Bildformat: 2.35:1 Widescreen Sprache / Tonformate: Deutsch (Dolby Digital Surround), Englisch (Dolby Digital 5.1) Untertitel: Englisch für Hörgeschädigte, Englisch, Arabisch, Bulgarisch, Dännisch, Deutsch, Finnisch, Holländisch, Isländisch, Norwegisch, Polnisch, Rumänisch, Schwedisch, Tschechisch, Türkisch, Ungarisch Ländercode: 2 Extras: Kinotrailer u. Teaser Trailer
Bonusmaterial
DVD-Ausstattung / Bonusmaterial: - Kinotrailer - Kapitel- / SzenenanwahlFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.1998Rosarot überstrahlt Rabenschwarz
Russische Wirren: Der Film als Spiegel von Politik und Gesellschaft
SOTSCHI, im August
In Rußland gibt es keinen Filmverleih, daher übernehmen Filmfestivals diese Funktion und schmücken unseren kargen Alltag. Das repräsentativste Filmfestival findet in Sotschi am Schwarzen Meer statt. Vor fünf Jahren verblüffte mich dort erstmals die geradezu westeuropäisch anmutende Atmosphäre, es war fast ein russisches Cannes. Auch heute kann sich Sotschi das blaue Meer, die Strände mit den Restaurants und die "Ruhmestreppe", die zu einer Kolonnade im Stil des Stalinschen Empire hinaufführt, als Plus anrechnen. Aber auch die Liste der gezeigten Filme ist länger geworden, und neben dem Hauptprogramm gibt es ein Forum für Filmdebüts. Zudem sind die Einwohner von Sotschi emsige Kinogänger.
Als sich am letzten Tag des Festivals die von der Sonne und dem mittelmäßigen Niveau der gezeigten Streifen ermatteten Filmexperten zur Vorführung des Erstlings "Okraina" (Am Rande) von P. Luzik versammelten, bekamen sie endlich das zu sehen, was sie suchten: ein Werk der reinen "Filmsprache". Vor fünf Jahren war der nach einem Drehbuch von Luzik und A. Samorjadow gedrehte Film "Die Kinder der Eisengötter" der große Erfolg des Festivals gewesen. Es war eine ironische Reflexion über den stalinistischen Film. Damals war Samorjadow, der gerade die Filmhochschule absolviert hatte, ganz im Geist seiner Draufgängerhelden von Balkon zu Balkon geklettert und tödlich abgestürzt: ein trauriger Vorfall im Leben der Boheme. Nun hat Luzik als Regisseur den zweiten Teil des gemeinsamen Drehbuchs verfilmt. Die Handlung ist aus der sowjetischen Vergangenheit in die postsowjetische Zukunft verlegt worden.
In einem gottverlassenen Kaff rotten sich die Männer zusammen. Aus Wut darüber, daß man ihr Land irgendwelchen Ölgesellschaften verkauft hat (ein Standardmotiv der "Dörflerprosa"), wollen sie die Käufer aufspüren und sich die mütterliche Erde zurückholen. Der grob gezeichneten Schwarzweißwelt entspricht die rauhe plakative Sprache des Schwarzweißfilms. Mit der Flinte machen sich die "Helden" auf die Suche nach den "Volksfeinden", den Ölbohrern: Sie stoßen sie in ein Eisloch, foltern sie, reißen ihnen den Kopf ab und zerfleischen einen gar. Schließlich kämpfen sie sich zum obersten Ölboß in Moskau durch. Dem kommen nun keine Sondereinheiten der Miliz mehr zu Hilfe. So demonstriert der Film, was sein könnte, wenn die Helden des historischen revolutionären Mythos Akteure des Fin de siècle geworden wären. Diese für Cineasten gedrehte Parodie auf den sozialistischen Realismus gewinnt vor dem Hintergrund der sozialen Wirklichkeit, wo die Eliten die Bevölkerung vergessen haben und der Bevölkerung einfällt, daß sie Eliten haben, die zwar herrschen, aber nicht regieren, unversehens Züge eines Menetekels.
