Seit seinem elften Lebensjahr dokumentiert der heute 33-jährige Jonathan Caouette sein Leben. Mittels Musiktheater, Horrorfilmen und Popkultur schmiedet er sich als Junge eine Identität, um dem Familientrauma zu entfliehen. Mit Anfang 20 zieht der Texaner
Bonusmaterial
DVD-Ausstattung / Bonusmaterial: - Interview mit dem Regisseur - Trailer - TrailershowFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2004Ausgerechnet North Carolina!
Die Viennale legte wieder viele Fäden für Cinephile aus - und Lauren Bacall gab sich die Ehre und verwünschte Bush
WIEN, Anfang November.
Der amerikanische Bundesstaat North Carolina hat am Dienstag, nicht unerwartet, mehrheitlich für George W. Bush gestimmt. Nun ist die Wahl geschlagen, und der grüne Landstrich mit Zugang zum Meer bleibt wieder sich selbst überlassen - fern von Washington, fern von Hollywood. Der Dokumentarfilmemacher Ross McElwee stammt aus North Carolina. Mittlerweile lebt er in Boston, wo er das Leben eines typischen Akademikers führt. Alle paar Jahre veröffentlicht er einen tagebuchartigen Film, in dem er sich seiner Wurzeln versichert.
In "Time Indefinite" (1993) ging es um den Tod seines Vaters und eine Fehlgeburt seiner Frau und um den schwankenden Grund, auf dem nachreligiöse Menschen ihr Leben errichten. Zu Beginn von "Bright Leaves", seinem neuesten Film, träumt Ross McElwee von den Tabakfeldern in North Carolina. Sein Urgroßvater hatte einst eine Plantage besessen, verlor jedoch seinen Reichtum an einen lokalen Konkurrenten. In dem Hollywoodmelodram "Bright Leaf" von Michael Curtiz aus dem Jahr 1950 spielt Gary Cooper einen Tabakpflanzer, in dem nicht wenige McElwees ihren Vorfahren wiedererkennen.
Aus diesen losen Zusammenhängen hat Ross McElwee einen Film gebastelt, der nur durch seine Subjektivität zusammengehalten wird, gerade weil es häufig um objektive Widersprüche geht. Die Menschen von North Carolina sind stolz auf die Tabakindustrie, gleichzeitig sehen sie viele Freunde an den typischen Raucherkrankheiten sterben. "Bright Leaves" ist ein typischer Festivalfilm. Seine Wahrnehmung ist zu selbstreflexiv für einen kommerziellen Filmstart, seine Ironie ist zu leise für deutliche Botschaften. Aber er streckt seine Fühler aus, und bei einem cinephilen Festival wie der Viennale trifft er unweigerlich auf Arbeiten, die ein ähnliches Interesse haben.
Jonathan Caouette ist fünfundzwanzig Jahre jünger als Ross McElwee, er dreht auf Video, und seine autobiographische Popcollage "Tarnation" wurde auf einem Personal Computer geschnitten. Die einigermaßen stabile bürgerliche Melancholie von McElwee ist für Caouette, der aus schwierigen Verhältnissen kommt, ein Ziel, dem er sich auf dem Umweg über Camp nähert. In "Tarnation" schlüpft Caouette schon als kleiner Junge in Rollen, die in der populären Kultur zur Verfügung stehen. Er schafft ein Paralleluniversum zu der trostlosen Wirklichkeit seines Lebens bei den Großeltern, während seine Mutter in psychiatrischer Behandlung schweren Schocktherapien unterliegt.
"Tarnation" handelt davon, wie sich ein Subjekt aus den Trümmern einer Medienwelt neu zusammensetzt, die es auf der Festplatte gespeichert hat. Caouette lebt inzwischen in New York, wo er als Schauspieler arbeitet. Gus van Sant, der Regisseur von "Elephant", hat "Tarnation" mit seinem Prestige unterstützt. Die Zukunft wird weisen, ob es sich hier um ein one hit wonder handelt, wie sie so zahlreich auf Caouettes Soundtrack zu hören sind, oder ob es ihm gelingt, seinem Projekt eine Kontinuität zu geben, wie sie Ross McElwee über die Jahre immer reicher entfaltet.
