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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2019

Ein Troll vom Zoll
Körperschrecken und Märchenmysterium: "Border" im Kino

Scham, Schuld, Wut - das sind Gefühle, die bei der Einreise nach Schweden zwar nicht zu verzollen, aber gelegentlich zu deklarieren sind. Denn die Zollbehörde hat dafür eine Spezialistin. Sie heißt Tina, und sie kann spüren, wenn bei einem Menschen etwas nicht stimmt. Gemeinsam mit einem männlichen Kollegen steht sie am Ausgang, an dem die Fahrgäste von den Fähren kommen. Meistens geht es nur um Kleinigkeiten, in erster Linie um Alkohol. Manchmal aber findet Tina Hinweise auf etwas Brisanteres. Zum Beispiel bei dem Mann, von dem sie sich das Telefon aushändigen lässt. Sie riecht daran, als hafteten am Gerät Spuren unzulässiger Handlungen. Und tatsächlich findet sie eine SIM-Karte mit entsetzlichem Datenmaterial. Für die Ermittlungen gegen einen Ring von Kinderpornographen wird Tina dann auch an die Kriminalpolizei abgestellt.

Ihre eigentliche Bestimmung aber hat sie beim Zoll. Tull, so lautet das schwedische Wort, es ist phonetisch schon ein wenig näher an der Naturmythologie des Films "Border" (im Original: "Gräns", Grenze). Denn Tina ist selbst eine Grenzfigur, ein Wesen, in dem das Menschliche sich bricht in einem fundamentalen Zweifel an der eigenen Identität. Im Dienst dreht sie sich von den vorbeilaufenden Passagieren manchmal halb weg, als schäme sie sich für ihre Fähigkeiten. Sobald sie auf etwas aufmerksam wird, fletscht sie ihre Zähne, ihre Gesichtszüge verzerren sich. Eines Tages taucht ein Mann auf, bei dem sie sich irrt. Er hat nichts bei sich, was nicht erlaubt wäre. Seltsam ist zwar diese Vorrichtung, die er als "Larvenbrutapparat" bezeichnet. Aber auch eine Leibesvisitation ergibt nichts. Allerdings wird dabei eine anatomische Besonderheit enthüllt - auch in diesem Fall geht es um eine Grenze, in der sich die geläufige Geschlechterdifferenz auf eine unheimliche Weise spiegelt. Als der Mann sich Tina namentlich vorstellt ("Ich heiße Vore"), da ist schon klar, dass sie in ihm jemand getroffen hat, der ihr etwas erschließen wird. Es ist das Rätsel ihrer Identität.

Der iranisch-schwedische Regisseur Ali Abbasi folgt mit seinem zweiten Film weitgehend einer literarischen Vorlage: Auch die Erzählung von John Ajvide Lindqvist trägt den Namen "Die Grenze", und bis auf einige Vereinfachungen und Zuspitzungen gab es für Abbasi wenig Grund, groß daran herumzubasteln. Lindqvist ist sehr erfolgreich damit, klassische Versatzstücke der Traditionen des Unheimlichen in die schwedische Landschaft (sowohl in die natürliche wie in die soziale) zu übertragen. Die Vampirfabel "So finster die Nacht" ("Lat den rätte komma in") wurde in der Verfilmung durch Tomas Alfredson ein großer Erfolg.

Für Tina beginnt nach der Begegnung mit Vore eine Zeit der Selbstbefragung; die Aufdeckung des Kriminalfalls führt zugleich zurück an die Wurzeln ihrer eigenen Existenz. Das Wort Wurzel kann man dabei fast wörtlich nehmen. Tina ist ein Waldwesen, wenn sie abends nach Hause kommt, zieht sie Schuhe und Socken aus und geht hinaus. Auf den moosigen Gründen und später in einem Teich ist sie ganz bei sich. Die anatomischen Besonderheiten macht Ali Abbasi zwischendurch sehr ausdrücklich deutlich. Wenn Tina sich für menschlich, wenngleich "mit einer Chromosomenveränderung" hält, dann wächst ihr der Gegenbeweis in diesem Moment aus der Narbe, die ihre Kindheit versiegelt hatte. Es ist ein ekstatischer Moment, wenn man in der Lage ist, diesen Akt von der pornographischen Eindeutigkeit wegzudenken und ihn der Klarheit von Träumen zuzuschlagen.

Die Nebenfiguren verleihen dem Drama zusätzliche Komplexität. Tina lebt mit einem "Schmarotzer" namens Roland zusammen, ein wenig gesellschaftsfähiger Züchter von Kampfhunden. Durch Vore wird Tina darauf verwiesen, dass sie gegen ihre eigenen Bedürfnisse isst. Als sie ihn endlich außerhalb ihrer Arbeit wiedersieht, macht er sich gerade an einem Baum zu schaffen. Unter der Borke findet er, was bei ihm auf den Teller kommen würde. Zu einem Schlüssel für Tina wird aber vor allem der Mensch, der ihr aus naheliegenden Gründen vieles eröffnen könnte, der ihr aber aus denselben Gründen das Wesentliche lange verschweigt: Ihr Vater lebt in einem Pflegeheim, und so wird die Geschichte von "Border" auch zu einem Wettlauf mit der Hinfälligkeit eines Menschen, der allein in der Lage ist, Tinas Geschick auf eine allgemeinere Ebene zu heben. Sie ist zwar offensichtlich ein Einzelfall, die Begegnung mit Vore eröffnet ihr aber einen neuen Horizont: Es gibt wohl noch andere wie sie, dazu muss sie sich aber erst einmal über den Grad ihrer Besonderheit klarwerden.

Mit der Fantasiegattung der Trolle bekommt Tinas Wesen auch einen Namen. Und Vore verleiht ihrem Status eine wehmütige Poesie: "Unsere Art zu leben ist mühselig. Aber es kann auch schön sein." Auf einer filmischen Ebene ist der Unterschied vor allem ein brillantes Wechselspiel aus Maske und Schauspiel. Eva Melander und Eero Milonoff wurden für ihre Rollen plastisch zugerüstet, rühren unter der ganzen Prosthetik aber sehr bewegend an das Innerste von Tinas Bestimmung: Sie ist ein Menschenwesen durch Adoption und Kultur, und in ihrer Intimität ist sie zugleich eine Fremde. Sehr geschickt steuert Ali Abbasi alles auf einen klassischen Topos der Anthropologie zu: jenseits der Schicksale der Anatomie und der schockierenden Gebürtlichkeit gibt es den Bereich der moralischen Freiheit. Dass Tina dieser nicht fremd ist, wissen wir eigentlich von Beginn an, denn sonst würde sie nur riechen, was Scham ist. Sie aber weiß es.

BERT REBHANDL

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