Eine weitere Sensation des Festivals war der Film "Über Ungetüme und Menschen" vom A. Balabanow, der mit Erfolg auch in Cannes gezeigt wurde. Hier konstatiert man den Triumph des Stils über die Story, die sich von den naiven Pornopostkarten zu Beginn unseres Jahrhunderts hat inspirieren lassen. Halb herab gerollte Strümpfe, nackte Hinterteile, über die eine Peitsche streicht - all das erwacht im betörenden Sepiabraun einer melancholischen Ansicht von Petersburg um die Jahrhundertwende zu neuem Leben. Zwei wohlanständige Familien (ein Ingenieur feiert den Geburtstag seiner Tochter, ein Arzt und seine schöne Frau adoptieren siamesische Zwillinge) und der aus dem Ausland angereiste Deutsche Johann mit sonderbaren Neigungen bilden das Personal der Spottfabel. Die Väter werden beseitigt, und die halbwüchsige Lisa, die siamesischen Zwillinge und eine blinde Ärztin werden zu erniedrigten Statisten in Johanns Pornogeschäften. Das Glück findet keiner, und der Film endet so melancholisch, wie er begann.
In dieser Handlung findet sich keinerlei Botschaft, so daß ein weiter Raum für Interpretationen bleibt. Ob verhaltener Charme des Lasters nach Art des "Silbernen Zeitalters", ontologischer Voyeurismus der "Apparate" (wie Brecht die Filmkameras nannte) oder repressiver Mutterkomplex nach Freud - jeder kann sich aus dem Stoff herauslesen, was ihm gefällt. Doch man kann darin auch eine Metapher für Rußland erahnen.
Wir werden mit dem gesamten Arsenal der traditionellen Symbolik konfrontiert. Weibliche Dominante (die Heimat) in volkstümlicher Fassung: Die dem Volk entfremdeten Männer verschwinden sofort, während sich Lisa und die blinde Ärztin widerstandslos dem gewalttätigen weiblichen Gesinde unterwerfen. Das repressive Prinzip wird von dem Fremdling Johann vertreten. Und aus dem Sadomasosumpf steigt die vielbeschworene russische Geistigkeit auf: in den Engelsstimmen der siamesischen Zwillinge und der reinen Liebe des einen Zwillingsbruders zu Lisa. Sie repräsentieren die gelbe Rasse und verkörpern damit die "eurasische Idee", die derzeit groß in Mode ist. Am Ende wollen die Zwillinge gen Osten aufbrechen, gehen jedoch am Alkohol zugrunde. Lisa dagegen macht sich nach Westeuropa auf, kaum hat sie jedoch die Zivilisation erreicht, überläßt sie sich der Peitsche eines männlichen Prostituierten.
Dieser Film, der eigentlich eine Stilübung ist, kann als Offenbarung gelten. Das postsowjetische Rußland ist stolz darauf, daß es nach Jahrhunderten vielfältiger Knechtschaft endlich eine "ungeprügelte" Generation großgezogen hat. Doch das Geheimnis seines Unterbewußtseins läßt sich als Wunsch nach Züchtigung deuten, nach den "Wonnen der Knute", wie sie Puschkin genannt hat. Das ist das verdrängte Motiv in der Generation der vierzigjährigen Filmemacher, die Anamnese der revolutionären Aggression.
Der Besuch des Sekretärs des Verbandes der Filmschaffenden beim Festival war nicht weniger bedeutsam als die Filme. Er ist die herausragende Persönlichkeit des russischen Films, und im Weltfilmgeschäft wird nur sein Name gehandelt: Nikita Michalkow. Er ist als Regisseur und Schauspieler gleichermaßen erfolgreich. In der Sowjetzeit hatte sein Talent etwas Proteushaftes. Seine Filme waren sehr verschieden und ließen sich nur schwer auf die Persönlichkeit ihres Schöpfers fixieren. Michalkow hat Tschechow subtil verfilmt und sich wohl nur einmal, in der freien Interpretation von Gontscharows Roman "Oblomow", ein wenig in die Karten blicken lassen.