Die Viennale ist ein Festival, das sich den Luxus einer Langzeitbeobachtung des Weltkinos gönnen kann, wenn es sich nicht wie im Vorjahr allzu tief in die lokale Kulturpolitik verstricken läßt. In diesem Jahr waren die Verbindungen zum (spät-)klassischen Hollywoodkino besonders stark ausgeprägt, weil die Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum das Gesamtwerk von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet mit Filmen von John Ford in Zusammenhang stellte und weil der traditionelle Tribut Lauren Bacall galt. Der Star aus "The Big Sleep" und "To Have and To Have Not", aber auch aus Lars von Triers "Dogville" war persönlich nach Wien gekommen. Unweigerlich wurde sie zu den bevorstehenden Wahlen in ihrem Heimatland befragt. Es war nur ein Wunsch, aber es klang wie eine alttestamentarische Verwünschung, als sie antwortete: "I want Bush to disappear from the face of the earth."
Es war ein Satz, wie ihn die meisten Besucher der Galavorstellung zu Ehren von Frau Bacall hören wollten. Aber es war auch eine Ablenkung davon, daß die Geopolitik der Viennale in diesem Jahr unverhohlen pessimistisch war: Viele Filme aus Israel/Palästina, aus der Volksrepublik China oder aus Argentinien handelten von festgefahrenen Situationen, von neurotischen Double Binds und von endlosen Instanzenwegen. Der in Australien lebende Ungar Peter Hegedus hat in "Inheritance: A Fisherman's Story" einen negativen Modellfall der Globalisierung rekonstruiert. Im Jahr 2000 wurde der Fluß Tisza durch einen Giftunfall in einer rumänischen Goldmine verseucht. Viele ungarische Fischer verloren ihre Existenzgrundlage, versäumten es aber, ihre privaten Entschädigungsansprüche geltend zu machen. Die Mine gehört einem australischen Unternehmen, das nach dem Desaster in Insolvenz ging und nun einen neuen Vorsitzenden hat. Der Fischer Balazs Meszaros setzt, mangels einer legalen Perspektive, alles daran, seine Forderungen zumindest symbolisch geltend zu machen, und fliegt nach Australien. Ein ausgestopfter Storch ist alles, was am Ende von "Inheritance" bleibt.
Peter Hegedus erzählt den Film selbst, aber er bleibt dabei so objektiv wie nur möglich. Mit Ross McElwee oder gar Jonathan Caouette hat er wenig gemeinsam, eher schon mit dem Franzosen Raymond Depardon und der Brasilianerin Maria Ramos, die in zwei auffällig korrespondierenden, dabei unabhängig voneinander entstandenen Dokumentationen aus der Position "unsichtbarer" Beobachter das Rechtswesen in ihren Heimatländern untersuchten. Depardon konzentriert sich in "10ème chambre, instants d'audience" ganz auf den Verhandlungssaal in einem kleinen Pariser Bezirksgericht, während Maria Ramos in "Justica" die Protagonisten auch in das Privatleben begleitet. Sie durchmißt dabei Rio de Janeiro nicht vollständig - dem kleinen, drogensüchtigen Jungen, der aus der Untersuchungshaft entlassen wird und mit aufgeschwollenen Füßen am Straßenrand steht, folgt sie nur bis zum Bus.
Aber "Justica" schafft es doch, dem Recht einen bürgerlichen, privaten Aspekt abzugewinnen, der nicht nur für die Angestellten der Bürokratrie gilt, sondern auch für die Angehörigen der mutmaßlichen Delinquenten. Und Maria Ramos zeigt Bilder aus einem brasilianischen Gefängnis, die schockierend unverhältnismäßig sind zu dem Gleichmut, mit dem die Richter ihre Arbeit tun. In "Justica" ist das Gegenteil der gesellschaftlichen Ordnung nicht Anarchie, sondern eine apathische Selbstzerstörung, die allen Größenphantasien der Drogenhändler hohnspricht.
Es war ein Spielfilm des taiwanischen Schauspielers Lee Kang-sheng, bekannt durch seine Arbeit für Tsai Ming-liang, der die subjektiven und die objektiven Erkenntnismöglichkeiten des Kinos in sich aufhob: In "Bu jian" sucht eine ältere Frau einen dreijährigen Jungen, der ihr in einem Park abhanden gekommen ist. Lee Kang-sheng filmt das verzweifelte Ausschauhalten der Frau fast nur in Totalen. Am Ende eines langen Tages ist es nur noch eine Mauer, die das Kind von der Großmutter trennt - aber die Kamera bleibt ungerührt auf Distanz, und die Andeutung eines glücklichen Endes bleibt zugleich vollständig trostlos.
