Es ist dunkel und es ist schüttet in Strömen. Fernfahrer Jean Chape (Jean Gabin) ist mit seinem LKW auf einer einsamen Straße unterwegs. In einer unübersichtlichen Kurve spürt er, dass er mit seinem Fahrzeug etwas überrollt hat. Er sieht nach und findet einen toten Mann. Jean verständigt die Polizei. Es stellt sich heraus, dass das Opfer ein Gangster war, der schon vor dem Überrollen tot war. Als sich der Unglücksfahrer auf den Heimweg macht, bemerkt er einen mysteriösen Wagen hinter sich. Darin sitzen die Komplizen des toten Gauners. Sie verfolgen Jean, weil sie glauben, dass er sich ihr Diebesgut unter den Nagel gerissen hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2024Diesseits von Paris
Im Nirgendwo der Provinz: Gilles Grangier zeigt das Frankreich harter Arbeit und einfacher Vergnügungen.
Ist das möglich, ein französischer Film der Fünfzigerjahre, dessen Hauptszenen nicht in Paris spielen? Sondern zumeist in der Nähe von Clermont-Ferrand, "au coeur de nulle part", im Nirgendwo der Provinz. In dem der Held nicht in amerikanischen Limousinen herumfährt, sondern im Lkw. In dem er keinen gut geschnittenen Abendanzug trägt, sondern ein kariertes Hemd und Blaumann. In dem die Freundin des Protagonisten nicht dem Nachtleben angehört, obwohl sie von Jeanne Moreau gespielt wird, sondern Grundschullehrerin ist. Dass der Lkw-Fahrer ihr "etwas zum Ausziehen" schenkt, wirkt wie der Hinweis auf ein früheres Leben.
Jean Gabin, der Held von "Straßensperre" (im Original "Gas-Oil"), war ein Monument Frankreichs. In den Dreißigerjahren bekannt geworden durch "Pépé le Moko", worin er 1937 einen tragischen Gangster in Algerien gab, dem die Liebe zum Verhängnis wird, spielte er im selben Jahr in "Die große Illusion" von Jean Renoir einen französischen Offizier, der im Ersten Weltkrieg aus einem Kriegsgefangenenlager nach dem nächsten ausbricht. In "Hafen im Nebel" von Marcel Carné war er im Jahr darauf ein Deserteur, dem es nicht gelingen will, sein Glück zu erlangen. Ebenfalls 1938 spielte er in dem nach einem Roman Émile Zolas gedrehten "Bestie Mensch" den Lokführer Lantier, der aus Verzweiflung zum Mörder wird. Zwei Jahre, vier Filme, und Gabin war ein Star.
Er etablierte sich über ein Männlichkeitsideal. Seine Charaktere waren einsam und kurz angebunden, seine schmalen Lippen, die wie ein Strich durch sein Gesicht gingen, bewegten sich beim Sprechen kaum. Ab und zu sagte er "Alors!". Er spielte das Pathos unpathetischer Figuren, die ihre Gedanken für sich behielten. Er spielte von den Krisen seiner Zeit mitgenommene, illusionslose, sich fatalistisch durchs Leben schlagende Typen, die kein Vergnügen an großen Sprüchen fanden und an wenig mehr als den nächsten Morgen glaubten. Mitunter explodierte das aufgestaute Gefühl in ihnen.
Als die Deutschen 1940 Teile Frankreichs besetzten, ging Gabin zuerst nach Hollywood, um sich dann der Armee des Generals de Gaulle anzuschließen, in der er als Panzerkommandant an der Befreiung seines Landes teilhatte und hochdekoriert aus dem Dienst ausschied. Nach 1945 tat er sich zunächst schwer, trat dann aber 1954 in Jacques Beckers "Touchez pas au grisbi" hervor. Um "Straßensperre" zu verstehen, muss man diesen Vorgängerfilm kennen. Denn in ihm spielt Gabin ein Jahr vorher die Halbweltgröße Monsieur Max, der sich in bestem Tuch durchs Milieu der Varietés, Prostituierten und Verbrecher bewegt. Er ist nun kein einsamer Wolf mehr, sondern ein Bandenchef, und hat bei einem Überfall acht Barren Gold erobert, die ihm andere Verbrecher abnehmen wollen. Am Ende hat nach einem Haufen Toter keiner die Kohle. Dem wirkt "Straßensperre" wie entgegengesetzt. Der Film spielt im französischen "Flyover Country", wie man heute sagen würde. Gabin und die Seinen fahren dort Kupferkabel, Holzpaletten und Salat durch die Gegend. Er steht zu Uhrzeiten auf, zu denen Monsieur Max allenfalls ins Bett gegangen wäre, wenn er einen Coup vorhatte. Auf seinem Nachttisch steht ein Michelin-Männchen. Das Verhältnis zu seiner Freundin muss er geheim halten, weil sie sonst ihre Stelle verlöre. Es kommt nicht Champagner auf den Tisch, sondern Beaujolais und morgens heißer Kaffee. Man isst Suppenfleisch und Hasenbraten.
