in ein freudloses, von Hausmeisterin Wilkinson mit eherner Hand geführtes Londoner Männerwohnheim. Von dort aus unternimmt der kettenrauchende, ständig Unverständliches vor sich hin murmelnde Spider lange Spaziergänge in die Umgebung. Dabei versinkt er immer tiefer in die Erinnerungen an seine Kindheit, die ein schreckliches Ende fand, als sein Vater die Mutter ermordete und dessen Geliebte immer mehr Aussehen und Wesenszüge der Getöteten übernahm.
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DVD-Ausstattung / Bonusmaterial: - Kinotrailer - Kapitel- / Szenenanwahl - Kommentare: Filmemacher - Filmdokumentationen - Filmografien - Web-LinkFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2002Am Ende der Umnachtung
David Cronenbergs Meisterwerk "Spider" in Cannes
CANNES, 21. Mai
Ein makellos strenges, tödlich ernstes, atemlos spannendes Meisterwerk ist David Cronenbergs "Spider". Wir sind in einer Beckett-Welt, in der die Wirklichkeit für jeden zur Einzelzelle wird. Graue Fassaden mit vermauerten Fenstern, schäbige Zimmer mit ausgebleichten Tapeten und die Rätselarchitektur eines riesigen Gasometers sind die Kulissen einer Tragödie, die sich im Bewußtsein eines Geistesgestörten ereignet. Nach seiner Kindheitsmarotte, sich aus Bindfäden Spinnennetze zu konstruieren, wurde er immer nur "Spider" (Spinne) genannt, und mittlerweile nennt er sich selber so. Über zwanzig Jahre war er in einer geschlossenen Anstalt, und nun hat man ihn in ein Männerheim entlassen, das ihm zwar äußerlich mehr Freiheit bietet, ihn seelisch aber endgültig in die Todeszelle des eigenen Bewußtseins sperrt. Denn das Heim liegt ausgerechnet in jener Gegend, wo sich die Tragödie seiner Kindheit abgespielt hat, und der auf die Spur zu kommen wird nun zum einzigen Lebensinhalt des Spinnenmannes.
Er sieht aus wie ein Clochard, schweigt vor sich hin oder flüstert andächtig und unbeholfen die Satzfetzen, die er aufgeschnappt hat und wie Kostbarkeiten in sein Tagebuch notiert. Seite um Seite füllt er mit unlesbaren Kritzeleien, die nichts weiter kommunizieren als sprachlose Einsamkeit. Mit manischer Beharrlichkeit drängen sich Rückblenden in die Gegenwart. Spider ist wie ein Unsichtbarer in seiner eigenen Vorgeschichte anwesend und schaut seiner Kindheit zu. Allmählich erfahren wir, was passierte. Der Rohling von Vater hat die Mutter ermordet und als Stiefmutter eine Prostituierte ins Haus geholt. Je tiefer Spider ins Labyrinth der eigenen Vergangenheit eindringt, desto schrecklicher wird die Gegenwart. Hat nicht plötzlich die böse Stiefmutter den Posten der Heimdirektorin übernommen und thront nun doch noch tyrannisch über seinem Leben? Er ist kurz davor, sie zu töten, als er erkennt, daß die Geschichte vom mordenden Vater seine Erfindung war, um die grauenhafte Realität zu kaschieren. Er selbst war es offenbar, der einst mit Hilfe seines künstlichen Spinnennetzes die Mutter umbrachte, um eine vermeintliche Kränkung zu rächen. Am Schluß landet Spider wieder in der Anstalt, aber das ist keineswegs das Schlimmste, was ihn erwartet. Die eigentliche Höllenstrafe besteht darin, daß er die Realität nackt gesehen hat und sich nun nichts mehr vormachen kann. Er ist verurteilt zu lebenslänglichem Fiktionsverbot.
