Pflegefamilie, Wohngruppe, Sonderschule: Egal, wo Benni hinkommt, sie fliegt sofort wieder raus. Die wilde Neunjährige ist das, was man im Jugendamt einen "Systemsprenger" nennt. Dabei will Benni nur eines: Liebe, Geborgenheit und wieder bei Mama wohnen! Doch Bianca hat Angst vor ihrer unberechenbaren Tochter. Als es keinen Platz mehr für Benni zu geben scheint und keine Lösung mehr in Sicht ist, versucht der Anti-Gewalttrainer Micha, sie aus der Spirale von Wut und Aggression zu befreien.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2019Raus mit den perfekt kontrollierten Emotionen
Brad Pitt als Astronaut, der im All seine Unberührbarkeit verliert. Helena Zengel als Neunjährige, die mit ihren Wutanfällen alle Herzen sprengt. Elisabeth Moss als misshandelte Frau, die sich zur Gangsterin emanzipiert: Das sind die Gesichter der Woche
Wenn es im Kino um den Weltraum geht, dann geht es selten wirklich um den Weltraum. Sondern um Liebesbeziehungen und familiäre Beziehungen, um die Vereinbarkeit dieser Beziehungen mit dem Beruf, Prioritäten im Leben also. Um das emotional baggage, das Gefühlsgepäck, das mitgenommen wird nach oben. Der Weltraum ist dabei Schauplatz und Metapher, vor allem aber: ein Mittel, um einen Menschen sehr weit weg zu bekommen von all dem, was ihn sonst so beschäftigt. Und ihm gerade durch die Distanz die Begegnung damit zu ermöglichen. Oder die Begegnung des Films mit seinen eigenen Ausdrucksmitteln. Oder die Begegnung des Menschen mit allem, das sein Menschsein ausmacht. Das war so in Kubricks "2001" und zuletzt in Chazelles "First Man". In "Ad Astra - Zu den Sternen" von James Gray darf jetzt Brad Pitt das All als Analysecouch verwenden.
"Ad Astra" ist damit einer von drei Filmen, die sich in dieser Kinowoche mit dem Zeigen und mit dem Verbergen von Affekten beschäftigen, mit ihrer Notwendigkeit und mit ihrer Gefährlichkeit. Was ist schlimmer: das Verdrängen und Kleinbeigeben oder aber der emotionale, möglicherweise gewaltsame Ausbruch? Glaubt man den Filmen, dann ist das die Frage der Stunde. Zwei dieser drei Filme sind sehr klug. Zwei andere sind sehr unterhaltsam. Und alle drei geben ambivalente (aber nicht beliebige) Antworten. Wie umgehen mit all den persönlichen und mit den gesellschaftspolitischen Zumutungen? Die Filme gucken vor allem auf das Persönliche, aber in Zeiten von Siewissenschon, von all den Katastrophen, kann es nicht schaden, das Kino nach seiner Meinung zu fragen.
"I slept well: 8.2 hours, no bad dreams": So beginnt der Film, der in einer "nahen Zukunft" spielt. Der Mensch, zu dem die irritierend ausdruckslose Erzählerstimme gehört und der sich über diesen guten Schlaf freuen kann, ist der Astronaut Roy McBride (Brad Pitt). Er schläft immer gut, er hat einen bemerkenswert niedrigen Ruhepuls, er ist der perfekte Arbeitnehmer und der perfekte Astronaut erst recht. Auch deshalb wird er von der CIA gebeten, zu einer heiklen und entscheidenden Mission gen Neptun aufzubrechen: Von einer dortigen Raumstation gehen elektromagnetische Strahlungen aus, die die Erde gefährden.
Es gibt aber noch einen weiteren Grund dafür, dass gerade Roy für die Mission ausgewählt wurde: Sein Vater, Clifford McBride (Tommy Lee Jones), selbst einer der berühmtesten Astronauten der Nasa überhaupt, verschwand vor etwa dreißig Jahren auf der Suche nach außerirdischem Leben. Roy war damals noch ein Kind, und er hat seinen Vater (und dessen Verlust) nicht nur nie vergessen, er ist auch seinetwegen selbst Astronaut geworden. Als ihm nun eröffnet wird, dass sein Vater wahrscheinlich noch am Leben ist, reagiert Roy zwar anfangs wie immer: rational, unterkühlt, perfekt kontrolliert. Das ändert sich, als er an Bord des Raumschiffes, das über Mond und Mars zum Neptun fliegt, immer mehr über seinen Vater erfährt. Er beginnt, Videobotschaften aufzuzeichnen, um ihn anzulocken. Und ist auf einmal verunsichert, instabil, emotional - zum ersten Mal in seinem Leben. Seine Unberührbarkeit ist dahin. Doch da diese Unberührbarkeit ihn, wie einige Erinnerungen in Rückblende zeigen, offenbar bereits seine Ehe mit Eve (Liv Tyler) gekostet hat, ist das vielleicht keine schlechte Nachricht. (Die psychologischen Kontrollmaschinen des Raumschiffs sehen das naturgemäß anders.)
