Als die in New York aufgewachsene Billi von ihren Eltern erfährt, dass ihre geliebte Großmutter Nai Nai in China nur noch kurze Zeit zu leben hat, steht ihr Leben Kopf. Die Familie beschließt, Nai Nai im Ungewissen zu lassen und ihr die tödliche Krankheit zu verschweigen. Spontan wird eine Hochzeit für Billis Cousin Hao Hao organisiert, die allein dem Zweck dient, die im Ausland verstreut lebende Familie ein letztes Mal zusammenkommen zu lassen. Während Billi versucht, die Familienlüge aufrecht zu erhalten und dabei durch das ständige Minenfeld familiärer Erwartungen steuert, stößt sie auf Dinge, die ihr eigenes Leben verändern. Dabei bietet sich die Chance, sowohl das Land ihrer Kindheit als auch den wundersamen Geist ihrer Großmutter wieder zu entdecken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2019Nach einer tatsächlichen Lüge
Die melancholische chinesisch-amerikanische Filmkomödie "The Farewell" stellt Fragen nach Identität und Wahrheit
Von den vielen Formen der Lüge hat die schonende noch den besten Ruf. Aber auch sie ist umstritten. Darf eine junge Frau, die in New York lebt und mit ihrer Großmutter in China telefoniert, so tun, als wäre in ihrem Leben alles in bester Ordnung? Das Stipendium als angehende Schriftstellerin, das Billi nicht bekommen hat, wird ihr zumindest in dem Rechenschaftsbericht für ihre Nai Nai ("Großmutter väterlicherseits") verliehen. Und auch insgesamt macht Billi ein bisschen Propaganda. Es soll besser niemand wissen, dass ihr Leben in Amerika nicht gerade von Euphorie geprägt ist. Sie weiß nicht, aber sie ahnt vielleicht, dass auch Nai Nai ihre Situation beschönigt. Sie sitzt zwar vor einer Palmenlandschaft, als sie mit New York telefoniert, aber das ist nur die Innenausstattung in einem Krankenhaus, in dem sie gerade zur Untersuchung ist. Dass sie Billi davon nichts erzählt, sondern so tut, als wäre alles ganz normal, ist auch ein Versuch, eine Fassade zu wahren zwischen zwei Kontinenten und drei Generationen einer chinesischen Großfamilie.
Eine Formulierung, die Lulu Wang ihrem Film "The Farewell" vorausschickt, ist demnach geradezu Programm: "based on an acutal lie". Ein Film, der auf einer tatsächlichen Lüge beruht - pointierter ließe sich kaum sagen, worum es in der Folge gehen wird. Billi erfährt schließlich von ihren Eltern, die wie sie auch in New York leben, dass die Großmutter eine Krebsdiagnose bekommen hat. Die Familie hat aber beschlossen, ihr davon nichts zu sagen, in der Hoffnung, die Unwissenheit könnte sich noch ein Weilchen positiv auf den Lebensmut auswirken. Der amerikanische Zweig der Familie hält von diesem Informationsmanagement nicht viel, muss sich aber fügen. Und Billi, die man für eigensinnig hält, sollte am besten gar nicht nach China kommen, denn man fürchtet, sie würde mit der Tür ins Haus fallen.
Die unterschiedlichen Weisen, mit Nai Nais Krankheit umzugehen, sind auch kulturell geprägt. Für den chinesischen Zweig der Familie gebietet es sich geradezu, so vorzugehen, wie es bald aufwendig geplant wird: Eine große Zusammenkunft wird organisiert, für die braucht es aber einen vorgeschützten Anlass, da bietet sich auch etwas an, denn ein junger Mann aus der dritten Generation hat in Japan eine Verlobte, die er nun schnurstracks heiraten soll. Da müssen ohnehin alle zusammenkommen, und dass Großmutter der eigentliche Anlass ist, wissen alle außer ihr. Die Ausgewanderten haben sich von den Gebräuchen in der Heimat zumindest so weit entfernt, dass sie einen anderen Umgang mit der Krankheit befürworten. Sie stehen beim Besuch aber auch unter Druck, denn das Familientreffen läuft auf eine Demonstration hinaus - alle müssen ihre chinesische Identität zeigen.