Die Handlung ist übersichtlich. Gabin überfährt mit seinem Fünfzehntonner einen Mann, der aber schon tot war, als er nachts auf der Straße lag. Gangster setzen ihm - in einem Ford Vedette - nach, denn der Tote soll eine Geldtasche bei sich gehabt haben. Davon weiß Gabin nichts, und die Verfolgung durch die Verbrecher, die ständig seinem Lastwagen hinterherfahren, nervt ihn zunehmend. Am Ende werden sie in einer solidarischen Aktion der Lkw-Fahrer, der Straßensperre des Filmtitels, eingefangen und der Polizei überstellt.
Es ist nicht diese Handlung, die für den Film einnimmt. Vielmehr sind es sein Milieu und die Zeichnung seiner Figuren. Der Film führt vor Augen, was "la France profonde" genannt wird, das Frankreich harter Arbeit und einfacher Vergnügen. Die Lkws und Jeanne Moreau sorgen dafür, dass trotz Hintergrundmusik von Akkordeons keine romantischen Vorstellungen darüber aufkommen. Die Hauptfiguren des Films ruhen in sich, sie haben nichts von der existenziellen Verzweiflung ihrer früheren Rollen. Moreau ist berufstätig, Gabin, der auch im Film Jean heißt, knurrt darüber und versetzt, als sie sich und ihn fragt, weshalb sie das Relikt überhaupt liebe: "Weil ich so schön bin, vor allem im Dunkeln". Es gibt in der französischen Filmgeschichte kein Paar, das besser harmoniert.
Gilles Grangier hat 1955 einen Film ohne Modernitätsfassaden gedreht. Den Zuschauern wird nichts vom schicken und gefährlichen Leben in Montmartre erzählt, nichts von Banken, die dazu da sind, überfallen zu werden, und nichts davon, der Sinn des Lebens bestehe im Ausgeben der Kohle. Stattdessen skizziert er den arbeitsamen Alltag in einer Provinz, die ihren Kontakt mit der Moderne schon hinter sich hat und ansonsten nur in Ruhe gelassen werden will. Paris ist nicht alles, sagt der Film in jeder seiner Sequenzen, und das war in Frankreich seit jeher eine ungeheuerliche Behauptung. JÜRGEN KAUBE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Nirgendwo der Provinz: Gilles Grangier zeigt das Frankreich harter Arbeit und einfacher Vergnügungen.
Ist das möglich, ein französischer Film der Fünfzigerjahre, dessen Hauptszenen nicht in Paris spielen? Sondern zumeist in der Nähe von Clermont-Ferrand, "au coeur de nulle part", im Nirgendwo der Provinz. In dem der Held nicht in amerikanischen Limousinen herumfährt, sondern im Lkw. In dem er keinen gut geschnittenen Abendanzug trägt, sondern ein kariertes Hemd und Blaumann. In dem die Freundin des Protagonisten nicht dem Nachtleben angehört, obwohl sie von Jeanne Moreau gespielt wird, sondern Grundschullehrerin ist. Dass der Lkw-Fahrer ihr "etwas zum Ausziehen" schenkt, wirkt wie der Hinweis auf ein früheres Leben.
Jean Gabin, der Held von "Straßensperre" (im Original "Gas-Oil"), war ein Monument Frankreichs. In den Dreißigerjahren bekannt geworden durch "Pépé le Moko", worin er 1937 einen tragischen Gangster in Algerien gab, dem die Liebe zum Verhängnis wird, spielte er im selben Jahr in "Die große Illusion" von Jean Renoir einen französischen Offizier, der im Ersten Weltkrieg aus einem Kriegsgefangenenlager nach dem nächsten ausbricht. In "Hafen im Nebel" von Marcel Carné war er im Jahr darauf ein Deserteur, dem es nicht gelingen will, sein Glück zu erlangen. Ebenfalls 1938 spielte er in dem nach einem Roman Émile Zolas gedrehten "Bestie Mensch" den Lokführer Lantier, der aus Verzweiflung zum Mörder wird. Zwei Jahre, vier Filme, und Gabin war ein Star.