Dass "Ad Astra" mehr ist als ein bloßer weiterer Weltraumfilm (ernsthafter als "The Martian", mehr in der Gesellschaft verankert als "Gravity"), mehr auch als ein bloßer Brad-Pitt-Film (der nicht nur in jeder einzelnen Szene zu sehen ist, sondern den Film auch produziert hat), das liegt an den Bildern. Bilder, die so schön, so genau gebaut sind, solche Farben haben und so faszinieren, dass sie ganz unabhängig von jeder Geschichte ins Kino gehören. Die Geschichte, die sie dann erzählen, handelt mit Roys Vater auch von einem Mann, der von eben diesen Bildern, dieser Atmosphäre des Alls so fasziniert war, dass er sie nicht mehr verlassen konnte und wollte. Der Sohn ist klüger, das Filmpublikum ist es auch: Nach zwei Stunden mit dem sehr gutaussehenden, sehr sorgenvollen Brad Pitt in der sehr gutaussehenden, sehr besorgniserregenden Atmosphäre von Raumschiff und All verlässt man beide gern wieder gen Erde. Dieser Film über einen allzu gefühlskontrollierten Mann bleibt auch selbst kontrolliert, schickt einen nach angemessener Zeit zurück. "I watched well: 2.2. hours, no bad images."
Auch die Hauptfigur in Nora Fingscheidts "Systemsprenger" würden viele gern ins Weltall schicken. Allerdings nicht wegen perfekt kontrollierter Emotionen, sondern wegen ihres Gegenteils. In diesem Film werde zu viel geschrien, das sei so laut, wirklich anstrengend, war bei der Berlinale immer wieder von Journalisten zu hören, als der Debütfilm dort dieses Jahr im Wettbewerb lief.
Ja, sicher: Man könnte sicher auch einen ruhigen, entspannenden, meditativen Film über ein Mädchen machen, das ein Problem hat mit lauten und immer wieder gewalttätigen Ausrastern. Das Mädchen, um das es geht, dürfte dann bloß nicht darin vorkommen. Es wäre ein anderer Film: einer, der einem weniger abverlangt möglicherweise, nach dem die Wimperntusche noch intakt ist und während und nachdem man sich nicht mit dieser anstrengenden Ambivalenz aus Mitgefühl und Angst herumschlagen müsste, mit dem Wunsch, zu helfen und dem Wunsch, sich in Sicherheit zu bringen. Wäre es dann auch der Film, der bei der Berlinale schließlich einen Silbernen Bären gewann und jetzt auch als deutscher Kandidat zu den Oscars eingereicht wurde? Genau.
Was also entschädigt einen als Zuschauer für die Anstrengung? Das sind nicht nur der Realismus, die Ehrlichkeit und Intensität, die man nicht nur im deutschen Kino selten zu sehen bekommt. Nicht nur die Hauptdarsteller, ach: sämtliche Darsteller. Albrecht Schuch, den man aus der Serie "Bad Banks" kennt, und der hier kaum zu erkennen ist, gehört ganz sicher nicht nur zu den wandelbarsten jungen Schauspielern, sondern auch zu denen mit der stärksten Sexiness, vergleichbar darin höchstens mit Franz Rogowski. Die Hauptdarstellerin Helena Zengel ist sowieso eine Offenbarung und spielt als nächstes schon bei Paul Greengrass neben Tom Hanks. Vor allem aber hat "Systemsprenger" eine sehr spezielle Direktheit, die oft behauptet oder herbeigewünscht wird, die aber selten so gelingt wie in diesem Film. Es ist eine Direktheit, die übrigens auch den Witz verstärkt und vertieft, der sich immer wieder aus ihr ergibt.