Im Unterschied zu seinen Zunftgenossen, die mit der Sowjetmacht nicht nur ihren Geldgeber, sondern auch ihren moralischen Widersacher verloren haben, hat sich Nikita Michalkow in der postsowjetischen Zeit erst richtig gemausert. Er hat eine eigene Firma gegründet und sich von der Staatskasse unabhängig gemacht. Die jünglingshafte Nonchalance hat er abgelegt und sich als Patriot zu erkennen gegeben. In der Wahrnehmung seiner Kollegen bekam seine Gestalt dadurch allerdings etwas Schillerndes. Auf ihm lastet nicht nur der Schatten seines hochadeligen Vaters, der zum Liebling des sowjetischen Systems geworden war und die verhaßte sowjetische Nationalhymne geschrieben hatte, sondern auch sein eigener Widerstand gegen den quasidemokratischen Aufbruch auf dem legendären 5. Kongreß der Filmschaffenden, der als Vorbote der Perestrojka gilt. Nikita Michalkow, der für die staatstreuen Regisseure eintreten wollte, wurde damals im Kongreßpalast des Kremls vom Rednerpult verscheucht. Das haben weder er noch seine Kollegen vom Film vergessen.
Das damalige Modell der Filmperestrojka blieb leider genauso auf der Strecke wie die gesamte Perestrojka: Wer schon an der Futterkrippe stand, der wurde schwerreich, die übrigen hatten das Nachsehen. Die Produktion ging stark zurück, das Filmwesen brach zusammen, und der Verleih verkümmerte. Danach richteten die verzweifelten Filmemacher ihr Augenmerk auf den einst ausgepfiffenen Michalkow, der nunmehr seine Überlebensfähigkeit bewiesen hatte. Dieser ließ sich überreden, den Vorsitz zu übernehmen, allerdings unter der Bedingung, ihn allein zu führen. Abermals im Kongreßpalast des Kremls nahm er von den viereinhalbtausend Verbandsmitgliedern, die er zu einem außerordentlichen Kongreß einberufen hatte, die Krone der Filmemacher entgegen, nachdem er ihnen sein Maximalprogramm zur Wiederbelebung des Kinos vorgestellt hatte.
Es läßt sich schwer sagen, ob es diesmal gelingen wird, den Kapitalismus mit menschlichem Antlitz im Kinomarkt zu errichten, der vom Ansturm amerikanischer Billigproduktionen, der Expansion des Fernsehens und des Videoschwarzhandels beherrscht wird. Kann man überhaupt den sozialistischen Realismus mit kapitalistischem Hintergrund reanimieren, also ein mythenbildendes Filmwesen schaffen, das der orientierungslosen Nation ein optimistisches Bild von sich selbst vermittelt?
Große Begeisterung der Zuschauer im Moskauer Haus des Film wie auch in Sotschi löste S. Ursuljaks Film "Aufsatz zum Tag des Sieges" nach dem Drehbuch von G. Ostrowski und A. Sernow aus. Die Verfasser haben die Handlung ins einundzwanzigste Jahrhundert verlegt. Eine Schülerin versucht sich die Vergangenheit, also unsere Zeit, vorzustellen und erzählt in einem Schulaufsatz die Geschichte von drei Veteranen des Zweiten Weltkrieges; zwei davon sind ihre Urgroßväter.