Ross McElwee, der besorgte Vater, würde "Bu jian" vermutlich als einen Horrorfilm sehen, dessen Geister er nur mit seiner eigenen Kamera bannen kann. Am Ende eines langen Festivals erwies sich "Bright Leaves", der ganz zu Beginn lief, als heimlicher Ariadnefaden und ausgerechnet North Carolina als der Weltteil, der besonders nachhaltig in Erinnerung bleiben wird.
BERT REBHANDL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Viennale legte wieder viele Fäden für Cinephile aus - und Lauren Bacall gab sich die Ehre und verwünschte Bush
WIEN, Anfang November.
Der amerikanische Bundesstaat North Carolina hat am Dienstag, nicht unerwartet, mehrheitlich für George W. Bush gestimmt. Nun ist die Wahl geschlagen, und der grüne Landstrich mit Zugang zum Meer bleibt wieder sich selbst überlassen - fern von Washington, fern von Hollywood. Der Dokumentarfilmemacher Ross McElwee stammt aus North Carolina. Mittlerweile lebt er in Boston, wo er das Leben eines typischen Akademikers führt. Alle paar Jahre veröffentlicht er einen tagebuchartigen Film, in dem er sich seiner Wurzeln versichert.
In "Time Indefinite" (1993) ging es um den Tod seines Vaters und eine Fehlgeburt seiner Frau und um den schwankenden Grund, auf dem nachreligiöse Menschen ihr Leben errichten. Zu Beginn von "Bright Leaves", seinem neuesten Film, träumt Ross McElwee von den Tabakfeldern in North Carolina. Sein Urgroßvater hatte einst eine Plantage besessen, verlor jedoch seinen Reichtum an einen lokalen Konkurrenten. In dem Hollywoodmelodram "Bright Leaf" von Michael Curtiz aus dem Jahr 1950 spielt Gary Cooper einen Tabakpflanzer, in dem nicht wenige McElwees ihren Vorfahren wiedererkennen.
Aus diesen losen Zusammenhängen hat Ross McElwee einen Film gebastelt, der nur durch seine Subjektivität zusammengehalten wird, gerade weil es häufig um objektive Widersprüche geht. Die Menschen von North Carolina sind stolz auf die Tabakindustrie, gleichzeitig sehen sie viele Freunde an den typischen Raucherkrankheiten sterben. "Bright Leaves" ist ein typischer Festivalfilm. Seine Wahrnehmung ist zu selbstreflexiv für einen kommerziellen Filmstart, seine Ironie ist zu leise für deutliche Botschaften. Aber er streckt seine Fühler aus, und bei einem cinephilen Festival wie der Viennale trifft er unweigerlich auf Arbeiten, die ein ähnliches Interesse haben.
Jonathan Caouette ist fünfundzwanzig Jahre jünger als Ross McElwee, er dreht auf Video, und seine autobiographische Popcollage "Tarnation" wurde auf einem Personal Computer geschnitten. Die einigermaßen stabile bürgerliche Melancholie von McElwee ist für Caouette, der aus schwierigen Verhältnissen kommt, ein Ziel, dem er sich auf dem Umweg über Camp nähert. In "Tarnation" schlüpft Caouette schon als kleiner Junge in Rollen, die in der populären Kultur zur Verfügung stehen. Er schafft ein Paralleluniversum zu der trostlosen Wirklichkeit seines Lebens bei den Großeltern, während seine Mutter in psychiatrischer Behandlung schweren Schocktherapien unterliegt.
"Tarnation" handelt davon, wie sich ein Subjekt aus den Trümmern einer Medienwelt neu zusammensetzt, die es auf der Festplatte gespeichert hat. Caouette lebt inzwischen in New York, wo er als Schauspieler arbeitet. Gus van Sant, der Regisseur von "Elephant", hat "Tarnation" mit seinem Prestige unterstützt. Die Zukunft wird weisen, ob es sich hier um ein one hit wonder handelt, wie sie so zahlreich auf Caouettes Soundtrack zu hören sind, oder ob es ihm gelingt, seinem Projekt eine Kontinuität zu geben, wie sie Ross McElwee über die Jahre immer reicher entfaltet.
Die Viennale ist ein Festival, das sich den Luxus einer Langzeitbeobachtung des Weltkinos gönnen kann, wenn es sich nicht wie im Vorjahr allzu tief in die lokale Kulturpolitik verstricken läßt. In diesem Jahr waren die Verbindungen zum (spät-)klassischen Hollywoodkino besonders stark ausgeprägt, weil die Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum das Gesamtwerk von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet mit Filmen von John Ford in Zusammenhang stellte und weil der traditionelle Tribut Lauren Bacall galt. Der Star aus "The Big Sleep" und "To Have and To Have Not", aber auch aus Lars von Triers "Dogville" war persönlich nach Wien gekommen. Unweigerlich wurde sie zu den bevorstehenden Wahlen in ihrem Heimatland befragt. Es war nur ein Wunsch, aber es klang wie eine alttestamentarische Verwünschung, als sie antwortete: "I want Bush to disappear from the face of the earth."