Für Lulu Wang ist die Figur von Billi offensichtlich eine Stellvertreterin. Die Regisseurin geht von eigenen Erfahrungen aus, und in der Rapperin und Schauspielerin Awkwafina hat sie eine perfekte Besetzung für die Hauptrolle gefunden: Durch Auftritte in "Ocean's Eight" und "Crazy Rich Asians" wurde Awkwafina weltweit bekannt, und sie kann nun, mit ihrem eigenen koreanisch-chinesischen Migrationshintergrund in Amerika, ein globales "role model" für eine der bedeutendsten Diasporakonstellationen werden. Die Eigenschaft der "awkwardness", die in Awkwafinas Künstlernamen anklingt, ist in der Rolle der Billi ganz entscheidend: Sie ist nicht ganz mit sich im Reinen, strahlt ein Unbehagen aus. Und wie sollte es anders sein, mit den vielen familiären Aufträgen, die sie mit sich herumträgt? Es sind Aufträge, in denen sich zugleich Identitätskonstruktionen zeigen, die wiederum durch Filme wie "Crazy Rich Asians" oder nun eben "The Farewell" auch global verhandelt werden.
"The Farewell" wurde in Sundance entdeckt, auf dem Festival des "unabhängigen" amerikanischen Films. Dass er dort so gut ankam, hat auch damit zu tun, dass es sich um eine perfekt ausbalancierte Multikultikomödie handelt, die allerdings nicht wirklich lustig, sondern melancholisch geprägt ist. Lulu Wang hält eine interessante Balance: Billi und Nai Nai sind Pole in einer Figurenkonstellation, die um ein leeres Zentrum kreist. Die runden Tische, an denen beim Bankett alle sitzen, werden als Druckmittel erkennbar, wie auch die Reihumrituale. Da fällt es auch Billi einmal zu, in ihrer zweiten Muttersprache, de facto ihrer Großmuttersprache, etwas zur Familie zu sagen - in eben nicht perfektem Mandarin.
Ort der Handlung von "The Farewell" ist Changchun, eine Großstadt im Nordosten Chinas. ein bewusst unspezifischer Ort, an dem sich alle die Dienstleistungen finden lassen, mit denen eine heutige Wohlstandsgesellschaft rechnet, bei denen dann aber umso wichtiger ist, dass die traditionellen Aspekte betont werden. Das festlandchinesische Kino hat selbst seit langem damit begonnen, von der rapiden Modernisierung als Migrationserfahrung eigener Art zu erzählen. Damit bekommt die "actual lie" von Lulu Wang eine kluge Pointe: Billi und Nai Nai sind einander nicht nur nahe, weil es eine Herzensverbindung gibt. Bei beiden ist die Gewissheit des Familiären an sich eine trügerische: Die Familie (als Institution, in der sich eine Gesellschaft im Wandel einen stabilen Kern zu geben versucht) ist selbst die "tatsächliche Lüge", um die man nicht herumkommt, wenn man sich nicht der anderen Wahrheit aussetzen möchte, auf die Billi als Schriftstellerin abzielt: der Wahrheit einer unsicheren Individualität, die sich auch an einer Geschichte wie "The Farewell" ausbildet und die darin Trost und heilsame Irritation finden kann. Selbst wenn man von New York wie von Changchun persönlich weit entfernt ist, kann einen dieser kluge Film betreffen.
BERT REBHANDL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die melancholische chinesisch-amerikanische Filmkomödie "The Farewell" stellt Fragen nach Identität und Wahrheit
Von den vielen Formen der Lüge hat die schonende noch den besten Ruf. Aber auch sie ist umstritten. Darf eine junge Frau, die in New York lebt und mit ihrer Großmutter in China telefoniert, so tun, als wäre in ihrem Leben alles in bester Ordnung? Das Stipendium als angehende Schriftstellerin, das Billi nicht bekommen hat, wird ihr zumindest in dem Rechenschaftsbericht für ihre Nai Nai ("Großmutter väterlicherseits") verliehen. Und auch insgesamt macht Billi ein bisschen Propaganda. Es soll besser niemand wissen, dass ihr Leben in Amerika nicht gerade von Euphorie geprägt ist. Sie weiß nicht, aber sie ahnt vielleicht, dass auch Nai Nai ihre Situation beschönigt. Sie sitzt zwar vor einer Palmenlandschaft, als sie mit New York telefoniert, aber das ist nur die Innenausstattung in einem Krankenhaus, in dem sie gerade zur Untersuchung ist. Dass sie Billi davon nichts erzählt, sondern so tut, als wäre alles ganz normal, ist auch ein Versuch, eine Fassade zu wahren zwischen zwei Kontinenten und drei Generationen einer chinesischen Großfamilie.
Eine Formulierung, die Lulu Wang ihrem Film "The Farewell" vorausschickt, ist demnach geradezu Programm: "based on an acutal lie". Ein Film, der auf einer tatsächlichen Lüge beruht - pointierter ließe sich kaum sagen, worum es in der Folge gehen wird. Billi erfährt schließlich von ihren Eltern, die wie sie auch in New York leben, dass die Großmutter eine Krebsdiagnose bekommen hat. Die Familie hat aber beschlossen, ihr davon nichts zu sagen, in der Hoffnung, die Unwissenheit könnte sich noch ein Weilchen positiv auf den Lebensmut auswirken. Der amerikanische Zweig der Familie hält von diesem Informationsmanagement nicht viel, muss sich aber fügen. Und Billi, die man für eigensinnig hält, sollte am besten gar nicht nach China kommen, denn man fürchtet, sie würde mit der Tür ins Haus fallen.