Die drei Fliegerasse sind in der nachsowjetischen Wirklichkeit auf verschiedene Seiten des geschichtlichen Umbruchs geraten. Am Anfang muß der "Pate" der Sportmafia (ein "Neuer Russe") seinen ehemaligen Kommandeur, einen ewigen Opportunisten, der sich den Kommunisten angeschlossen hat, aus dem Kittchen freikaufen, um gemeinsam mit ihm den dritten abzuholen, der einst als Dissident in die Vereinigten Staaten ausgewiesen worden ist. Die ideologischen Zänkereien hindern die alten Kämpen nicht daran, ihre Frontfreundschaft zu bewahren, und als der Sportboß nach einem Mafiagefecht seinerseits hinter Gittern landet, bemühen sich die beiden anderen um seine Befreiung. Nachdem sie alle legalen Mittel ausgeschöpft haben, kapern sei ein Flugzeug, lösen den Freund gegen die Passagiere aus, und die Linienmaschine mit den drei Veteranen hebt ab - das Mädchen beendet den Aufsatz. Der Regisseur hat das spannende Drehbuch in ein krauses Stilgemisch mit einem Hauch sozialistischem Realismus verwandelt; der Film reizt sowohl zum Lachen wie auch zum Weinen.
Das Gegenstück zu Ursuljaks rosarotem Film ist D. Astrachans schwarzes Werk "Vertrag mit dem Tod". Astrachan ist einer der wenigen russischen Regisseure, die keine Scheu vor der Masse wie vor der Kasse haben und mit offenem Visier darauf zugehen. Er dreht viel, mal rosarote Filme, mal rabenschwarze. Er versteht es gleichermaßen zu trösten wie zu schockieren. "Vertrag mit dem Tod" ist die eiskalte Geschichte von einem Professor, der Organe von noch Lebenden verpflanzt, und einem Präsidentschaftskandidaten, der aus diesem dunklen Geheimnis der von ihm protegierten Klinik des Professors sein Wahlprogramm macht: Die Nützlichen sollen auf Kosten der Nutzlosen überleben. Natürlich verspielt er die Klinik, seine Frau und die Freiheit, doch dafür bemächtigt sich die Idee der Selektion allmählich der Massen. Astrachans böser Film schleudert dem Publikum somit ins Gesicht, was Ursuljaks guter Film verdrängt. Vielleicht hat deshalb der "Vertrag mit dem Tod" alle so empört. Tatsächlich nimmt kein Genre den Zuschauer moralisch so in die Pflicht wie der Horrorfilm, und deshalb verzeiht man ihm aggressiven Zynismus am allerwenigsten. MAJA TUROWSKAJA
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Russische Wirren: Der Film als Spiegel von Politik und Gesellschaft
SOTSCHI, im August
In Rußland gibt es keinen Filmverleih, daher übernehmen Filmfestivals diese Funktion und schmücken unseren kargen Alltag. Das repräsentativste Filmfestival findet in Sotschi am Schwarzen Meer statt. Vor fünf Jahren verblüffte mich dort erstmals die geradezu westeuropäisch anmutende Atmosphäre, es war fast ein russisches Cannes. Auch heute kann sich Sotschi das blaue Meer, die Strände mit den Restaurants und die "Ruhmestreppe", die zu einer Kolonnade im Stil des Stalinschen Empire hinaufführt, als Plus anrechnen. Aber auch die Liste der gezeigten Filme ist länger geworden, und neben dem Hauptprogramm gibt es ein Forum für Filmdebüts. Zudem sind die Einwohner von Sotschi emsige Kinogänger.
Als sich am letzten Tag des Festivals die von der Sonne und dem mittelmäßigen Niveau der gezeigten Streifen ermatteten Filmexperten zur Vorführung des Erstlings "Okraina" (Am Rande) von P. Luzik versammelten, bekamen sie endlich das zu sehen, was sie suchten: ein Werk der reinen "Filmsprache". Vor fünf Jahren war der nach einem Drehbuch von Luzik und A. Samorjadow gedrehte Film "Die Kinder der Eisengötter" der große Erfolg des Festivals gewesen. Es war eine ironische Reflexion über den stalinistischen Film. Damals war Samorjadow, der gerade die Filmhochschule absolviert hatte, ganz im Geist seiner Draufgängerhelden von Balkon zu Balkon geklettert und tödlich abgestürzt: ein trauriger Vorfall im Leben der Boheme. Nun hat Luzik als Regisseur den zweiten Teil des gemeinsamen Drehbuchs verfilmt. Die Handlung ist aus der sowjetischen Vergangenheit in die postsowjetische Zukunft verlegt worden.