Es war ein Satz, wie ihn die meisten Besucher der Galavorstellung zu Ehren von Frau Bacall hören wollten. Aber es war auch eine Ablenkung davon, daß die Geopolitik der Viennale in diesem Jahr unverhohlen pessimistisch war: Viele Filme aus Israel/Palästina, aus der Volksrepublik China oder aus Argentinien handelten von festgefahrenen Situationen, von neurotischen Double Binds und von endlosen Instanzenwegen. Der in Australien lebende Ungar Peter Hegedus hat in "Inheritance: A Fisherman's Story" einen negativen Modellfall der Globalisierung rekonstruiert. Im Jahr 2000 wurde der Fluß Tisza durch einen Giftunfall in einer rumänischen Goldmine verseucht. Viele ungarische Fischer verloren ihre Existenzgrundlage, versäumten es aber, ihre privaten Entschädigungsansprüche geltend zu machen. Die Mine gehört einem australischen Unternehmen, das nach dem Desaster in Insolvenz ging und nun einen neuen Vorsitzenden hat. Der Fischer Balazs Meszaros setzt, mangels einer legalen Perspektive, alles daran, seine Forderungen zumindest symbolisch geltend zu machen, und fliegt nach Australien. Ein ausgestopfter Storch ist alles, was am Ende von "Inheritance" bleibt.
Peter Hegedus erzählt den Film selbst, aber er bleibt dabei so objektiv wie nur möglich. Mit Ross McElwee oder gar Jonathan Caouette hat er wenig gemeinsam, eher schon mit dem Franzosen Raymond Depardon und der Brasilianerin Maria Ramos, die in zwei auffällig korrespondierenden, dabei unabhängig voneinander entstandenen Dokumentationen aus der Position "unsichtbarer" Beobachter das Rechtswesen in ihren Heimatländern untersuchten. Depardon konzentriert sich in "10ème chambre, instants d'audience" ganz auf den Verhandlungssaal in einem kleinen Pariser Bezirksgericht, während Maria Ramos in "Justica" die Protagonisten auch in das Privatleben begleitet. Sie durchmißt dabei Rio de Janeiro nicht vollständig - dem kleinen, drogensüchtigen Jungen, der aus der Untersuchungshaft entlassen wird und mit aufgeschwollenen Füßen am Straßenrand steht, folgt sie nur bis zum Bus.
Aber "Justica" schafft es doch, dem Recht einen bürgerlichen, privaten Aspekt abzugewinnen, der nicht nur für die Angestellten der Bürokratrie gilt, sondern auch für die Angehörigen der mutmaßlichen Delinquenten. Und Maria Ramos zeigt Bilder aus einem brasilianischen Gefängnis, die schockierend unverhältnismäßig sind zu dem Gleichmut, mit dem die Richter ihre Arbeit tun. In "Justica" ist das Gegenteil der gesellschaftlichen Ordnung nicht Anarchie, sondern eine apathische Selbstzerstörung, die allen Größenphantasien der Drogenhändler hohnspricht.
Es war ein Spielfilm des taiwanischen Schauspielers Lee Kang-sheng, bekannt durch seine Arbeit für Tsai Ming-liang, der die subjektiven und die objektiven Erkenntnismöglichkeiten des Kinos in sich aufhob: In "Bu jian" sucht eine ältere Frau einen dreijährigen Jungen, der ihr in einem Park abhanden gekommen ist. Lee Kang-sheng filmt das verzweifelte Ausschauhalten der Frau fast nur in Totalen. Am Ende eines langen Tages ist es nur noch eine Mauer, die das Kind von der Großmutter trennt - aber die Kamera bleibt ungerührt auf Distanz, und die Andeutung eines glücklichen Endes bleibt zugleich vollständig trostlos.
Ross McElwee, der besorgte Vater, würde "Bu jian" vermutlich als einen Horrorfilm sehen, dessen Geister er nur mit seiner eigenen Kamera bannen kann. Am Ende eines langen Festivals erwies sich "Bright Leaves", der ganz zu Beginn lief, als heimlicher Ariadnefaden und ausgerechnet North Carolina als der Weltteil, der besonders nachhaltig in Erinnerung bleiben wird.
BERT REBHANDL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main