Der Film beruht auf einem Roman von Patrick McGrath, und David Cronenberg hat mit einem kleinen, aber genialen Eingriff diesen makellosen Film ermöglicht. Im Roman nämlich vertraut Spider die ganze Geschichte seinem Tagebuch an, und dieses Tagebuch hat Cronenberg zum Schweigen gebracht, indem er es in ein sprachloses Bild verwandelte. Ein Stück Literatur wurde zur Erzählung für das Auge. "Spider" ist den Bewußtseinstragödien von David Lynch ebenbürtig, auch wenn es sich ästhetisch nur mit dessen Frühwerk "Eraserhead" berührt. Ralph Fiennes in der Hauptrolle macht den Zuschauer fassungslos, denn sein Spider ist weder einer von uns, noch ist er völlig anders als wir.
Ein strenges, wenngleich etwas sprödes Kunstwerk ist auch Manoel de Oliveiras Familiendrama "O princípio da incerteza" (Das Prinzip Unsicherheit). Im gehobenen Bürgertum Portugals vertauscht die Dienerin ihr Baby mit dem der Herrin, aber der Versuch, Schicksal zu spielen, macht alles nur noch schlimmer. Mit fast allen nimmt es ein böses Ende, nur die so unschuldig wirkende junge Frau mit dem Madonnengesicht bleibt übrig. Ausgerechnet sie darf es sich am Schluß auf den Familientrümmern teuflisch gemütlich machen. Oliveira hat, wie schon öfters, Konstellationen aus einer anderen Epoche skrupellos in die Gegenwart verlegt. Daß die Figuren und ihre Probleme uns dadurch fremd werden, stört ihn nicht. Er liebt es, wenn seine Menschen von einem anderen Planeten zu stammen scheinen und sich in Ritualen bewegen. Die Fremdheit im Leben ist ohnehin sein Lieblingsthema. Der portugiesische Regisseur, mittlerweile dreiundneunzig Jahre alt, war wieder leibhaftig nach Cannes gekommen und wurde als letzte lebende Legende des europäischen Films gebührend bestaunt.
"Etwas bizarr", das mußte Werner Schroeter einräumen, sei sein neuer Film durchaus. In der Tat ist "Deux" (Zwei), den das Konkurrenzfestival "Quinzaine des réalisateurs" zeigte, ein furchtloser Undergroundfilm, wie man schon lange keinen gesehen hat. Eine Handlung läßt sich nur ahnen. Hauptfiguren sind die einsame Mutter und die verzweifelt ihre Identität suchenden Zwillingstöchter, und das Schicksal kommt als Lustmörder daher. Wenn er der Mutter nach und nach die Eingeweide aus dem Leib holt (was selbstverständlich nur angedeutet wird), haben ein paar Dutzend Zuschauer endlich ihren Vorwand gefunden und verlassen das Kino. Haben sie Schroeters parodistischen Humor übersehen? Oder flüchten sie vor der Unverständlichkeit? "Aber warum müssen Bilder unbedingt verständlich sein?" fragte Schroeter polemisch in seiner Pressekonferenz, und recht hat er, die ganze Kunstgeschichte ist auf seiner Seite. Schroeters mutiges und einfallsreiches Filmpoem wird sein Publikum finden, zumal die Kamera von Elfi Mikesch ein Zauberlicht einfängt, das allein den Besuch lohnt, ganz zu schweigen vom bezaubernden Trio Isabelle Huppert, Bulle Ogier und Arielle Dombasle.
Viel Aufmerksamkeit fand im offiziellen Wettbewerbsprogramm naturgemäß die Anwesenheit eines palästinensischen Films. Elia Suleimans "Yaon Ilaheyya" (etwa: Göttliche Einmischung) macht keinen Hehl aus seinem politischen Standpunkt, aber er bringt das Kunststück zustande, einen humoristischen Blick durchzuhalten. Wir sehen eine palästinensische Liebesgeschichte: Er lebt in Jerusalem, sie in Ramallah, und treffen können sich die beiden nur auf einem Parkplatz im Niemandsland. Dort geht es zu wie im Slapstickfilm. Stur kontrollieren die israelischen Soldaten, und wenn plötzlich eine schöne Palästinenserin vorbeistöckelt, gerät ihre ganze Bürokratenwelt aus den Fugen, so daß vor lauter Schreck sogar der Wachtturm in sich zusammenfällt. Eindeutige Propaganda gibt es nur in einer fiktiven Trickszene, wo eine Araberin im Ninja-Trikot durch die Luft fliegt, die Kugeln an sich abprallen läßt und die wild um sich ballernden Israelis schließlich mit der Steinschleuder besiegt. Das ist David gegen Goliath, gewiß, hier aber in einer feministischen Variante, als Sieg des weiblichen Prinzips über die Welt der Männer. Das ist der eigentliche Witz des Films, daß er das schwergewichtige politische Problem mit so souveräner Leichtigkeit erotisiert.