In einem gottverlassenen Kaff rotten sich die Männer zusammen. Aus Wut darüber, daß man ihr Land irgendwelchen Ölgesellschaften verkauft hat (ein Standardmotiv der "Dörflerprosa"), wollen sie die Käufer aufspüren und sich die mütterliche Erde zurückholen. Der grob gezeichneten Schwarzweißwelt entspricht die rauhe plakative Sprache des Schwarzweißfilms. Mit der Flinte machen sich die "Helden" auf die Suche nach den "Volksfeinden", den Ölbohrern: Sie stoßen sie in ein Eisloch, foltern sie, reißen ihnen den Kopf ab und zerfleischen einen gar. Schließlich kämpfen sie sich zum obersten Ölboß in Moskau durch. Dem kommen nun keine Sondereinheiten der Miliz mehr zu Hilfe. So demonstriert der Film, was sein könnte, wenn die Helden des historischen revolutionären Mythos Akteure des Fin de siècle geworden wären. Diese für Cineasten gedrehte Parodie auf den sozialistischen Realismus gewinnt vor dem Hintergrund der sozialen Wirklichkeit, wo die Eliten die Bevölkerung vergessen haben und der Bevölkerung einfällt, daß sie Eliten haben, die zwar herrschen, aber nicht regieren, unversehens Züge eines Menetekels.
Eine weitere Sensation des Festivals war der Film "Über Ungetüme und Menschen" vom A. Balabanow, der mit Erfolg auch in Cannes gezeigt wurde. Hier konstatiert man den Triumph des Stils über die Story, die sich von den naiven Pornopostkarten zu Beginn unseres Jahrhunderts hat inspirieren lassen. Halb herab gerollte Strümpfe, nackte Hinterteile, über die eine Peitsche streicht - all das erwacht im betörenden Sepiabraun einer melancholischen Ansicht von Petersburg um die Jahrhundertwende zu neuem Leben. Zwei wohlanständige Familien (ein Ingenieur feiert den Geburtstag seiner Tochter, ein Arzt und seine schöne Frau adoptieren siamesische Zwillinge) und der aus dem Ausland angereiste Deutsche Johann mit sonderbaren Neigungen bilden das Personal der Spottfabel. Die Väter werden beseitigt, und die halbwüchsige Lisa, die siamesischen Zwillinge und eine blinde Ärztin werden zu erniedrigten Statisten in Johanns Pornogeschäften. Das Glück findet keiner, und der Film endet so melancholisch, wie er begann.
In dieser Handlung findet sich keinerlei Botschaft, so daß ein weiter Raum für Interpretationen bleibt. Ob verhaltener Charme des Lasters nach Art des "Silbernen Zeitalters", ontologischer Voyeurismus der "Apparate" (wie Brecht die Filmkameras nannte) oder repressiver Mutterkomplex nach Freud - jeder kann sich aus dem Stoff herauslesen, was ihm gefällt. Doch man kann darin auch eine Metapher für Rußland erahnen.
Wir werden mit dem gesamten Arsenal der traditionellen Symbolik konfrontiert. Weibliche Dominante (die Heimat) in volkstümlicher Fassung: Die dem Volk entfremdeten Männer verschwinden sofort, während sich Lisa und die blinde Ärztin widerstandslos dem gewalttätigen weiblichen Gesinde unterwerfen. Das repressive Prinzip wird von dem Fremdling Johann vertreten. Und aus dem Sadomasosumpf steigt die vielbeschworene russische Geistigkeit auf: in den Engelsstimmen der siamesischen Zwillinge und der reinen Liebe des einen Zwillingsbruders zu Lisa. Sie repräsentieren die gelbe Rasse und verkörpern damit die "eurasische Idee", die derzeit groß in Mode ist. Am Ende wollen die Zwillinge gen Osten aufbrechen, gehen jedoch am Alkohol zugrunde. Lisa dagegen macht sich nach Westeuropa auf, kaum hat sie jedoch die Zivilisation erreicht, überläßt sie sich der Peitsche eines männlichen Prostituierten.