Das ist die Geschichte des Films: Das Mädchen Benni (Helena Zengel), neun Jahre alt, bekommt regelmäßig Wutanfälle. Sie sind (auch) der Grund dafür, dass sie in einer speziellen Jugendeinrichtung untergebracht ist, und auch dafür, dass sie von einem dieser Heime ins nächste kommt, ein "Systemsprenger" ist. Wo Brad Pitts Roy McBride auch in den beängstigendsten Situationen ruhig bleibt, bringt dieses Mädchen die Aufregung, die Angst, die Alarmsituation selbst in jede Situation mit. Das ergibt viel Sinn in Anbetracht ihrer Geschichte: Als Baby wäre sie einmal beinahe erstickt worden. Dieses Trauma zeigt der Film nun aber nicht in Rückblenden, zeigt überhaupt glücklicherweise wenig Erklärendes. Er konzentriert sich ganz auf die direkte Wahrnehmung: die von Benni und die von ihrer Umgebung, die helfen will und der es zu selten gelingt. Der Sozialarbeiter Micha (Albrecht Schuch) schafft es. Beinahe. Eigentlich ist er für deutlich ältere, gewaltbereite Jugendliche zuständig, und wie sie nimmt er auch Benni erst einmal mit in den Wald. Dort entstehen die schönsten und berührendsten Szenen des Films: Eine Echoszene zum Beispiel zerreißt alle verfügbaren Herzen.
Dieser Film sei aller Voraussicht nach nicht leicht zu vermarkten, sagt jemand, der es wissen muss. Ein Mädchen mit Wutausbrüchen, ein schwieriges Kind: Wer will das denn sehen. Leute ohne Kinder nicht, Leute mit Kindern erst recht nicht. Da kann man als selber leider nicht zum Jähzorn begabte Filmkritikerin bloß den Kopf schütteln. Sicher, der Film ist nicht perfekt: Ein paar Ausraster weniger täten es auch, die psychedelischen Sequenzen, die sie begleiten, brauchte es auch nicht unbedingt, weil der Film viel mehr im Realismus brilliert.
Vielleicht geht es aber gar nicht darum, ob man selbst Kinder hat oder nicht: Es reicht, dass man selbst mal ein Kind war. Jedes Kind wünscht sich einen Micha. Und jeder will doch echte Beziehungen sehen im Film. Das betrifft doch jeden? Und dann hat der Film auch noch Humor? Was kann man bloß mehr wollen von einem Film, von einem Debütfilm? Es ist oft ein gutes Zeichen, wenn die emotionale Verfasstheit der Filmfiguren auf die Zuschauer überspringen.
Heraus mit den Emotionen, mit den Pistolen, mit dem Geld, weg mit der Zurückhaltung, mit dem Gehorsam, mit den Männern: So in etwa sehen das die drei Hauptfiguren in "The Kitchen - Queens of Crime" von Andrea Berloff. Es ist das Jahr 1978 im New Yorker Stadtteil "Hell's Kitchen", und die Ehemänner von Kathy (Melissa McCarthy), Ruby (Tiffany Haddish) und Claire (Elisabeth Moss) wurden mit einem Mal überraschend verhaftet und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Weil die verbliebenen Mafiabosse sie nicht so großzügig finanziell unterstützen wie angekündigt, beschließen die drei Frauen, das Geschäft selbst zu übernehmen. Ja, dieser Film spielt nach sehr bekannten Mustern des Genres. Nein, dass hier nun Frauen an Stelle von Männern morden und Machtspiele perfektionieren, erfindet dieses Genre nicht neu. Sehr unterhaltsam, manchmal witzig, immer wieder auch ungeschickt erzählt dieser Film. Seine größte Stärke aber ist, natürlich, sein Cast: Melissa McCarthy, Tiffany Haddish und Elisabeth Moss gemeinsam als Gangsterinnen zu sehen, ist ein Vergnügen an sich. Vor allem Moss spielt Claires Entwicklung so berührend, als wäre sie direkt noch einmal aus "Mad Men" zurückgekehrt: um die Verwandlung von der stillen, ängstlichen Frau, die nach und nach Selbstbewusstsein entwickelt, entschieden wird und frei, noch einmal zu spielen, hier als misshandelte Frau in New York nur etwa zehn Jahre später. Der gefühlskontrollierte Brad Pitt hat zu den wütenden Frauen geführt. Das ist das Wichtigste, das das Kino diese Woche zeigt: Wut und Gewalt sind auch dann ein Problem, wenn sie nicht von Männern kommen. Aber doch etwas weniger. Und auch beherrschte Männer müssen etwas ändern. Genau das aber führt zu ziemlich guten Filmen: solchen nämlich, in denen wenig selbstverständlich ist, die sich sehr viel neu einfallen lassen müssen. Und wenn man gen Mond oder gleich gen Neptun blickt, nach oben jedenfalls, dann kann man die Konturen dieses Neuen erahnen: Ähnelt es nicht den Gesichtern von Helena Zengel und von Elisabeth Moss?