WILFRIED WIEGAND
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
David Cronenbergs Meisterwerk "Spider" in Cannes
CANNES, 21. Mai
Ein makellos strenges, tödlich ernstes, atemlos spannendes Meisterwerk ist David Cronenbergs "Spider". Wir sind in einer Beckett-Welt, in der die Wirklichkeit für jeden zur Einzelzelle wird. Graue Fassaden mit vermauerten Fenstern, schäbige Zimmer mit ausgebleichten Tapeten und die Rätselarchitektur eines riesigen Gasometers sind die Kulissen einer Tragödie, die sich im Bewußtsein eines Geistesgestörten ereignet. Nach seiner Kindheitsmarotte, sich aus Bindfäden Spinnennetze zu konstruieren, wurde er immer nur "Spider" (Spinne) genannt, und mittlerweile nennt er sich selber so. Über zwanzig Jahre war er in einer geschlossenen Anstalt, und nun hat man ihn in ein Männerheim entlassen, das ihm zwar äußerlich mehr Freiheit bietet, ihn seelisch aber endgültig in die Todeszelle des eigenen Bewußtseins sperrt. Denn das Heim liegt ausgerechnet in jener Gegend, wo sich die Tragödie seiner Kindheit abgespielt hat, und der auf die Spur zu kommen wird nun zum einzigen Lebensinhalt des Spinnenmannes.
Er sieht aus wie ein Clochard, schweigt vor sich hin oder flüstert andächtig und unbeholfen die Satzfetzen, die er aufgeschnappt hat und wie Kostbarkeiten in sein Tagebuch notiert. Seite um Seite füllt er mit unlesbaren Kritzeleien, die nichts weiter kommunizieren als sprachlose Einsamkeit. Mit manischer Beharrlichkeit drängen sich Rückblenden in die Gegenwart. Spider ist wie ein Unsichtbarer in seiner eigenen Vorgeschichte anwesend und schaut seiner Kindheit zu. Allmählich erfahren wir, was passierte. Der Rohling von Vater hat die Mutter ermordet und als Stiefmutter eine Prostituierte ins Haus geholt. Je tiefer Spider ins Labyrinth der eigenen Vergangenheit eindringt, desto schrecklicher wird die Gegenwart. Hat nicht plötzlich die böse Stiefmutter den Posten der Heimdirektorin übernommen und thront nun doch noch tyrannisch über seinem Leben? Er ist kurz davor, sie zu töten, als er erkennt, daß die Geschichte vom mordenden Vater seine Erfindung war, um die grauenhafte Realität zu kaschieren. Er selbst war es offenbar, der einst mit Hilfe seines künstlichen Spinnennetzes die Mutter umbrachte, um eine vermeintliche Kränkung zu rächen. Am Schluß landet Spider wieder in der Anstalt, aber das ist keineswegs das Schlimmste, was ihn erwartet. Die eigentliche Höllenstrafe besteht darin, daß er die Realität nackt gesehen hat und sich nun nichts mehr vormachen kann. Er ist verurteilt zu lebenslänglichem Fiktionsverbot.
Der Film beruht auf einem Roman von Patrick McGrath, und David Cronenberg hat mit einem kleinen, aber genialen Eingriff diesen makellosen Film ermöglicht. Im Roman nämlich vertraut Spider die ganze Geschichte seinem Tagebuch an, und dieses Tagebuch hat Cronenberg zum Schweigen gebracht, indem er es in ein sprachloses Bild verwandelte. Ein Stück Literatur wurde zur Erzählung für das Auge. "Spider" ist den Bewußtseinstragödien von David Lynch ebenbürtig, auch wenn es sich ästhetisch nur mit dessen Frühwerk "Eraserhead" berührt. Ralph Fiennes in der Hauptrolle macht den Zuschauer fassungslos, denn sein Spider ist weder einer von uns, noch ist er völlig anders als wir.