Dieser Film, der eigentlich eine Stilübung ist, kann als Offenbarung gelten. Das postsowjetische Rußland ist stolz darauf, daß es nach Jahrhunderten vielfältiger Knechtschaft endlich eine "ungeprügelte" Generation großgezogen hat. Doch das Geheimnis seines Unterbewußtseins läßt sich als Wunsch nach Züchtigung deuten, nach den "Wonnen der Knute", wie sie Puschkin genannt hat. Das ist das verdrängte Motiv in der Generation der vierzigjährigen Filmemacher, die Anamnese der revolutionären Aggression.
Der Besuch des Sekretärs des Verbandes der Filmschaffenden beim Festival war nicht weniger bedeutsam als die Filme. Er ist die herausragende Persönlichkeit des russischen Films, und im Weltfilmgeschäft wird nur sein Name gehandelt: Nikita Michalkow. Er ist als Regisseur und Schauspieler gleichermaßen erfolgreich. In der Sowjetzeit hatte sein Talent etwas Proteushaftes. Seine Filme waren sehr verschieden und ließen sich nur schwer auf die Persönlichkeit ihres Schöpfers fixieren. Michalkow hat Tschechow subtil verfilmt und sich wohl nur einmal, in der freien Interpretation von Gontscharows Roman "Oblomow", ein wenig in die Karten blicken lassen.
Im Unterschied zu seinen Zunftgenossen, die mit der Sowjetmacht nicht nur ihren Geldgeber, sondern auch ihren moralischen Widersacher verloren haben, hat sich Nikita Michalkow in der postsowjetischen Zeit erst richtig gemausert. Er hat eine eigene Firma gegründet und sich von der Staatskasse unabhängig gemacht. Die jünglingshafte Nonchalance hat er abgelegt und sich als Patriot zu erkennen gegeben. In der Wahrnehmung seiner Kollegen bekam seine Gestalt dadurch allerdings etwas Schillerndes. Auf ihm lastet nicht nur der Schatten seines hochadeligen Vaters, der zum Liebling des sowjetischen Systems geworden war und die verhaßte sowjetische Nationalhymne geschrieben hatte, sondern auch sein eigener Widerstand gegen den quasidemokratischen Aufbruch auf dem legendären 5. Kongreß der Filmschaffenden, der als Vorbote der Perestrojka gilt. Nikita Michalkow, der für die staatstreuen Regisseure eintreten wollte, wurde damals im Kongreßpalast des Kremls vom Rednerpult verscheucht. Das haben weder er noch seine Kollegen vom Film vergessen.
Das damalige Modell der Filmperestrojka blieb leider genauso auf der Strecke wie die gesamte Perestrojka: Wer schon an der Futterkrippe stand, der wurde schwerreich, die übrigen hatten das Nachsehen. Die Produktion ging stark zurück, das Filmwesen brach zusammen, und der Verleih verkümmerte. Danach richteten die verzweifelten Filmemacher ihr Augenmerk auf den einst ausgepfiffenen Michalkow, der nunmehr seine Überlebensfähigkeit bewiesen hatte. Dieser ließ sich überreden, den Vorsitz zu übernehmen, allerdings unter der Bedingung, ihn allein zu führen. Abermals im Kongreßpalast des Kremls nahm er von den viereinhalbtausend Verbandsmitgliedern, die er zu einem außerordentlichen Kongreß einberufen hatte, die Krone der Filmemacher entgegen, nachdem er ihnen sein Maximalprogramm zur Wiederbelebung des Kinos vorgestellt hatte.