JULIA DETTKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Brad Pitt als Astronaut, der im All seine Unberührbarkeit verliert. Helena Zengel als Neunjährige, die mit ihren Wutanfällen alle Herzen sprengt. Elisabeth Moss als misshandelte Frau, die sich zur Gangsterin emanzipiert: Das sind die Gesichter der Woche
Wenn es im Kino um den Weltraum geht, dann geht es selten wirklich um den Weltraum. Sondern um Liebesbeziehungen und familiäre Beziehungen, um die Vereinbarkeit dieser Beziehungen mit dem Beruf, Prioritäten im Leben also. Um das emotional baggage, das Gefühlsgepäck, das mitgenommen wird nach oben. Der Weltraum ist dabei Schauplatz und Metapher, vor allem aber: ein Mittel, um einen Menschen sehr weit weg zu bekommen von all dem, was ihn sonst so beschäftigt. Und ihm gerade durch die Distanz die Begegnung damit zu ermöglichen. Oder die Begegnung des Films mit seinen eigenen Ausdrucksmitteln. Oder die Begegnung des Menschen mit allem, das sein Menschsein ausmacht. Das war so in Kubricks "2001" und zuletzt in Chazelles "First Man". In "Ad Astra - Zu den Sternen" von James Gray darf jetzt Brad Pitt das All als Analysecouch verwenden.
"Ad Astra" ist damit einer von drei Filmen, die sich in dieser Kinowoche mit dem Zeigen und mit dem Verbergen von Affekten beschäftigen, mit ihrer Notwendigkeit und mit ihrer Gefährlichkeit. Was ist schlimmer: das Verdrängen und Kleinbeigeben oder aber der emotionale, möglicherweise gewaltsame Ausbruch? Glaubt man den Filmen, dann ist das die Frage der Stunde. Zwei dieser drei Filme sind sehr klug. Zwei andere sind sehr unterhaltsam. Und alle drei geben ambivalente (aber nicht beliebige) Antworten. Wie umgehen mit all den persönlichen und mit den gesellschaftspolitischen Zumutungen? Die Filme gucken vor allem auf das Persönliche, aber in Zeiten von Siewissenschon, von all den Katastrophen, kann es nicht schaden, das Kino nach seiner Meinung zu fragen.
"I slept well: 8.2 hours, no bad dreams": So beginnt der Film, der in einer "nahen Zukunft" spielt. Der Mensch, zu dem die irritierend ausdruckslose Erzählerstimme gehört und der sich über diesen guten Schlaf freuen kann, ist der Astronaut Roy McBride (Brad Pitt). Er schläft immer gut, er hat einen bemerkenswert niedrigen Ruhepuls, er ist der perfekte Arbeitnehmer und der perfekte Astronaut erst recht. Auch deshalb wird er von der CIA gebeten, zu einer heiklen und entscheidenden Mission gen Neptun aufzubrechen: Von einer dortigen Raumstation gehen elektromagnetische Strahlungen aus, die die Erde gefährden.
Es gibt aber noch einen weiteren Grund dafür, dass gerade Roy für die Mission ausgewählt wurde: Sein Vater, Clifford McBride (Tommy Lee Jones), selbst einer der berühmtesten Astronauten der Nasa überhaupt, verschwand vor etwa dreißig Jahren auf der Suche nach außerirdischem Leben. Roy war damals noch ein Kind, und er hat seinen Vater (und dessen Verlust) nicht nur nie vergessen, er ist auch seinetwegen selbst Astronaut geworden. Als ihm nun eröffnet wird, dass sein Vater wahrscheinlich noch am Leben ist, reagiert Roy zwar anfangs wie immer: rational, unterkühlt, perfekt kontrolliert. Das ändert sich, als er an Bord des Raumschiffes, das über Mond und Mars zum Neptun fliegt, immer mehr über seinen Vater erfährt. Er beginnt, Videobotschaften aufzuzeichnen, um ihn anzulocken. Und ist auf einmal verunsichert, instabil, emotional - zum ersten Mal in seinem Leben. Seine Unberührbarkeit ist dahin. Doch da diese Unberührbarkeit ihn, wie einige Erinnerungen in Rückblende zeigen, offenbar bereits seine Ehe mit Eve (Liv Tyler) gekostet hat, ist das vielleicht keine schlechte Nachricht. (Die psychologischen Kontrollmaschinen des Raumschiffs sehen das naturgemäß anders.)