Ein strenges, wenngleich etwas sprödes Kunstwerk ist auch Manoel de Oliveiras Familiendrama "O princípio da incerteza" (Das Prinzip Unsicherheit). Im gehobenen Bürgertum Portugals vertauscht die Dienerin ihr Baby mit dem der Herrin, aber der Versuch, Schicksal zu spielen, macht alles nur noch schlimmer. Mit fast allen nimmt es ein böses Ende, nur die so unschuldig wirkende junge Frau mit dem Madonnengesicht bleibt übrig. Ausgerechnet sie darf es sich am Schluß auf den Familientrümmern teuflisch gemütlich machen. Oliveira hat, wie schon öfters, Konstellationen aus einer anderen Epoche skrupellos in die Gegenwart verlegt. Daß die Figuren und ihre Probleme uns dadurch fremd werden, stört ihn nicht. Er liebt es, wenn seine Menschen von einem anderen Planeten zu stammen scheinen und sich in Ritualen bewegen. Die Fremdheit im Leben ist ohnehin sein Lieblingsthema. Der portugiesische Regisseur, mittlerweile dreiundneunzig Jahre alt, war wieder leibhaftig nach Cannes gekommen und wurde als letzte lebende Legende des europäischen Films gebührend bestaunt.
"Etwas bizarr", das mußte Werner Schroeter einräumen, sei sein neuer Film durchaus. In der Tat ist "Deux" (Zwei), den das Konkurrenzfestival "Quinzaine des réalisateurs" zeigte, ein furchtloser Undergroundfilm, wie man schon lange keinen gesehen hat. Eine Handlung läßt sich nur ahnen. Hauptfiguren sind die einsame Mutter und die verzweifelt ihre Identität suchenden Zwillingstöchter, und das Schicksal kommt als Lustmörder daher. Wenn er der Mutter nach und nach die Eingeweide aus dem Leib holt (was selbstverständlich nur angedeutet wird), haben ein paar Dutzend Zuschauer endlich ihren Vorwand gefunden und verlassen das Kino. Haben sie Schroeters parodistischen Humor übersehen? Oder flüchten sie vor der Unverständlichkeit? "Aber warum müssen Bilder unbedingt verständlich sein?" fragte Schroeter polemisch in seiner Pressekonferenz, und recht hat er, die ganze Kunstgeschichte ist auf seiner Seite. Schroeters mutiges und einfallsreiches Filmpoem wird sein Publikum finden, zumal die Kamera von Elfi Mikesch ein Zauberlicht einfängt, das allein den Besuch lohnt, ganz zu schweigen vom bezaubernden Trio Isabelle Huppert, Bulle Ogier und Arielle Dombasle.
Viel Aufmerksamkeit fand im offiziellen Wettbewerbsprogramm naturgemäß die Anwesenheit eines palästinensischen Films. Elia Suleimans "Yaon Ilaheyya" (etwa: Göttliche Einmischung) macht keinen Hehl aus seinem politischen Standpunkt, aber er bringt das Kunststück zustande, einen humoristischen Blick durchzuhalten. Wir sehen eine palästinensische Liebesgeschichte: Er lebt in Jerusalem, sie in Ramallah, und treffen können sich die beiden nur auf einem Parkplatz im Niemandsland. Dort geht es zu wie im Slapstickfilm. Stur kontrollieren die israelischen Soldaten, und wenn plötzlich eine schöne Palästinenserin vorbeistöckelt, gerät ihre ganze Bürokratenwelt aus den Fugen, so daß vor lauter Schreck sogar der Wachtturm in sich zusammenfällt. Eindeutige Propaganda gibt es nur in einer fiktiven Trickszene, wo eine Araberin im Ninja-Trikot durch die Luft fliegt, die Kugeln an sich abprallen läßt und die wild um sich ballernden Israelis schließlich mit der Steinschleuder besiegt. Das ist David gegen Goliath, gewiß, hier aber in einer feministischen Variante, als Sieg des weiblichen Prinzips über die Welt der Männer. Das ist der eigentliche Witz des Films, daß er das schwergewichtige politische Problem mit so souveräner Leichtigkeit erotisiert.
WILFRIED WIEGAND
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