Die unterschiedlichen Weisen, mit Nai Nais Krankheit umzugehen, sind auch kulturell geprägt. Für den chinesischen Zweig der Familie gebietet es sich geradezu, so vorzugehen, wie es bald aufwendig geplant wird: Eine große Zusammenkunft wird organisiert, für die braucht es aber einen vorgeschützten Anlass, da bietet sich auch etwas an, denn ein junger Mann aus der dritten Generation hat in Japan eine Verlobte, die er nun schnurstracks heiraten soll. Da müssen ohnehin alle zusammenkommen, und dass Großmutter der eigentliche Anlass ist, wissen alle außer ihr. Die Ausgewanderten haben sich von den Gebräuchen in der Heimat zumindest so weit entfernt, dass sie einen anderen Umgang mit der Krankheit befürworten. Sie stehen beim Besuch aber auch unter Druck, denn das Familientreffen läuft auf eine Demonstration hinaus - alle müssen ihre chinesische Identität zeigen.
Für Lulu Wang ist die Figur von Billi offensichtlich eine Stellvertreterin. Die Regisseurin geht von eigenen Erfahrungen aus, und in der Rapperin und Schauspielerin Awkwafina hat sie eine perfekte Besetzung für die Hauptrolle gefunden: Durch Auftritte in "Ocean's Eight" und "Crazy Rich Asians" wurde Awkwafina weltweit bekannt, und sie kann nun, mit ihrem eigenen koreanisch-chinesischen Migrationshintergrund in Amerika, ein globales "role model" für eine der bedeutendsten Diasporakonstellationen werden. Die Eigenschaft der "awkwardness", die in Awkwafinas Künstlernamen anklingt, ist in der Rolle der Billi ganz entscheidend: Sie ist nicht ganz mit sich im Reinen, strahlt ein Unbehagen aus. Und wie sollte es anders sein, mit den vielen familiären Aufträgen, die sie mit sich herumträgt? Es sind Aufträge, in denen sich zugleich Identitätskonstruktionen zeigen, die wiederum durch Filme wie "Crazy Rich Asians" oder nun eben "The Farewell" auch global verhandelt werden.
"The Farewell" wurde in Sundance entdeckt, auf dem Festival des "unabhängigen" amerikanischen Films. Dass er dort so gut ankam, hat auch damit zu tun, dass es sich um eine perfekt ausbalancierte Multikultikomödie handelt, die allerdings nicht wirklich lustig, sondern melancholisch geprägt ist. Lulu Wang hält eine interessante Balance: Billi und Nai Nai sind Pole in einer Figurenkonstellation, die um ein leeres Zentrum kreist. Die runden Tische, an denen beim Bankett alle sitzen, werden als Druckmittel erkennbar, wie auch die Reihumrituale. Da fällt es auch Billi einmal zu, in ihrer zweiten Muttersprache, de facto ihrer Großmuttersprache, etwas zur Familie zu sagen - in eben nicht perfektem Mandarin.
Ort der Handlung von "The Farewell" ist Changchun, eine Großstadt im Nordosten Chinas. ein bewusst unspezifischer Ort, an dem sich alle die Dienstleistungen finden lassen, mit denen eine heutige Wohlstandsgesellschaft rechnet, bei denen dann aber umso wichtiger ist, dass die traditionellen Aspekte betont werden. Das festlandchinesische Kino hat selbst seit langem damit begonnen, von der rapiden Modernisierung als Migrationserfahrung eigener Art zu erzählen. Damit bekommt die "actual lie" von Lulu Wang eine kluge Pointe: Billi und Nai Nai sind einander nicht nur nahe, weil es eine Herzensverbindung gibt. Bei beiden ist die Gewissheit des Familiären an sich eine trügerische: Die Familie (als Institution, in der sich eine Gesellschaft im Wandel einen stabilen Kern zu geben versucht) ist selbst die "tatsächliche Lüge", um die man nicht herumkommt, wenn man sich nicht der anderen Wahrheit aussetzen möchte, auf die Billi als Schriftstellerin abzielt: der Wahrheit einer unsicheren Individualität, die sich auch an einer Geschichte wie "The Farewell" ausbildet und die darin Trost und heilsame Irritation finden kann. Selbst wenn man von New York wie von Changchun persönlich weit entfernt ist, kann einen dieser kluge Film betreffen.
BERT REBHANDL
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