Dass "Ad Astra" mehr ist als ein bloßer weiterer Weltraumfilm (ernsthafter als "The Martian", mehr in der Gesellschaft verankert als "Gravity"), mehr auch als ein bloßer Brad-Pitt-Film (der nicht nur in jeder einzelnen Szene zu sehen ist, sondern den Film auch produziert hat), das liegt an den Bildern. Bilder, die so schön, so genau gebaut sind, solche Farben haben und so faszinieren, dass sie ganz unabhängig von jeder Geschichte ins Kino gehören. Die Geschichte, die sie dann erzählen, handelt mit Roys Vater auch von einem Mann, der von eben diesen Bildern, dieser Atmosphäre des Alls so fasziniert war, dass er sie nicht mehr verlassen konnte und wollte. Der Sohn ist klüger, das Filmpublikum ist es auch: Nach zwei Stunden mit dem sehr gutaussehenden, sehr sorgenvollen Brad Pitt in der sehr gutaussehenden, sehr besorgniserregenden Atmosphäre von Raumschiff und All verlässt man beide gern wieder gen Erde. Dieser Film über einen allzu gefühlskontrollierten Mann bleibt auch selbst kontrolliert, schickt einen nach angemessener Zeit zurück. "I watched well: 2.2. hours, no bad images."
Auch die Hauptfigur in Nora Fingscheidts "Systemsprenger" würden viele gern ins Weltall schicken. Allerdings nicht wegen perfekt kontrollierter Emotionen, sondern wegen ihres Gegenteils. In diesem Film werde zu viel geschrien, das sei so laut, wirklich anstrengend, war bei der Berlinale immer wieder von Journalisten zu hören, als der Debütfilm dort dieses Jahr im Wettbewerb lief.
Ja, sicher: Man könnte sicher auch einen ruhigen, entspannenden, meditativen Film über ein Mädchen machen, das ein Problem hat mit lauten und immer wieder gewalttätigen Ausrastern. Das Mädchen, um das es geht, dürfte dann bloß nicht darin vorkommen. Es wäre ein anderer Film: einer, der einem weniger abverlangt möglicherweise, nach dem die Wimperntusche noch intakt ist und während und nachdem man sich nicht mit dieser anstrengenden Ambivalenz aus Mitgefühl und Angst herumschlagen müsste, mit dem Wunsch, zu helfen und dem Wunsch, sich in Sicherheit zu bringen. Wäre es dann auch der Film, der bei der Berlinale schließlich einen Silbernen Bären gewann und jetzt auch als deutscher Kandidat zu den Oscars eingereicht wurde? Genau.
Was also entschädigt einen als Zuschauer für die Anstrengung? Das sind nicht nur der Realismus, die Ehrlichkeit und Intensität, die man nicht nur im deutschen Kino selten zu sehen bekommt. Nicht nur die Hauptdarsteller, ach: sämtliche Darsteller. Albrecht Schuch, den man aus der Serie "Bad Banks" kennt, und der hier kaum zu erkennen ist, gehört ganz sicher nicht nur zu den wandelbarsten jungen Schauspielern, sondern auch zu denen mit der stärksten Sexiness, vergleichbar darin höchstens mit Franz Rogowski. Die Hauptdarstellerin Helena Zengel ist sowieso eine Offenbarung und spielt als nächstes schon bei Paul Greengrass neben Tom Hanks. Vor allem aber hat "Systemsprenger" eine sehr spezielle Direktheit, die oft behauptet oder herbeigewünscht wird, die aber selten so gelingt wie in diesem Film. Es ist eine Direktheit, die übrigens auch den Witz verstärkt und vertieft, der sich immer wieder aus ihr ergibt.