Es läßt sich schwer sagen, ob es diesmal gelingen wird, den Kapitalismus mit menschlichem Antlitz im Kinomarkt zu errichten, der vom Ansturm amerikanischer Billigproduktionen, der Expansion des Fernsehens und des Videoschwarzhandels beherrscht wird. Kann man überhaupt den sozialistischen Realismus mit kapitalistischem Hintergrund reanimieren, also ein mythenbildendes Filmwesen schaffen, das der orientierungslosen Nation ein optimistisches Bild von sich selbst vermittelt?
Große Begeisterung der Zuschauer im Moskauer Haus des Film wie auch in Sotschi löste S. Ursuljaks Film "Aufsatz zum Tag des Sieges" nach dem Drehbuch von G. Ostrowski und A. Sernow aus. Die Verfasser haben die Handlung ins einundzwanzigste Jahrhundert verlegt. Eine Schülerin versucht sich die Vergangenheit, also unsere Zeit, vorzustellen und erzählt in einem Schulaufsatz die Geschichte von drei Veteranen des Zweiten Weltkrieges; zwei davon sind ihre Urgroßväter.
Die drei Fliegerasse sind in der nachsowjetischen Wirklichkeit auf verschiedene Seiten des geschichtlichen Umbruchs geraten. Am Anfang muß der "Pate" der Sportmafia (ein "Neuer Russe") seinen ehemaligen Kommandeur, einen ewigen Opportunisten, der sich den Kommunisten angeschlossen hat, aus dem Kittchen freikaufen, um gemeinsam mit ihm den dritten abzuholen, der einst als Dissident in die Vereinigten Staaten ausgewiesen worden ist. Die ideologischen Zänkereien hindern die alten Kämpen nicht daran, ihre Frontfreundschaft zu bewahren, und als der Sportboß nach einem Mafiagefecht seinerseits hinter Gittern landet, bemühen sich die beiden anderen um seine Befreiung. Nachdem sie alle legalen Mittel ausgeschöpft haben, kapern sei ein Flugzeug, lösen den Freund gegen die Passagiere aus, und die Linienmaschine mit den drei Veteranen hebt ab - das Mädchen beendet den Aufsatz. Der Regisseur hat das spannende Drehbuch in ein krauses Stilgemisch mit einem Hauch sozialistischem Realismus verwandelt; der Film reizt sowohl zum Lachen wie auch zum Weinen.
Das Gegenstück zu Ursuljaks rosarotem Film ist D. Astrachans schwarzes Werk "Vertrag mit dem Tod". Astrachan ist einer der wenigen russischen Regisseure, die keine Scheu vor der Masse wie vor der Kasse haben und mit offenem Visier darauf zugehen. Er dreht viel, mal rosarote Filme, mal rabenschwarze. Er versteht es gleichermaßen zu trösten wie zu schockieren. "Vertrag mit dem Tod" ist die eiskalte Geschichte von einem Professor, der Organe von noch Lebenden verpflanzt, und einem Präsidentschaftskandidaten, der aus diesem dunklen Geheimnis der von ihm protegierten Klinik des Professors sein Wahlprogramm macht: Die Nützlichen sollen auf Kosten der Nutzlosen überleben. Natürlich verspielt er die Klinik, seine Frau und die Freiheit, doch dafür bemächtigt sich die Idee der Selektion allmählich der Massen. Astrachans böser Film schleudert dem Publikum somit ins Gesicht, was Ursuljaks guter Film verdrängt. Vielleicht hat deshalb der "Vertrag mit dem Tod" alle so empört. Tatsächlich nimmt kein Genre den Zuschauer moralisch so in die Pflicht wie der Horrorfilm, und deshalb verzeiht man ihm aggressiven Zynismus am allerwenigsten. MAJA TUROWSKAJA
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main