Er etablierte sich über ein Männlichkeitsideal. Seine Charaktere waren einsam und kurz angebunden, seine schmalen Lippen, die wie ein Strich durch sein Gesicht gingen, bewegten sich beim Sprechen kaum. Ab und zu sagte er "Alors!". Er spielte das Pathos unpathetischer Figuren, die ihre Gedanken für sich behielten. Er spielte von den Krisen seiner Zeit mitgenommene, illusionslose, sich fatalistisch durchs Leben schlagende Typen, die kein Vergnügen an großen Sprüchen fanden und an wenig mehr als den nächsten Morgen glaubten. Mitunter explodierte das aufgestaute Gefühl in ihnen.
Als die Deutschen 1940 Teile Frankreichs besetzten, ging Gabin zuerst nach Hollywood, um sich dann der Armee des Generals de Gaulle anzuschließen, in der er als Panzerkommandant an der Befreiung seines Landes teilhatte und hochdekoriert aus dem Dienst ausschied. Nach 1945 tat er sich zunächst schwer, trat dann aber 1954 in Jacques Beckers "Touchez pas au grisbi" hervor. Um "Straßensperre" zu verstehen, muss man diesen Vorgängerfilm kennen. Denn in ihm spielt Gabin ein Jahr vorher die Halbweltgröße Monsieur Max, der sich in bestem Tuch durchs Milieu der Varietés, Prostituierten und Verbrecher bewegt. Er ist nun kein einsamer Wolf mehr, sondern ein Bandenchef, und hat bei einem Überfall acht Barren Gold erobert, die ihm andere Verbrecher abnehmen wollen. Am Ende hat nach einem Haufen Toter keiner die Kohle. Dem wirkt "Straßensperre" wie entgegengesetzt. Der Film spielt im französischen "Flyover Country", wie man heute sagen würde. Gabin und die Seinen fahren dort Kupferkabel, Holzpaletten und Salat durch die Gegend. Er steht zu Uhrzeiten auf, zu denen Monsieur Max allenfalls ins Bett gegangen wäre, wenn er einen Coup vorhatte. Auf seinem Nachttisch steht ein Michelin-Männchen. Das Verhältnis zu seiner Freundin muss er geheim halten, weil sie sonst ihre Stelle verlöre. Es kommt nicht Champagner auf den Tisch, sondern Beaujolais und morgens heißer Kaffee. Man isst Suppenfleisch und Hasenbraten.
Die Handlung ist übersichtlich. Gabin überfährt mit seinem Fünfzehntonner einen Mann, der aber schon tot war, als er nachts auf der Straße lag. Gangster setzen ihm - in einem Ford Vedette - nach, denn der Tote soll eine Geldtasche bei sich gehabt haben. Davon weiß Gabin nichts, und die Verfolgung durch die Verbrecher, die ständig seinem Lastwagen hinterherfahren, nervt ihn zunehmend. Am Ende werden sie in einer solidarischen Aktion der Lkw-Fahrer, der Straßensperre des Filmtitels, eingefangen und der Polizei überstellt.
Es ist nicht diese Handlung, die für den Film einnimmt. Vielmehr sind es sein Milieu und die Zeichnung seiner Figuren. Der Film führt vor Augen, was "la France profonde" genannt wird, das Frankreich harter Arbeit und einfacher Vergnügen. Die Lkws und Jeanne Moreau sorgen dafür, dass trotz Hintergrundmusik von Akkordeons keine romantischen Vorstellungen darüber aufkommen. Die Hauptfiguren des Films ruhen in sich, sie haben nichts von der existenziellen Verzweiflung ihrer früheren Rollen. Moreau ist berufstätig, Gabin, der auch im Film Jean heißt, knurrt darüber und versetzt, als sie sich und ihn fragt, weshalb sie das Relikt überhaupt liebe: "Weil ich so schön bin, vor allem im Dunkeln". Es gibt in der französischen Filmgeschichte kein Paar, das besser harmoniert.
Gilles Grangier hat 1955 einen Film ohne Modernitätsfassaden gedreht. Den Zuschauern wird nichts vom schicken und gefährlichen Leben in Montmartre erzählt, nichts von Banken, die dazu da sind, überfallen zu werden, und nichts davon, der Sinn des Lebens bestehe im Ausgeben der Kohle. Stattdessen skizziert er den arbeitsamen Alltag in einer Provinz, die ihren Kontakt mit der Moderne schon hinter sich hat und ansonsten nur in Ruhe gelassen werden will. Paris ist nicht alles, sagt der Film in jeder seiner Sequenzen, und das war in Frankreich seit jeher eine ungeheuerliche Behauptung. JÜRGEN KAUBE
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