Das ist die Geschichte des Films: Das Mädchen Benni (Helena Zengel), neun Jahre alt, bekommt regelmäßig Wutanfälle. Sie sind (auch) der Grund dafür, dass sie in einer speziellen Jugendeinrichtung untergebracht ist, und auch dafür, dass sie von einem dieser Heime ins nächste kommt, ein "Systemsprenger" ist. Wo Brad Pitts Roy McBride auch in den beängstigendsten Situationen ruhig bleibt, bringt dieses Mädchen die Aufregung, die Angst, die Alarmsituation selbst in jede Situation mit. Das ergibt viel Sinn in Anbetracht ihrer Geschichte: Als Baby wäre sie einmal beinahe erstickt worden. Dieses Trauma zeigt der Film nun aber nicht in Rückblenden, zeigt überhaupt glücklicherweise wenig Erklärendes. Er konzentriert sich ganz auf die direkte Wahrnehmung: die von Benni und die von ihrer Umgebung, die helfen will und der es zu selten gelingt. Der Sozialarbeiter Micha (Albrecht Schuch) schafft es. Beinahe. Eigentlich ist er für deutlich ältere, gewaltbereite Jugendliche zuständig, und wie sie nimmt er auch Benni erst einmal mit in den Wald. Dort entstehen die schönsten und berührendsten Szenen des Films: Eine Echoszene zum Beispiel zerreißt alle verfügbaren Herzen.
Dieser Film sei aller Voraussicht nach nicht leicht zu vermarkten, sagt jemand, der es wissen muss. Ein Mädchen mit Wutausbrüchen, ein schwieriges Kind: Wer will das denn sehen. Leute ohne Kinder nicht, Leute mit Kindern erst recht nicht. Da kann man als selber leider nicht zum Jähzorn begabte Filmkritikerin bloß den Kopf schütteln. Sicher, der Film ist nicht perfekt: Ein paar Ausraster weniger täten es auch, die psychedelischen Sequenzen, die sie begleiten, brauchte es auch nicht unbedingt, weil der Film viel mehr im Realismus brilliert.
Vielleicht geht es aber gar nicht darum, ob man selbst Kinder hat oder nicht: Es reicht, dass man selbst mal ein Kind war. Jedes Kind wünscht sich einen Micha. Und jeder will doch echte Beziehungen sehen im Film. Das betrifft doch jeden? Und dann hat der Film auch noch Humor? Was kann man bloß mehr wollen von einem Film, von einem Debütfilm? Es ist oft ein gutes Zeichen, wenn die emotionale Verfasstheit der Filmfiguren auf die Zuschauer überspringen.
Heraus mit den Emotionen, mit den Pistolen, mit dem Geld, weg mit der Zurückhaltung, mit dem Gehorsam, mit den Männern: So in etwa sehen das die drei Hauptfiguren in "The Kitchen - Queens of Crime" von Andrea Berloff. Es ist das Jahr 1978 im New Yorker Stadtteil "Hell's Kitchen", und die Ehemänner von Kathy (Melissa McCarthy), Ruby (Tiffany Haddish) und Claire (Elisabeth Moss) wurden mit einem Mal überraschend verhaftet und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Weil die verbliebenen Mafiabosse sie nicht so großzügig finanziell unterstützen wie angekündigt, beschließen die drei Frauen, das Geschäft selbst zu übernehmen. Ja, dieser Film spielt nach sehr bekannten Mustern des Genres. Nein, dass hier nun Frauen an Stelle von Männern morden und Machtspiele perfektionieren, erfindet dieses Genre nicht neu. Sehr unterhaltsam, manchmal witzig, immer wieder auch ungeschickt erzählt dieser Film. Seine größte Stärke aber ist, natürlich, sein Cast: Melissa McCarthy, Tiffany Haddish und Elisabeth Moss gemeinsam als Gangsterinnen zu sehen, ist ein Vergnügen an sich. Vor allem Moss spielt Claires Entwicklung so berührend, als wäre sie direkt noch einmal aus "Mad Men" zurückgekehrt: um die Verwandlung von der stillen, ängstlichen Frau, die nach und nach Selbstbewusstsein entwickelt, entschieden wird und frei, noch einmal zu spielen, hier als misshandelte Frau in New York nur etwa zehn Jahre später. Der gefühlskontrollierte Brad Pitt hat zu den wütenden Frauen geführt. Das ist das Wichtigste, das das Kino diese Woche zeigt: Wut und Gewalt sind auch dann ein Problem, wenn sie nicht von Männern kommen. Aber doch etwas weniger. Und auch beherrschte Männer müssen etwas ändern. Genau das aber führt zu ziemlich guten Filmen: solchen nämlich, in denen wenig selbstverständlich ist, die sich sehr viel neu einfallen lassen müssen. Und wenn man gen Mond oder gleich gen Neptun blickt, nach oben jedenfalls, dann kann man die Konturen dieses Neuen erahnen: Ähnelt es nicht den Gesichtern von Helena Zengel und von Elisabeth Moss?
JULIA DETTKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main